Vorrede.

Vor einigen Tagen wurde ich gebeten, ein kurzes Vorwort zu der deutschen Biographie von dem Heimgegangenen Dr. Baedeker zu schreiben. Es gibt gewiß Brüder, die mehr Beruf gehabt hätten für diesen Liebesdienst als ich. Ich konnte aber doch die Arbeit des lieben Bruders 30 Jahre lang verfolgen und habe auch in diesem Jahr wieder liebliche Spuren seines Wirkens in Rußland gefunden, so daß ich es richtig fand, dem Wunsche zu entsprechen.

Was mir bei ihm besonders entgegentrat, das war sein weites Herz, seine Liebe zu allen Kindern Gottes und seine tägliche Bereitschaft, überall von dem Herrn zu zeugen. Er sagte mir einmal in Kassel: „Wir müssen täglich neues Manna haben.“ Das war bei ihm der Fall durch seine innige Gemeinschaft mit dem Herrn und sein beständiges Leben im Worte Gottes. Seine herzliche Liebe, seine kindliche Einfalt und sein tiefes Glaubensleben bahnten ihm überall den Weg, ob er unter Kindern von dem Heiland zeugte, wofür er besondere Gabe hatte, oder ob er in einem russischen Gefängnis stand.

Wir wollen dem Herrn danken, daß Er diesen Seinen Knecht Seinem Reichsdienst so viele Jahre erhalten, und uns in ihm ein Vorbild geschenkt hat von nie ermüdender, sünderrettender Liebe, verbunden mit der Dahingabe seiner ganzen Persönlichkeit.

Barmen, im Juli 1907.
E. Schrenk.

Vorwort von Lord Radstock.

Mit vielen Tausenden danke ich dem Herrn für Seine Gnade, daß Er uns Dr. Baedeker gegeben hat. Von dem Tage an, da er 1866 zum Herrn kam, bis zu dem Tage seines Heimgangs war er ein treuer Zeuge Christi. Sobald die frohe Botschaft zu ihm kam, begann er sie anderen kund zu machen. Und als er trotz seiner zarten Gesundheit das Werk vollbracht, zu dem er eigentlich berufen war, da ging er trotz seiner gebrochenen Gesundheit auf die Dörfer der Nachbarschaft, um die „gute Zeitung“ weiter zu verbreiten. So schwach, daß er bisweilen ohnmächtig ward auf dem Wege, raffte er sich doch immer wieder auf. „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“

Sein erstes Christfest verbrachte er in Bethnal Green in London, indem er dem Herrn unter den Allerärmsten diente.

Er ist „oft gereiset“, und seine Mühsale, zumal bei der Durchquerung Sibiriens, wo er mit seiner Herzschwäche und seiner Empfindlichkeit in Brust und Rücken so oft auf federlosem Karren im schnellsten Tempo fuhr, sind ein Beweis des Glaubens, „der durch die Liebe tätig ist“. Und er traute dabei seinem Herrn nicht vergebens: Wenn er auf lange und beschwerliche Reisen ging, die dem natürlichen Verstand über seine Kraft zu sein schienen, so ward „der Bogen immer stärker in seiner Hand“. Auf ihn paßte wirklich das Wort: „Ich jage nach dem vorgesteckten Ziel.“

Einst ein Ungläubiger, war er nun ein herrliches Beispiel eines kindlichen, ungezweifelten Glaubenslebens.

Viele hundert gequälte Stundisten und andere Zehntausende in Rußland, Deutschland, der Schweiz und wieviel Ländern noch werden ihn selig preisen, weil er Dem traute und Den verherrlichte, dem allein Ehre und Preis gebührt!

Park Square, London N.W.
Radstock.

Vorwort von J. H. der Fürstin Natalie Lieven, St. Petersburg.

Der verstorbene Dr. F. W. Baedeker war ein häufiger und hochwillkommener Gast in unserem Heim, viele seiner Versammlungen sind, ebenso wie die Georg Müllers, in meinem Hause gehalten worden. Ich sehe es als ein großes, vom himmlischen Vater mir gewährtes Vorrecht an, daß ich so hervorragenden Christen Gastfreundschaft habe erzeigen dürfen.

Wir danken unserem Herrn von Grund des Herzens, daß Er Seinen treuen Diener Dr. Baedeker nach Rußland gesandt hat. Er hat hier viel Liebe besessen. Die einfachen Brüder nannten ihn „Dedutschka“ (Großväterchen). Sein Herz wallte stets über von Liebe zu seinem Herrn und Meister. Oft hörten wir ihn mit bewegtem Herzen den Vers singen:

Was wäscht mich von Sünden rein?
Nichts als Jesu Blut allein!
Nichts als Jesu Blut allein!

Daß dies Lebensbild allen Lesern zum großen Segen werden möge zur Ehre unseres Herrn, das ist der innige Wunsch Ihrer im kommenden Herrn verbundenen.

St. Petersburg.
N. Lieven.

Von Gott gesandt.

Gott hat auch dem ausgehenden 19. Jahrhundert seine wahren Heiligen gegeben: Männer, deren Zeugnisse, deren Charakter und Taten für das innere Leben der Christenheit eine bleibende Förderung und Bereicherung bedeuten. Auf die Ehrentafel dieser auserwählten Söhne und Propheten Gottes gehört auch der Name Friedrich Wilhelm Baedeker. Er selbst hat sich freilich wenig darum gesorgt, unter uns bekannt zu werden. Er kam im Jahre 1859 nach England und hat seitdem hier seine Heimat gehabt. Aber er ist den meisten Bürgern seines Adoptiv-Vaterlandes selbst dem Namen nach unbekannt geblieben. Seit seiner Bekehrung im Jahre 1866 hat er ein rastloses Wanderleben in fernen Landen geführt. Gelegentlich nur und für kurze Zeit kehrte er in seinem Heim auf unserer Insel ein, wie Elias sich zurückzog in die schweigende Einsamkeit des Horeb.

Dr. Baedekers Wesen und Leben hat überhaupt manche Ähnlichkeit mit dem des Elias. Beide zeigen die einfache Würde der Männer, die für einen wichtigen und schweren Dienst von Gott ausgerüstet sind. Keiner von beiden hat Schriften hinterlassen, aus denen künftige Geschlechter sich ein Bild der Verfasser machen könnten. Beide waren Enthusiasten im guten Sinne von unbeugsamer Willenskraft und brennendem Ehrgeiz für Gott. Sie überließen den kleineren Seelen die engen Kreise und schwächlichen Taten, sie „dachten in großen Zusammenhängen“ und wagten etwas für die Menschheit und für die Sache Gottes.

Allerdings sind sie auch wieder grundverschieden. Wir sind gewohnt, uns Elias als einen düsteren Propheten mit strengem Ausdruck vorzustellen, der im gegebenen Falle der Gewalt nicht abhold war. Dr. Baedeker dagegen gehörte zu den sanftesten und liebenswertesten Menschen. Er verkündigte in seinem ganzen Wesen die dringende und gnadenvolle Einladung seines Meisters und Herrn.

Mr. H. C. Morgan hat den ganzen Mann treffend gezeichnet mit dem kurzen Satze: „Viele, viele einsame Männer und Frauen hörten auf sich freundlos zu fühlen von dem Augenblick an, da Dr. Baedeker ihren Lebensweg kreuzte. Der hervorstechendste Zug seines Charakters war so wesentlich Liebe, daß wir ihn niemals ansehen konnten, ohne daß uns der Gedanke durch den Sinn flog: „So muß der Apostel Johannes in seinem Alter ausgesehen haben.“

Alle, die ihn genauer kennen lernen durften, werden bezeugen, wie sehr diese kurze Beschreibung das Rechte trifft. Ein einziger Zug kennzeichnet den ganzen Mann: seine Verschwendung in Reisedecken. Gewöhnlich verließ er England als stolzer Besitzer einer dicken, warmen, neuen Reisedecke; denn seine Gattin sorgte unermüdlich dafür. Aber wie selten war das anvertraute Gut bei der Rückkehr noch in seinem Besitz!

„Wo ist deine Reisedecke? Was hast du damit gemacht?“, lautete dann wohl die Frage seines treuen Weibes.

„Da muß ich mich einmal besinnen! Ach ja, da war so ein armes zitterndes Geschöpf auf dem Deck eines Dampfers im Schwarzen Meer. Dem habe ich sie um die Schultern gelegt.“

Der Doktor war ein Zeitgenosse und Freund von Georg Müller in Bristol. Die beiden hatten vieles gemeinsam. Beide waren geborene Deutsche. In der neuen Heimat wohnten sie einander sehr nahe. Ihre Anschauungen von der göttlichen Wahrheit berührten sich. Beide blickten zum himmlischen Vater auf wie einfältige, glaubensvolle Kinder. Ganz demütig und treulich fragten sie: Herr, was willst Du, daß ich tun soll? und nachdem jeder seine Antwort empfangen, widmeten sich beide ihrer besonderen Pflicht im Dienste des Herrn mit aller Kraft Leibes und der Seele. Beiden war ein wirklich ausgereiftes und schönes Greisenalter vergönnt. Sie haben die Grenze der biblischen Siebzig weit überschritten. Und beide durften bis ans letzte Ende ihres Lebens dienen in dem Wirkungskreis, dem ihr Herz gehörte.

Georg Müller brachte nach England den Trieb praktischen Christentums mit, den er in Deutschland im Hallischen Waisenhaus empfangen hatte, das einst August Hermann Francke gegründet, der Apostel werktätiger Liebe. Dr. Baedeker brachte dafür die Botschaft zurück von einem Leben einfältig in den Linien des Evangeliums, wie er sie in England zu den Füßen von Earl Cavan und Lord Radstock vernommen. So haben Bristol und Britannien viel empfangen durch den herrlichen Anschauungsunterricht in christlicher Barmherzigkeit, der ihnen vom Festlande zuteil wurde, und Europa — Rußland zumal — ward reich gesegnet durch die Gottesbotschaft von Glauben, Hoffnung, Liebe und ewigem Leben, die aus England kam.

Die persönliche Erscheinung Dr. Baedekers erinnerte an die großen Propheten Israels. Eine stattliche, ein wenig hagere Gestalt mit einem langen, ehrwürdigen Bart. Unvergeßlich war seinen Zuhörern das Feuer Gottes in seinen Augen. Wer so blickt, hat eine Erleuchtung von oben empfangen, und eine Sendung, die kein Zögern duldet.

Dr. Baedeker lebte im Sonnenschein Gottes. Sein lächelndes Antlitz, sein herzlicher Gruß stellte auch die anderen mit in diesen Sonnenschein. Fragte man ihn beim Gutenmorgen nach seinem Befinden, so hieß es mit einem fröhlichen Lachen: „Gott ist gut!“

Der christliche Glaube kann nur an seinen Früchten recht erkannt werden. Es gibt aber keinen besseren Beweis, als das Leben der Heiligen des Neuen Testaments. Darum verdient die Lebensgeschichte dieses Mannes Gottes die weiteste Verbreitung. Hier offenbart sich eine hochgemute, völlige Hingabe. Nächst dem Worte Gottes wüßte ich keinen wirksameren Quell heiliger Begeisterung für die Jungmännerwelt unserer Tage als einen solchen Charakter, einen solchen Lebenslauf.

Es gilt freilich, bei ihm den rechten Maßstab anzulegen. Er wollte nicht durch blendende Beredsamkeit wirken, er verschmähte sie vielmehr. Noch weniger gab er sich her zum Gegenstande einer geräuschvollen und nicht immer urteilsfähigen Verehrung. Aber sehen wir daraus, wie ausgedehnt seine Arbeit war, wie verschiedenartig die Arbeitsfelder, wie kraftvoll und zielbewußt sein Wirken, und wie tiefgehend der Erfolg, — dann ist Dr. Baedeker ohne Frage einer der größten Verkündiger des Evangeliums unserer, ja aller Zeit.

Sein Auftrag und sein „Sprengel“.

Von den Ufern des Rheins, in dessen Höhe seine Wiege stand, bis zu den letzten, verlorenen Strafkolonien auf Sachalin im äußersten Osten von Asien — von den fürstlichen Palais des gläubigen Adels in Stockholm bis zu den primitiven Ansiedelungen verbannter Stundisten am Fuß des Ararat im Kaukasus ist Dr. Baedeker als Apostel zweier Erdteile gepilgert, hin und her in Europa, quer durch Sibirien, mit dem Dampfroß wie mit dem Dampfboot; in der Troika und im Tarantaß über endlose Straßen und Landwege; zu Schlitten über die weiten Schneefelder der Steppe und die gefrorenen Flußläufe entlang: überallhin reiste dieser außerordentliche Mann mit der Predigt des Evangeliums. Die Feldzüge auf Rossesrücken, die John Wesley zur Evangelisation Englands unternahm, schrumpfen zusammen gegenüber den unaufhörlichen Tausendmeilenreisen, welche Dr. Baedeker im Dienste Jesu zurücklegte.

Was begehrte er dabei? Zu predigen und Sünder zur Bekehrung zu bringen. Gottes Wort unermüdet laufen zu lassen in mancherlei Sprachen und so den Samen des Reiches Gottes auszustreuen mit der Hoffnung auf eine goldene Ernte. Und dann vor allem den Kindern Gottes, die aller Gemeinschaft entbehren müssen, Herz und Hand zu stärken.

Es war vielleicht der hervorstechendste Zug in seinem Lebenswerke, daß er diese Jünger in ihrem Glauben zu befestigen strebte. Er wollte eines der „goldenen Gefäße“ im „großen Hause“ sein (2. Tim. 2, 20), „dem Hausherrn bräuchlich und zu allem guten Werk bereitet,“ ein Werkzeug des Heiligen Geistes, des Trösters der zerstreuten, einsamen, verfolgten, ausgestoßenen Heiligen. Er wollte ihnen die unaussprechliche Freude und Ermunterung bringen, welche erzeugt wird durch die Berührung mit einer innerlich verwandten Seele, durch den warmen Druck einer Bruderhand, den hellen Strahl eines teilnahmvollen, zärtlichen Auges. Das war sein unermüdliches Streben jahrzehntelang. An sich selbst dachte er nicht. Nach Müdigkeit oder Gefahren oder langwieriger Haft fragte er wenig. Sein freundliches Heim in Weston-super-Mare konnte ihm die schneebedeckten Steppen nicht verleiden, nicht die Berge, in denen der Wolf hauste, oder die Beschwerlichkeiten einer Reise in abgelegenen und nur halbzivilisierten Ländern. Nachdem ihn Gott in der Blüte der Jugend berufen, widerstand er kräftig der Versuchung zu einem Leben des Leichtsinns und des Genusses. Er brachte seine Bildung und seine rednerische Begabung mit voller Herzensbegeisterung auf den Altar Christi. Sein Leben war fortan harter Arbeit im Dienste des Evangeliums geweiht.

Er konnte mit dem großen Heidenapostel sagen: Ich bin oft gereiset, ich bin in Gefahren gewesen durch die Flüsse, in Gefahren durch die Mörder, in Gefahren unter den Juden, in Gefahren unter den Heiden, in Gefahren in den Städten, in Gefahren in der Wüste, in Gefahren auf dem Meer. (2. Kor. 11, 26.) Erst im hohen Alter von 83 Jahren durfte er seine Arbeit niederlegen und vor seines Herrn Angesicht erscheinen. Aber selbst in diesen seinen letzten Jahren auf Erden machte er nicht weniger als vier Besuche auf dem Kontinent im Interesse schwer kämpfender christlicher Gemeinschaften, die seines Rats und seiner Hilfe bedurften. Für ihn gab’s keinen Ruhestand, bis er einging in die ewige Ruhe in seines Vaters Haus.

Jemand, der ihn genau kannte, hat gesagt: „Der Gedanke an das, was ihm etwa zustoßen könnte, rührte ihn gar nicht. Sein Leben hatte für ihn nur den Zweck, es für Gott zu leben. Es zu leben, oder zu sterben, ihm galt beides gleich, wenn nur Gott geehrt wurde.“

Das eigenartige Völkchen der Molokanen — der Quäker Rußlands — hatte einen besonderen Platz in seinem Herzen. Er hatte sich Arbeit um sie gemacht, er bewunderte ihr furchtloses Festhalten an der Verwerfung des Kriegsdienstes, das ihnen so viel Leid und Schaden in dem großen Militärstaat Rußland gebracht hat.

Heute steht er in dem größten Saale eines österreichischen adeligen Schlosses, dessen erweckter Besitzer seine Nachbarn zusammengerufen hat, um das Zeugnis des Gastes zu hören; dann in dem viereckigen Hofe eines armenischen Waisenhauses in Konstantinopel (heute Istanbul); dann in Smyrna unter einem Haufen von Griechen, Armeniern, Türken und Juden, an einem Tage sechs Ansprachen haltend an Leute, die brennen vor Begierde, das Wort zu hören. Dann wieder redet er in dem Auditorium einer ungarischen, russischen oder finnischen Universität zu einer Versammlung von Theologie Studenten, denen einer ihrer eigenen Professoren übersetzt. Dann wieder versucht der eifrige Knecht Christi in München unter den deutschen Sozialdemokraten, seinen eigenen Landsleuten, in demselben Saale, in dem Karl Marx seine sozialistischen Vorträge hielt, Leute aus den verschiedensten Lebenskreisen zur Gemeinde Christi zu sammeln aus lauterem Eifer um die Seelen der Menschen. Welch interessante und ergreifende Erfahrungen erzählte er, wenn er einmal zu Hause einkehrte, oder bei seinen gläubigen Freunden in England! Überall fand er das Feld weiß zur Ernte, und die Menschen nahmen eifrig und mit tiefer Bewegung das Wort Gottes auf.

Lange Jahre hindurch war er ein regelmäßiger Gast in jeder großen Stadt, ja in jedem kleinen Städtchen und Dorf in Mittel- und Osteuropa, viele begrüßten ihn, so oft er erschien, als einen alten Freund. An sehr vielen Orten hatte er alte Bekannte, die mit Stolz ihre Anhänglichkeit an den „teuren Vater Bädeker“ zeigten, indem sie ihm bei den Vorbereitungen von Versammlungen treu zur Seite standen.

Der Doktor war ein Vetter des berühmten Herausgebers von Baedekers Reisehandbüchern. Einige dieser wertvollen Führer enthalten Beiträge von seiner Hand, namentlich diejenigen, die entfernte und abgelegene Länder behandeln. Aber er hat auch ungezählten Tausenden ein Führer sein können auf ihrer Reise zur himmlischen Stadt.

Was für Briefe empfing er aus aller Welt Enden! Vor seinen Augen zog in diesen dem Herrn geweihten Jahren ein unaufhörlicher Strom von Tatsachen vorüber, mit denen man eine Reihe von tiefergreifenden Büchern hätte füllen können.

Da schreibt, um nur einige Beispiele zu nennen, eine christliche Gattin und Mutter in Transkaukasien, deren Mann, ein Stundist, achteinhalb Jahre lang in der Verbannung geschmachtet hat, weil er seinen Herrn nicht verleugnen wollte, welch erschütterndes Drama, die Geschichte dieses Hauses! Und was für ein Klang von Stolz und Freude über den tapferen Gatten zittert durch den einfachen Bericht des verlassenen Weibes! Ein anderer Brief stammt von dem besorgten Leiter einer gläubigen Gemeinschaft in Sachsen, der die Weisung seines geliebten Vaters begehrt in einer ratlos schwierigen Lage. Einen dritten schreibt eine Gräfin, deren Besitzungen an der Donau liegen. Sie bittet in der Sprache von heute: „Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“ — „Sie dürfen uns nicht vergessen, lieber Dr. Baedeker, Österreich hat Sie blutnötig. Sie müssen kommen, und zwar so schnell als möglich.“ Ein vierter Brief endlich stammt aus Tiflis, von einem, dessen Augen nach dem Morgenrot eines neuen Tages ausspähen. Auf Dr. Baedekers Rat, auszuwandern nach einem Lande, das mehr Freiheit gewährt, antwortet er: „Warum sollten wir auswandern? Bitten wir nicht Gott beständig, Er möchte uns Freiheit geben, Ihm hier zu dienen in unserem eigenen teuren Vaterland? Wir erwarten bestimmt, daß wir eine Antwort erhalten.“

Wie weit sein „Sprengel“ reichte? Die russischen Armenier im Kaukasus, die Flüchtlinge aus der armenischen Türkei und die Waisen der Opfer türkischen Blutdurstes; die Stundisten, die er bewog, sich heimlich zu versammeln, an einsamen Orten, in todstiller Nacht, auf eilige Verabredung, um von ihm die Botschaften und Liebesgaben ihrer Glaubensgenossen in England entgegen zu nehmen; die russischen Baptisten, die Nachkommen der nüchternen, fleißigen Kolonisten, welche die Kaiserin Katharina vor hundert Jahren mit Freuden in ihrem Reiche empfangen hatte, und die nach Väter Weise ihre Speise begehrten im Worte Gottes; die neugewonnenen Protestanten aus der österreichischen Los-von-Rom-Bewegung, von denen viele nicht genug von dem wahren Evangelium hören können; dazu eine Menge anderer, eigenartiger Menschenkinder gehörten zu dem „Sprengel“ dieses „katholischen und apostolischen Bischofs“ der Kirche Gottes.

Dr. Baedekers Name wird heute voll Verehrung genannt in vielen tausend Häusern auf dem Erdenrund. Er wird noch auf manche ungeborene Geschlechter kommen als der Name des wahren Heiligen Gottes mit der großen Seele, den die Liebe zu den Seelen und zum Herrn hertrieb aus fernen Landen, um die strauchelnden Füße zu richten auf den Weg des Friedens.

Aus Jugendtagen.

In Witten in der Provinz Westfalen lebte zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein gelehrter Naturforscher I. F. Baedeker mit seiner Gattin Friederike. Sie hatten sechs Kinder, vier Knaben und zwei Mädchen. Dr. Baedeker wurde am 3. August 1823 als vorletzter Sohn geboren.

Dr. Baedekers Vater war ein gelehrter Ornithologe, eine Autorität in der Oologie (Eierkunde). Er besaß eine wertvolle Vogel- und Eiersammlung, die manche seltene Stücke aufwies. Nach seinem Tode kamen diese Schätze in das Naturhistorische Museum in Berlin. Er hat außerdem ein treffliches, schön illustriertes Werk: „Die Eier der europäischen Vögel“ herausgegeben. Die Bildertafeln desselben waren nach farbigen Zeichnungen hergestellt, die er selbst von den in seinem Besitz befindlichen Originalen hergestellt hatte. Da finden sich Eier jeder Art und Größe; vom Adler und Storch bis herab zu denen der verschiedenen kleinen Zaunkönigarten, — Eier aller Farbenschattierungen, blaue, braune, grüne, Eier von perlender Weiße und vielfach gesprenkelte, für den Naturfreund ein einzigartig fesselndes Werk. So ausgebreitet war der Ruf seines Verfassers, daß aus den entferntesten Ländern Europas Eier seltener, wilder Vögel zur Bestimmung an ihn gesandt wurden.

Der Naturforscher war offenbar ein aufrichtiger und gewissenhafter Mann, wenn auch wohl nicht religiös interessiert. Wir lesen in dem Tagebuche seines Sohnes von sehr ernsten Gesprächen zwischen Vater und Kind, in denen der junge Fritz treulich und eindringlich ermahnt ward, das Böse zu meiden und dem Guten anzuhangen.

Fritz war ein zarter und sensitiver Knabe, der jede kleine Freundlichkeit seiner Umgebung aufs lebhafteste empfand. Seine Mutter scheint einen gewissen Zug spartanischer Härte gehabt zu haben; vielleicht nötigten sie ihre vier lärmlustigen Söhne und ihr ganz im Studium aufgehender Gatte dazu, die härteren Seiten ihres Charakters stärker zu entfalten. Fritz wandte sich mit seinem Verlangen nach Verständnis und Zärtlichkeit an seine ältere Schwester Pauline, und diese gab ihm beides in unbeschränktem Maß.

Mit sechzehn Jahren kam Fritz auf drei Jahre in ein Geschäft nach Dortmund in die Lehre. Mit einundzwanzig Jahren trat er zur Ableistung einer zweijährigen Dienstzeit ins Heer. Sein Regiment lag in Köln. Den Glanzpunkt seiner Dienstzeit bildete der Besuch der Königin Viktoria und des Prinzgemahls Albert in Deutschland. Derselbe brachte eine prächtige Ausschmückung, glänzende Illuminationen und große Begeisterung der Volksmenge auf den Straßen und Plätzen Kölns beim Einzuge Ihrer Majestät und des Prinzen in die Stadt.

Im Jahre 1848 wurde der junge Baedeker zu einer Reserveübung eingezogen. Während derselben brach seine Gesundheit zusammen, und er wurde ins Lazarett geschickt.

Als sich keine Aussicht auf bleibende Wiederherstellung zeigte, empfing er mit Freuden seine Befreiung vom Militärdienst.

Seine erste Ehe mit Auguste Jacobi schloß er im Jahre 1851. Aber das Glück war von kurzer Dauer. Im Juni hatte er geheiratet. Im September starb die junge Frau.

Damals begann er sein Wanderleben. Zuerst wandte er sich nach verschiedenen Teilen Deutschlands, dann 1854 nach London, von dort segelte er auf der französischen Bark Banca nach Launceston in Tasmanien. Bei der Überfahrt geriet das Schiff in einen schweren Sturm. Die Mannschaft machte trotz der geringen Aussicht auf Erfolg verzweifelte Anstrengungen, das Schiff und das Leben der Insassen zu retten. Mit Gottes Hilfe bestand man die Gefahr, aber die Reise dauerte auch über 130 Tage! In Launceston nahm der junge Abenteurer eine Stellung als Lehrer des Französischen und Deutschen an, zuerst an einer Privatschule, dann an Christ’s College. Nach zwei Jahren verließ er die Stadt und ging nach Melbourne, um später auf einem Schoner nach Sydney zu segeln.

Zwei Jahre lang durchzog er so Australien kreuz und quer. Im Jahre 1858 kehrte er nach Europa zurück. Er benutzte ein französisches Schiff, das nach Havre über Kap Horn bestimmt war. Er brauchte zu seiner Reise 90 Tage, von Havre fuhr er auf einem Flußdampfer die Seine aufwärts nach Paris. Nach einem kurzen Aufenthalt daselbst ging er über die Grenze und betrat zur freudigen Überraschung seiner Eltern und Geschwister (Pauline war während seiner Abwesenheit gestorben) wieder einmal sein Vaterhaus.

Im nächsten Jahr (1859) kam Dr. Baedeker zum zweiten Mal nach England. Er wollte einige Freunde in Tanterbury aufsuchen, die er auf seinen Reisen kennen gelernt hatte. Mit einem von ihnen besuchte er auch Weston-super-Mare. Dort lud ihn ein Herr Girdlestone ein, mit ihm eine höhere Schule zu eröffnen. Da faßte er den Entschluß, seinem unsteten Wanderleben nunmehr „lebe Wohl“ zu sagen und ward ein seßhafter englischer Staatsbürger.

Unter seinen ersten Schülern war ein Knabe namens Harry Ormsby. Die Mutter desselben war die junge Witwe des Kapitäns Ormsby von der britischen Flotte in Indien, die Schwester des Archidiakons Leigh-Lye in Bombay. Diese Dame führte Baedeker zum glücklichen Ehebunde heim am 17. Juni 1862.

Die Bekehrung Dr. Baedekers und seiner Frau und ihre Berufung in den Dienst Jesu erzählt das folgende Kapitel. Hier sei nur bemerkt, daß die beiden wenige Jahre später nach Bristol verzogen. Dr. Baedeker wünschte bestimmte Vorlesungen über Medizin und Chirurgie zu hören, die in Verbindung mit einem Hospital dort abgehalten wurden. Er setzte diese Studien ein ganzes Jahr lang fort. Die gewonnenen Kenntnisse waren ihm in seiner späteren Laufbahn von großem Nutzen. Er kam außerdem während seines Aufenthaltes in Bristol in enge Verbindung mit Georg Müller, und legte den Grund zu einer wertvollen Freundschaft, die bis zu Müllers Tode gedauert hat.

Den philosophischen Doktorgrad erwarb sich Dr. Baedeker während eines Aufenthaltes auf der Universität in Freiburg. Danach setzte er auch noch an der Universität Bonn seine Studien fort. Man sieht, daß er Wert darauf legte, mit seinem Mutterland in Verbindung zu bleiben.

Es ist besonders interessant, daß der Schauplatz seiner frühesten evangelistischen Tätigkeit eben Witten gewesen ist, sein Geburtsort, die Heimat seiner Jugend. Zu dem geheilten Gadarener sagte der Meister: „Gehe hin in dein Haus und zu den Deinen und verkündige ihnen, wie große Wohltat dir der Herr getan, und sich deiner erbarmet hat!“ (Markus 5, 19.)

Einen passenden Schluß dieses kurzen Kapitels bilden Auszüge aus drei Briefen aus Witten.

„’Ein Prophet in seinem Vaterlande’, das Wort paßt auf mich im vollsten Sinn. Aber ich denke, der Herr wird’s an nichts fehlen lassen und mir geben, was ich brauche, und was Er für die Seelen hier für nötig hält. Wir haben hier eine Gebetsgemeinschaft, und das ist mir eine große Stärkung.“

„Die Freundschaft mit Pastor König ist mir eine große Freude; ebenso die mit Pastor Kellermann, dessen Frau eine Tochter meiner Cousine ist. Du hättest Dich gefreut, wenn Du gesehen hättest, wie viele meiner ehemaligen Schulkameraden zu mir heraufkamen, mir die Hand entgegenstreckten und mir dankten. Wir hatten eine herrliche Zeit, dem Herrn sei Dank!“

„Heute gehe ich nach Annen und halte eine Versammlung in einem kirchlichen Saale unter Leitung des Geistlichen.“

„Heute nachmittag habe ich einige entfernte Bekannte besucht. Lauter strenge Lutheraner ...“

„Bis hierher hat der Herr die Wege gebahnt und mir’s gelingen lassen. Mittwoch hatte ich eine Versammlung in Annen. Dort steht auch ein lebendiger Pastor. Nach der Versammlung ging ich zu Fuß nach Witten zurück; einige Freunde begleiteten mich.“

„Die Lehre von der Taufwiedergeburt ist das Leichentuch, in das der Leichnam des religiösen Lebens in Deutschland geschlagen ist. Aber Gottes Geist ist am Werk unter den Seelen.“

Bekehrung und erster Dienst.

Die Bekehrung Dr. Baedekers erfolgte 1866 während einer Evangelisation in Weston-super-Mare, die der Earl of Cavan veranstaltete, und die £ord Radstock leitete. Unter der Verkündung dieses geheiligten Edelmannes begann der Geist Gottes in der Stadt und der Umgegend mächtig zu wirken. Es erfolgten viele bemerkenswerte Bekehrungen. Der Einfluß dieser Segenszeit ist noch bis auf den heutigen Tag spürbar.

Mr. Douglas Russell hat die Bekehrung Dr. Baedekers so lebendig beschrieben, daß wir nichts Besseres tun können, als seine Worte zu wiederholen: „Auf eifriges Drängen eines Herrn, der selbst eine Frucht dieses Werkes war, und den Dr. Baedeker kannte, versprach er zögernd einer Versammlung beizuwohnen. Sein Interesse war erregt. Er wiederholte seine Besuche, aber er machte es immer möglich, den Ausgang zu gewinnen, bevor der edle Evangelist beim Schluß der Versammlung ihn erreichen konnte. Nachdem er mehreren Versammlungen beigewohnt, zögerte der Doktor eines Abends zu lange, oder kam zu weit nach vorn, so daß er im Gedränge den Ausgang nicht rechtzeitig zu gewinnen vermochte. Jedenfalls glückte es Lord Radstock, an ihn heranzukommen. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: ,Lieber Freund, Gott hat durch mich heute abend eine Botschaft für Sie.’ Damit nötigte er ihn, in das Nebenzimmer zu treten. Das geschah vor aller Augen. Bald lagen beide auf den Knieen, während dieser feierlichen Augenblicke spielte sich in Dr. Baedekers Seele ein innerer Vorgang ab, durch den sein jahrelanger Unglaube für immer verschwand. Er beugte sich vor Gott. Er traute seinem Heiland, und bald erfüllte der Jubel der Errettung sein Herz. Die Erfahrung dieser denkwürdigen Nacht faßte er treffend in die Worte: ,Ich kam hinein als ein stolzer, deutscher Ungläubiger und heraus als ein gedemütigter, gläubiger Jünger des Herrn. Gott sei gepriesen!’

„Seine Gattin, die sich mit ihm von ganzem Herzen der Welt und ihrer Lust hingegeben — Musik und Tanz waren ihr größtes Vergnügen gewesen — stand einige Zeit abseits und schaute staunend auf diese ,merkwürdigen Versammlungen einen Tag nach dem anderen’. Aber sie spürte die Veränderung ihres Gatten und seinen entschiedenen Entschluß, Treue zu halten und voran zu kommen. Da sagte sie: ,Vielleicht weise ich etwas zurück, das ich vielmehr ergreifen sollte’, — begleitete ihn in eine Versammlung, ward erweckt, binnen kurzem errettet, und so empfingen beide ,denselben teuren Glauben’. Als ,Miterben der Gnade des Lebens’ waren sie hinfort gedrungen von der Liebe Christi, der sich selbst für uns gegeben hat, eins in dem Drange zu geben und sich darzugeben für das ewige Heil anderer.“

Und nun geschah etwas Wunderbares. Der Mann, der schon jahrelang eine zarte Gesundheit gehabt, der sich nicht einmal mit seiner Frau auf einen Spaziergang wagen durfte ohne Vorsichtsmaßregeln gegen Herzschwäche, der bei allen seinen Verwandten für einen Todeskandidaten galt wegen seiner gesunkenen Lebenskraft, der warf seine Medizinflaschen beiseit, vergaß die argen Schmerzen und zog mit neuer Jugendkraft aus zum Dienste Christi, der in 40 Jahren durch keine ernste Krankheit unterbrochen ward.

Dr. Baedeker vertraute seinem Herrn für den Leib so gut als für die Seele. Man hörte ihn nie klagen, er fühle sich nicht wohl, ja nicht einmal, er sei müde. Christus trug seine Krankheit sowohl wie seine Sünde, von ihm konnte man in Wahrheit sagen, wie von dem Lahmen, den der Apostel heilte: Durch den Glauben an Seinen Namen hat diesen, den ihr sehet und kennet, Sein Name stark gemacht, und der Glaube durch Ihn hat diesem gegeben diese Gesundheit vor euren Augen (Apostelg. 3, 16). Das galt bis zu seinem Heimgang mit 83 Jahren.

Noch auf seinem Sterbebett war er weit mehr bekümmert um das Seelenheil seiner Pflegerinnen, als um sein eigenes leibliches Befinden. Zwei Edelsteine mehr für Christi Krone zu gewinnen, schien ihm ein passender Abschluß seines Erdenlaufs.

Lord Radstock ward dazu ausersehen, für die Arbeit Dr. Baedekers auf dem Kontinent „die große Tür, die viel Frucht wirkt“ aufzutun. Im Jahre 1874 machte der Lord einen flüchtigen Besuch in Berlin. Bei einer Besprechung mit einigen christlichen Freunden in der Hauptstadt beschloß man, einen bekannten Evangelisten aus Amerika (Pearsall Smith) zu einer Reihe von Versammlungen aufzufordern. Dr. Baedeker, der gerade anwesend war, wurde gebeten, für den fremden Prediger zu übersetzen. Er tat’s mit so viel Geist und Kraft, daß die Zuhörer sagten: „Was brauchen wir uns einen Prediger aus Amerika zu verschreiben! Hier ist ein Landsmann, auf dem offenbar der Geist Gottes ruht, den wollen wir hören!“

So kam es, daß der Doktor nach Abschluß der Predigtreise mit dem amerikanischen Evangelisten zu eigener Arbeit auszog. Er suchte die Orte auf, an denen vorher Versammlungen gehalten worden waren, und hatte viel Segen bei seiner ersten Arbeit im deutschen Vaterlande.

Im folgenden Jahre begann dann sein Werk in Rußland. Der ihm befreundete Lord Radstock, der mit besonderem Segen im Zarenreiche arbeitete, führte ihn bei vielen hochstehenden Persönlichkeiten St. Petersburgs ein. Im Jahre 1877 verließ Dr. Baedeker auf drei Jahre sein Haus in Weston-super-Mare und zog mit Frau und Tochter nach Rußland, um seine evangelistische Arbeit zunächst unter der deutschsprechenden Bevölkerung aufzunehmen.

Allmählich erweiterte sich der Kreis seiner Tätigkeit über den zunächst in Aussicht genommenen Umfang. Sein Arbeitsfeld erstreckte sich hauptsächlich über Böhmen, Mähren, Ungarn, Galizien, Polen, die Schweiz, Finnland und die westlichen und südlichen Provinzen des weiten russischen Reiches.

Sobald Dr. Baedeker zu arbeiten begonnen hatte, hatte auch Gott zu segnen begonnen. Im Frühjahr 1875 hielt er Versammlungen in der Garnisonkirche zu Berlin. Er übte große Anziehung auf die Aristokratie der Hauptstadt, und „die Kraft des Herrn ging von ihm“. Am 14. April redete er über das Thema: „Was der Heilige Geist tut, um das Opfer Christi klar und kräftig zu machen.“ Dieser Ansprache lauschte eine Dame unter der Zuhörerschaft mit tiefer Bewegung. Es war Fräulein Toni von Blücher, die später durch ihre Arbeit im Dienste des Glaubens und der Liebe weithin bekannt geworden ist. Sie kam nach Hause, zog sich in ihr Zimmer zurück und „rang danach, daß sie durch die enge Pforte einginge“.

„Herr, jetzt oder nie!“, rief sie aus.

Als eine neue Kreatur in Christo Jesu stand sie von ihren Knieen auf und begann sogleich für den Herrn zu arbeiten. Sie hielt in ihrem Hause Gebetsversammlungen und Bibelbesprechungen. Sie ging auf die Straßen, um ihre Schwestern zu sammeln und ihnen den Weg zu Jesu zu zeigen. Sie eröffnete eine Sonntagsschule. Nach acht Jahren weihte sie am Jahrestage ihrer Bekehrung den „Saal am Schöneberger Ufer“ ein, der ihrer Missionsarbeit dienen sollte. Die Räume erwiesen sich bald als zu klein. Da hielten ihre Freunde am Weihnachtsabend desselben Jahres eine Versammlung ab, in der man vom Herrn mehr Mittel und einen größeren Saal erbat. Während man im Gebet lag, tat die Tür sich auf, und es ward eine fremde Dame gemeldet.

„Vergangene Nacht legte Gott mir aufs Herz, Ihnen diese 200 Mark zur Ausdehnung ihres Werkes zu bringen“, sagte sie.

Diese unmittelbare Antwort auf ihre Gebete war den Versammelten eine große Ermutigung. Man vergrößerte das Grundstück und baute neue Versammlungsräume für die verschiedenen Gemeinschaften, die sich an die „Mission des Zentrums“ angeschlossen hatten. Georg Müller, Doktor Baedeker und andere teure Brüder hielten von Zeit zu Zeit dort Versammlungen ab, die stets reich gesegnet waren. Jetzt stehen in China und Indien Missionare an der Arbeit, die in Frl. von Blüchers Mission zum Herrn gekommen sind. Im Jahre 1906 ward sie heimgerufen. In einer Berliner Zeitschrift ist eine kurze Darstellung ihres Lebens erschienen, aus der die obigen Angaben entnommen sind.

Seine erste Versammlung in Rußland hielt Dr. Baedeker in Mitau in Kurland. Von seinem Hotel aus machte er sich sogleich auf den Weg zur Wohnung des Gouverneurs.

„Ich halte mich nur für einige Tage in Ihrer Stadt auf. Hier sehen Sie meinen Paß. Ich komme aus England. Ich bin Evangelist und möchte hier eine Versammlung halten. Wollen Sie mir Ihren Salon zur Verfügung stellen, so will ich die Versammlung leiten und eine Ansprache halten.“

Man stelle sich einen Bürgermeister hier zu Lande vor, der unvermutet so angepackt wird. Hochwohlgeboren würde wahrscheinlich der Schlag rühren. Aber dort in Rußland ist eine Evangelisationsversammlung kein so gewöhnliches Ding wie bei uns.

„Mit dem größten Vergnügen“, antwortete also der Gouverneur. „Mein Salon steht Ihnen zur Verfügung, und meine Freunde und Bekannten sollen auch ,zur Verfügung’ sein. Ich will das Meine tun, daß Sie einen vollen Saal haben.“

Er erfüllte sein Versprechen und lud seine Freunde und Nachbarn zusammen, wie der Hauptmann Kornelius von Cäsarea, als Petrus in ähnlicher Absicht zu ihm kam. Ein Prediger hätte sich kein aufmerksameres und ernsteres Publikum wünschen können als die Zuhörerschaft bei dieser Verkündigung des Wortes in dem prächtigen Festsaal des Mitauer Rathauses.

Kam Dr. Baedeker in eine Stadt, so erkundigte er sich gewöhnlich, ob ein Gläubiger am Orte wohne. Diesen suchte er auf und beriet mit ihm die notwendigen Schritte, die Miete eines Saales, die Heranziehung der maßgebenden Persönlichkeiten u.s.w. Anderenfalls hielt er sich fast unverändert an sein Vorgehen in Mitau, und meist fand seine Bitte um eine Versammlung im Salon des Gouverneurs bereitwilliges Gehör. Oft gab es nur ein ernstliches Hindernis, — die Gemälde an den Wänden.

Zu Hause in England kränkte der Doktor einmal seine liebe Frau, indem er über die Gemälde an der Wand seines eigenen Salons sich aufhielt. Frau Baedeker fand nichts Böses an ihnen und war ganz bestürzt. Seine merkwürdige Abneigung war hervorgerufen durch die Bilder an den Wänden der Gouverneurs-Wohnungen, in denen er seine Versammlungen hielt. Es hingen gewöhnlich viele da. Oft waren die langen Wände von oben bis unten voll, drei ganze Reihen, darunter manche wirkliche Kunstwerke. Wie konnte ein Redner die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer so fesseln, daß sie ihre Augen abgewandt hielten von dem herrlichen Anblick, der sich ihnen ringsum so verführerisch bot?

Aber trotz der Bilder gab es überall eine gute Ernte, wo er den Samen des Evangeliums ausstreute. In der ersten Zeit mußte der Doktor an jedem Orte bei fünf voneinander unabhängigen Behörden Erlaubnis einholen, ehe er den Saal zur Abhaltung einer Versammlung öffnen durfte: beim bürgerlichen Oberhaupt der Stadt, beim Polizeivorsteher, dem Leiter des Schulwesens, der kirchlichen Behörde und endlich beim Zeitungszensor (wegen der Anzeige in der Zeitung).

Bisweilen war sein Empfang bei diesen Herren alles andere als höflich, wäre er nicht ein Fremder von vornehmer Erscheinung gewesen und hätte er nicht den Einfluß hoher Stellen hinter sich gehabt, so würde er fast stets abgewiesen worden sein.

„Wer sind Sie — Lord Radstock?“

„Nein: Dr. Baedeker aus England.“

„Was wünschen Sie — eine Ansprache zu halten, sagen Sie?“

„Jawohl.“

„Sind Sie beim Gouverneur gewesen?“

„Jawohl.“

„Und beim Popen?“

„Jawohl.“

„Und bei. . . (irgend eine andere Behörde)?“

„Nein.“

„Dann müssen Sie erst dorthin und dann wiederkommen.“

So schickte man den Evangelisten von Pontius zu Pilatus bei den Ortsbehörden. Er war müde, ehe er nur die Erlaubnis hatte, über die Miete eines Saales für seine Versammlungen zu unterhandeln. Nicht selten wandte sich freilich bei einer näheren Bekanntschaft mit dem Doktor die Stimmung überraschend zu seinen Gunsten. Ein besonders barsch auftretender Beamter ward durch den liebenswürdigen Takt des Evangelisten so völlig gewonnen, daß er ihn nach Schluß der Versammlungen auf den Bahnhof begleitete und sich unter den wärmsten Ausdrücken herzlicher Zuneigung von ihm verabschiedete. Vielleicht haben der Doktor und der erst so brummige Beamte sich seitdem im Himmel wiedergesehen: das wäre eine Seele, die durch die unermüdete Geduld und Freundlichkeit dieses „Nachahmers Gottes“ gewonnen ward.

Kein Wunder, daß er gewöhnlich den Knoten zerhieb und den Gouverneur bat, in seinem Hause eine halb öffentliche Versammlung zu halten. Diese Beschränkungen sind jetzt großenteils aufgehoben: ein Fortschritt zur Religionsfreiheit, für den Rußland Gott danken darf. Ich glaube auch, daß mit den Jahren dem Doktor der Mut wuchs. In späteren Zeiten rühmte er sich wohl, daß er nach dem einfachen Grundsatz arbeite, zu Anfang niemals um Erlaubnis zu fragen.

„Vorwärts, bis man Halt ruft! Das spart Zeit.“

Die Folge war, daß er bisweilen in arge Verlegenheit geriet. Aber er war mit dem Innern russischer Gefängnisse so vertraut, daß es ihm nicht darauf ankam, die augenblicklichen Unbequemlichkeiten einer Haft auf sich zu nehmen. Er pflegte zu sagen, wenn er ins Gefängnis sollte, so würde er’s lieber in Rußland tun als in England. Er würde dann seinen Mitgefangenen eine Ansprache halten.

Was Rußland war und wird.

In den Jahren nach 1870 wirkte Gottes Geist mächtig unter den oberen Klassen Rußlands. Ein hervorragendes Werkzeug dieser Bewegung war Lord Radstock, dessen Predigt und persönliche Seelsorge zur Erleuchtung und Errettung vieler Seelen gebraucht wurden.

Mrs. Eduard Trotter führt in ihrem Buch „Unterströmungen des 19. Jahrhunderts“ als besonders bemerkenswerten Fall den des Grafen Bobrinsky, des Ministers des Innern, an. Er war ein Mann, der nur seine Amtsgeschäfte kannte. Aber eine gelegentliche Unterhaltung mit Lord Radstock „brachte ihm eine Flut von Licht, wie es den Paulus auf dem Weg nach Damaskus umstrahlte“.

Kurz nach der Erweckung brach eine schwere Prüfungszeit über die neugewonnenen Jünger herein. Unter dem Druck des bekannten Oberprokurators des heiligen Synod Pobjedonostzeff ward den Christen des Reiches über 30 Jahre lang die Gewissensfreiheit entzogen. Geldstrafen, Konfiskationen, Kerkerhaft, Verbannung wurden unbedenklich angewandt gegen alle, die sich erkühnten, einen anderen Glauben als den des Zaren haben zu wollen.

Das Geschick des Obersten Paschkoff wirft ein scharfes Licht auf die Schwierigkeiten und Gefahren, mit denen die Evangelisation in den Ländern des Zaren damals rechnen mußte. Oberst Paschkoff war ein reicher Edelmann, Offizier der kaiserlichen Garde. Er liebte den Heiland und diente Ihm. Er besaß ein Haus in St. Petersburg und ausgedehnte Besitzungen in verschiedenen Teilen Rußlands. Dazu gehörten einige wertvolle Kupferminen in Undorf an der sibirischen Grenze. Dort befindet sich auch ein ungeheuer großes Festungsgefängnis, das Dr. Baedeker oft besucht hat.

Kaiser Alexander III. schickte den treuen Paschkoff in die Verbannung, weil er seine Evangelisation nicht aufgeben wollte. Er hielt in den Salons Gebetsversammlungen und Bibelstunden, verteilte Traktate und arbeitete unter seinen Freunden, nach der persönlich wirksamen Methode, sie „beim Knopf zu nehmen“. Aus der Verbannung schrieb er an den Zaren um Erlaubnis zur zeitweisen Rückkehr nach St. Petersburg, damit er seine Angelegenheiten ordnen könne.

Vor mir liegen zwei Briefe von Dr. Baedekers Hand, beide aus St. Petersburg.

„Ein Brief von Oberst Paschkoff an den Kaiser, in welchem er um die Erlaubnis bittet, in Rußland seine Besitzungen besuchen zu dürfen, soll Seiner Majestät vorgelegt werden, wir stehen alle im Gebet, daß die Antwort zur Verherrlichung Gottes dienen möge.“

Drei Tage später schreibt er:

„Bruder Paschkoff hat Erlaubnis, auf drei Monate nach Rußland zu kommen, wir hoffen heute zu erfahren, wann er eintrifft. Es herrscht, wie Du dir denken kannst, große Freude bei der Aussicht, ihn noch einmal zu sehen.“

Paschkoffs Besuch ward denn auch eine Freudenzeit für die kleine Schar der Gläubigen. Was Wunder, daß sie sich oft in seiner Wohnung einfanden! Nur zu bald hörte der Zar dunkle Gerüchte von öfteren Gebetsversammlungen und Bibelstunden. Er ließ den Obersten vor sich kommen.

„Ich höre, Sie haben Ihr altes Treiben wieder aufgenommen!“, herrschte er ihn an.

„Meine Freunde sind natürlich gekommen und haben mich begrüßt, und dabei haben wir gebetet und zusammen Gottes Wort gelesen“, erwiderte Paschkoff sanft.

„Sie wissen, daß ich das durchaus nicht dulde“, sagte der Zar. „Ich lasse es mir nicht gefallen, daß Sie mich hintergehen. Hätte ich gedacht, Sie würden ihr Vergehen wiederholen, Sie hätten die Erlaubnis zur Rückkehr nicht erhalten. Gehen Sie jetzt und setzen Sie niemals wieder Ihren Fuß auf russischen Boden!“

So ward dieser treue und fromme Mann „auf Befehl des Zaren“ um Christi Willen für immer verbannt aus seinem Vaterlande, gleich vielen anderen in jenen Tagen, die das Salz der russischen Gesellschaft hätten werden können.

Derselbe Oberst Paschkoff war vor seiner Verbannung ein treuer Freund der Stundisten im südlichen Rußland. Einst hat er den Plan gefaßt, eine Zusammenkunft von Vertretern der Stundisten zu veranstalten und setzte auf seine Kosten die Ausführung ins Werk. Er mietete in St. Petersburg ein geräumiges Hotel und lud die weitverstreuten Gemeinschaften ein, Abgeordnete zu einer Reihe von Versammlungen nach der Hauptstadt zu senden. Er übernahm es, für alle Unbemittelten die Reise zu bestreiten und die Kosten ihres Aufenthaltes zu tragen. Es fanden sich etwa 400 Teilnehmer zusammen. Die Versammlungen wurden, wie ich glaube, in einem Saal des Palais der Fürstin Lieven gehalten. Für jeden ward ein Ausweis ausgestellt. Die Karten Dr. Baedekers und seiner Frau trugen die Nummern eins und zwei. Manche der Abgesandten waren einfache Bauern und Arbeiter aus entfernten Provinzen. Sie waren völlig unbekannt mit dem Ton der aristokratischen Kreise in der fashionablen Hauptstadt. Dennoch gewannen sie aller Herzen durch ihre ehrfurchtgebietende Erscheinung, ihre ruhige, angenehme, innig fromme Art. Meist bestand ihre ganze Reiseausrüstung in einem Löffel und einem Kamm, die sie in ihre beiden langen Stiefelschäfte steckten. — Ein Tag nach dem anderen verging mit herrlichen und gesegneten Versammlungen. Gebete und Loblieder, sonst seltene Klänge unter dem Dach eines Palastes, stiegen zum Himmel auf. Eines Morgens standen die Tore des Palais offen, und die Halle war vorgerichtet. Oberst Paschkoff und seine Gattin, das Ehepaar Baedeker und andere Freunde warteten wie gewöhnlich auf das Erscheinen der Abgesandten, aber keiner ließ sich blicken. Die Stunden gingen hin, doch kein verspäteter Teilnehmer kam, nicht den Tag über und auch nicht in der Nacht. Oberst Paschkoff war verblüfft. Man stellte allerlei Vermutungen über das plötzliche Verschwinden der Gäste auf. Er ordnete Nachforschungen an. Aber sein Hotel blieb verödet, und er erhielt keine Kunde von den Vermißten.

Am übernächsten Tage endlich erschien einer aus der verschwundenen Schar auf der Bildfläche. In Schreckenstönen erzählte er seine Geschichte und löste das Rätsel. Beim Verlassen des Saales waren sie einzeln durch ein starkes Polizeiaufgebot, das auf der Lauer gelegen, verhaftet worden. In der Peter-Paulsfestung hatte man sie scharf untersucht und einzeln verhört, woher sie gekommen seien, zu welchem Zwecke, wer die Kosten bezahlt habe, und was sie über politische und andere Dinge dächten. Die untersuchenden Beamten hatten behauptet, es seien bei einigen revolutionäre Schriften gefunden worden. Darüber hatten sie laut lachen müssen.

„Das einzige revolutionäre Schriftstück, das wir besitzen und gebrauchen“, hatten sie erwidert, „ist die Bibel, wir erstreben keine andere Umwälzung als die, welche das Kreuz unseres Herrn Jesu Christi hervorbringt!“

„Ich merke, Ihr seid alle ganz gute Leute“, sagte der leitende Offizier, als man sie wieder zusammenbrachte, „aber Ihr habt kein gesetzlich erlaubtes Geschäft in St. Petersburg. Darum werden wir euch jetzt sofort nach Hause senden. Ihr werdet auf die Bahnhöfe gebracht, und die Polizei wird achtgeben, daß Ihr alle Fahrkarte und Platz habt nach eurem Bestimmungsort, wer sich noch einmal hier betreffen läßt, wird festgenommen und bestraft!“

Der Berichterstatter hatte Geistesgegenwart genug besessen, auf dem Bahnhof eine Fahrkarte nach einer nahen Stadt zu verlangen, wo er die erste Gelegenheit ersah, unter Einsatz seiner Freiheit zurückzukehren und seinen edelmütigen Gastfreunden kund zu tun, was aus ihren Gästen geworden war.

Das war die bürgerliche und religiöse Atmosphäre des Landes, in welchem Dr. Baedeker Christo dienen sollte, und wo er sich — wahrlich nicht vergebens — bemühte, die Grenzen Seines Königreiches weiter auszudehnen.

Bei seinen Ansprachen in England verweilte Dr. Baedeker gern bei dem Problem, das Rußland jetzt für den reisenden Evangelisten darstellt. Wieviel Rationalitäten und Sprachen umschließt dies Land! — auch wenn man Russisch-Asien ganz außer Betracht läßt, das zwei Drittel des ganzen Reiches ausmacht. Außer den Russen selbst gibt es Tartaren, Armenier, Polen, Letten, Finnen und manche andere. Dazu wohnen viele Deutsche im Lande.

Der Doktor predigte Englisch, Deutsch oder Französisch, wie die Gelegenheit es forderte. Russisch konnte er zwar sprechen, aber nicht sicher genug, um sich beim Predigen desselben bedienen zu können, wenn ihn nicht besondere Umstände dazu nötigten. Im allgemeinen konnte er auf einen Bruder rechnen, der ins Finnische, Russische, Lettische, Georgische, Armenische, Esthnische übersetzte oder in eine der anderen erstaunlich zahlreichen Sprachen, die im Reiche gesprochen werden.

Bisweilen nahm er sich zwei, drei, ja fünf Dolmetscher, die gleichzeitig in verschiedene Sprachen übersetzten und dabei umringt waren von einer Schar solcher, die ihre Sprache verstanden, während vielleicht einige wenige nur die Sprache verstanden, in welcher der Doktor redete, Englisch oder Deutsch, und sich um ihn, den im Mittelpunkt Stehenden, gruppierten. Ja die Sache konnte noch verwickelter werden, wenn sich niemand fand, der zugleich Dr. Baedekers Sprachen und die betreffende fremde beherrschte. Dann brauchte man zwei Dolmetscher. Der eine übersetzte etwa aus dem Deutschen ins Russische, und der zweite aus dem Russischen in die Sprache der Hörer. Es wäre interessant, die Ansprachen zu vergleichen und zu sehen, welche Veränderungen die Original-Ansprache beim Hindurchgehen durch die mehrfachen Übersetzungen erfahren hätte.

„Ich rede gern mit einem Übersetzer“, sagte Baedeker bei einer Gelegenheit, „ich kann dann öfter eine Pause machen.“

Im Sommer des Jahres 1901 begleiteten Mr. und Mrs. R. C. Morgan den Doktor auf einer zweimonatigen Tour durch den Kaukasus, auf der er die Gefängnisse besuchte und vor mehreren tausend Gefangenen redete. Aus der Feder von Mrs. Morgan stammt folgende greifbar deutliche Schilderung des Überschreitens der Grenze.

„Blitzschnell durcheilen wir Deutschland und erreichen um Mitternacht die österreichische Grenze. Nach zweistündigem Aufenthalt geht es weiter über Krakau und Lemberg. Grau ist der Tag und das Land flach und armselig. Abends 10 Uhr kommen wir bei strömendem Regen in Wololczyska an. Es geht ein starker, schneidender Wind, aber wir bleiben warm durch die Erlebnisse, die nun folgen.

’Haltet eure Pässe bereit’, sagt der Doktor.

Wir geben sie ab beim Eintritt in die Zollstation, wo tolle Verwirrung zu herrschen scheint. Unser Handgepäck wird geöffnet und alles Gedruckte herausgerissen. Nach einer Weile kommen die Bücher zurück. Einige Nummern des ,Christian’, unsere biblischen Kommentare und andere Papiere in der Hand, steht der Beamte da und bemüht sich, uns etwas zu erklären. Wir schütteln unser Haupt bei den seltsamen Tönen. Er erhebt die Stimme, aber je lauter er spricht, je stärker schütteln wir, bis Dr. Baedeker zu unserem Entsatz erscheint.

,Wenn ihr 50 Kopeken zahlen wollt, so werden eure Bücher zum Zensor nach Odessa gesandt’, sagt er.

Auf seinen Rat lassen wir lieber unser Eigentum im Stich. Am anderen Ende der Halle drängt sich eine bunte Menge um einen Beamten, der hinter einem Pult die Pässe zurückgibt. Da unser Name einer der letzten ist, so begegnen wir bei der Revision unseres aufgegebenen Gepäcks keinen Schwierigkeiten. Wir dürfen auf unsere Pässe und kleine Karten, welche zeigen, daß unser Handgepäck gehörig untersucht ist, in den Wartesaal eintreten, der zu gleicher Zeit Restaurant ist. Hell strahlende Samowars grüßen uns, und wir lassen uns den ambrafarbigen Tzaj (Tee) schmecken. Ein gewaltiger Gepäckberg ist am Eingang zum Bahnsteig aufgetürmt worden. Sowie die Tür sich öffnet, gibt’s ein furchtbares Gedränge und Geschrei: die Reisenden rufen laut die Nummern ihrer Najsilstschiks (Träger), und jeder trachtet, sich zuerst durchzudrängen. Wir klimmen mit anderen über die Gepäckbarrikade und folgen halbgeblendet dem Strome. Ein gutmütiges Menschenkind schiebt uns in ein Abteil. Es ist der Doktor, der die ganze Zeit ein scharfes Auge auf uns gehabt hat.

,Wo sind denn unsere Reisetaschen?’, rufen wir aufgeregt.

,Keine Angst’, lautet seine ruhige Erwiderung. In der Tat ist nach kurzer Weile alles in Ordnung gebracht, und indem unser Zug aus dem Bahnhof gleitet, fassen wir es allmählich, daß wir die Schwelle Rußlands überschritten haben.“

Was die Zukunft des Evangeliums in Rußland angeht, war der Doktor ein unentwegter Optimist. Er liebte das Land und das Volk. In seiner ganzen Korrespondenz findet sich kein Wort des Tadels über die Regierung. Ausgenommen hie und da ein flammender Protest gegen die Politik der religiösen Intoleranz und Schroffheit. Jetzt gehört, Gott sei Dank, diese Politik der Vergangenheit an. Er war viel zu sehr von dringenden religiösen Aufgaben hingenommen, als daß er seine Zeit den politischen Dingen hätte widmen können, was seines Amtes nicht war, da ließ er seinen Fürwitz.

Gottlob kommen jetzt bessere Tage! Es ist in der Emanzipation und Evangelisation der Völker viel erreicht worden, seit einst ein Herrscher seine Politik der Ausrottung aller andersgläubigen Christen in das Wort zusammenfaßte: Ich will lieber über eine Wüste König sein, als über eine Ketzerbande herrschen! Dr. Baedeker hat seinen wohlbemessenen Anteil an diesem ruhmreichen Fortschritt auf dem Wege zur Freiheit und Wahrheit. Wer kann aussagen, wieweit das in der russischen Volksseele erwachte leidenschaftliche Verlangen nach Freiheit, Recht und Brüderlichkeit der langjährigen geduldigen Verkündigung seinen Ursprung verdankt, mit der dieser begeisterte Mann unermüdlich das gewaltige Reich Kreuz und Quer durchzogen hat!

Gerade die letzten Jahre haben große Fortschritte gebracht. Einige Ereignisse müssen wir beklagen; aber andere bereiten uns aufrichtige Freude. Seit dem Ukas von 1861, durch den die klarsehende und edelmütige innere Politik Alexanders II. dreiundzwanzig Millionen Leibeigenen die Freiheit gab, ist kein größerer Schritt zur Anerkennung der Menschenrechte geschehen als die Gewährung der Religionsfreiheit durch den jetzigen Zaren im Jahre 1905. Die Völker fangen an zu merken, welch einzigartiges Geschenk ihnen geworden ist. Baron Uexküll schrieb kürzlich an einen Freund in England:

„Wir stehen noch unter dem Einfluß des größten Ereignisses in der religiösen Geschichte Rußlands — des Toleranzedikts von 1905. Es ist etwas ganz Neues und herrliches für die Christen Rußlands, daß wir jetzt Freiheit haben, Gott zu dienen nach unserem Gewissen. Aus allen Teilen des Reiches wird berichtet, daß Leute den orthodoxen Glauben verlassen und evangelische Christen werden.“

Daß trotzdem immer noch Raum genug bleibt für Reformen der inneren Verwaltung, beweist zur Genüge das folgende Reutertelegramm aus Warschau vom 3. Februar 1907:

„Alle Gefängnisse und Festungen sind überfüllt mit Verhafteten, die ohne Verhör monatelang festgehalten werden. Der Generalgouverneur hat infolgedessen einen Ausschuß ernannt, dem Vertreter der Justiz, der Armee und Polizei angehören, um die Gefangenen zu verhören und diejenigen zu entlassen, die nur durch den Übereifer der Behörden verhaftet wurden.“

Wie wenn der Frühling mit mächtiger Hand die Lawine von den schroffen Hängen des nördlichen Ural löst, oder sein warmer Hauch die Eisdecke der sibirischen Ströme drängend sich heben und mit donnerähnlichem Getöse bersten läßt, so wirken jetzt ungekannte, mächtige Einflüsse unter der Riesenbevölkerung des Russischen Reiches: politische und soziale, sittliche und religiöse. Der Herr, der dem Sturm gebot und das Getümmel des Volkes stillte, verleihe dem Zaren und seinen Räten viel Gnade und allen, die in so ernsten Zeiten im Regiment sitzen!

Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu Mir gekommen.

Achtzehn Jahre lang hatte Dr. Baedeker allein das Recht, jedes Gefängnis in den Reichen des Zaren zu besuchen. Er hatte Zutritt in Warschau wie in den Strafkolonien der Insel Sachalin, in den Festungsgefängnissen Kaukasiens tief im Süden bis zu den eisumstarrten Einöden des nördlichsten Sibiriens.

Sein Erlaubnisschein verkündete, er habe „den speziellen Auftrag, die russischen Gefängnisse zu besuchen und die Strafgefangenen mit Exemplaren der heiligen Schrift zu versehen“. Der Wortlaut des Dokuments gab ihm eine Art von amtlicher Stellung. Seine Berechtigung, sich den Gefangenen in der ihm geeignet dünkenden Weise zu nähern, scheint selten angefochten worden zu sein. So wunderbar öffnete ihm Gott die Tür für seinen heiligen Dienst.

Er sagte gelegentlich: „Mein Name ist in Rußland und Sibirien der reine Hauptschlüssel für Gefängnistüren geworden. Ich habe hinter den Gefängnismauern soviel Freiheit, Christum zu predigen, wie nur immer in den Straßen Londons, ja wahrhaftig mehr.“ Es war sein Vorrecht und seine Freude, unzähligen politischen und anderen Gefangenen ein Neues Testament auszuhändigen. Stets begleitete er die Gabe mit einigen liebevollen Worten von Hoffnung und Hilfe, die auf den Freund der Sünder hinwiesen. Dies war der vornehmste Dienst des einzigartigen Gottesmannes. Glücklicherweise ist uns sein eigener Bericht darüber erhalten, wie ihm sein Privileg zuteil wurde.

„Einst hatte ich keine Ahnung davon, was für ein großer Teil der Bevölkerung mancher Länder wie wilde Tiere hinter Eisengittern verwahrt und mit Ketten belastet ist. Als ich die Verhältnisse in Rußland kennen lernte, wurde es mein Herzenswunsch, daß diese Gefängnisse sich mir öffnen möchten. Ich wagte es, mein Verlangen einer hochgestellten Dame in St. Petersburg zu offenbaren. Ich fragte, ob wohl eine Möglichkeit da sei. Traurig schüttelte sie das Haupt. Aber sie vergaß meinen Wunsch nicht.“

Hierzu sei bemerkt, daß die „hochgestellte Dame“ eine sehr angesehene Gräfin war, eine persönliche Freundin der Kaiserin (der Großmutter des jetzigen Zaren) und die Gemahlin eines sehr bekannten Gesandten. Eines Tages machte die Gräfin Einkäufe in St. Petersburg. Ihr Gemahl, der Graf, wartete auf sie an der Ladentüre.

Plötzlich rief er: „Komm einmal schnell her!“

„Was gibt’s denn?“, fragte sie, an die Tür eilend. „Da geht gerade der Mann, den du haben willst, auf der anderen Seite der Straße!“

„Wen meinst du?“

„Den Leiter des Gefängniswesens. Mit dem sprichst du am besten über den Erlaubnisschein, den du haben möchtest.“ „So lauf, bitte, und rufe ihn zurück!“, sagte die Gräfin.

Der Graf eilte hinter dem Beamten her und brachte ihn in den Laden.

„Womit kann ich der gnädigen Frau dienen?“

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meinem Freunde, einem Engländer, Dr. Baedeker, eine Erlaubniskarte zum Besuch der Gefängnisse und der Gefangenen verschaffen wollten. Er hat natürlich keine politischen Zwecke; er will ihnen Bibeln geben und sich ihrer annehmen.“

„Meint Ihr Freund eine gute Einwirkung auf sie ausüben zu können?“

„Er meint, Gott vermag das durch Sein Wort, das Evangelium.“

„Auch meine Ansicht, gnädige Frau! Ich werde bestimmt dafür sorgen, daß er die gewünschte Erlaubnis erhält.“

Damit kehren wir zu Dr. Baedekers eigenem Bericht zurück.

„Der Erlaubnisschein erreichte mich in England, als ich im Begriff war, nach Rußland zu reisen, und ich sah ihn als einen kostbaren Besitz an. Schleunigst fuhr ich nach Odessa, und einer meiner ersten Besuche galt dem Gefängnis. Ich wies mein Schriftstück vor, und es bewährte sich. Die Türen des Gefängnisses taten sich auf, die Beamten waren sehr freundlich und rücksichtsvoll und unterstützten mich in jeder Weise. Das war doch wirklich eine wunderbare Gebetserhörung. Die meisten wissen ja gar nicht, wieviel Menschen in jedem Lande von der Bildfläche verschwunden sind, ohne daß jemand ihrer gedenkt.“

Ein oder zwei Jahre später hatte er Gelegenheit, den Leiter des Gefängniswesens in St. Petersburg zu sprechen. Er gibt das Gespräch folgendermaßen wieder:

„Wir redeten ganz freimütig über die Mängel und Bedürfnisse der russischen Gefängnisse. Er ist ein Mann, der Gott fürchtet und ein Herz hat für das Wohl der Gefangenen. Er setzte mir seine Absichten auseinander. ,Mit Gottes Hilfe hoffe ich in zwei Jahren große Veränderungen zustande zu bringen.’ Er ermunterte mich, nach Ostsibirien zu gehen, und versprach mir, die Bücherpakete unter meiner Adresse nach den einzelnen Gefängnissen vorauszusenden, wo sie bis zu meiner Ankunft lagern sollten. Er wünscht sehr, daß ich auch nach Sachalin gehe und versprach mir genaue Auskunft über die verschiedenen Gefängnisse. Gott sei Dank für diese offene Tür!

Ich suchte Gräfin K. auf und berichtete ihr einige der furchtbaren Szenen, die ich erlebt hatte. Sie ging zur Kaiserin und sprach mit ihr. Man überlegte, ob nicht die diensttuende Hofdame mich zu sich kommen und sich berichten ließe, vielleicht in Hörweite der Kaiserin. Betet nur, daß alles zum Ruhme des Namens des Herrn diene. Ich fürchte, es geschieht überhaupt nichts, denn hochgestellte Herrschaften haben ein kurzes Gedächtnis, und Gräfin K. ist nach Helsingfors gegangen.“

Die oben beschriebene Handlungsweise des Leiters des Gefängniswesens sollte vor Augen haben, wer über diese Behörde aburteilen will. Zweifellos sind manche Reformen in den Einzelheiten der russischen Gefängnisverwaltung, welche die folgenden Jahre brachten, direkt durch die menschenfreundlichen, mitleidigen Ratschläge Dr. Baedekers veranlaßt.

Doch wir sind zu weit geraten und müssen zu seinen ersten Erfahrungen zurück.

In seiner neuen amtlichen Eigenschaft reiste nun der Doktor von einer Festung zur anderen und brachte die gute Botschaft von der „großen Freude“ den gesunkensten und elendesten Schichten der Bevölkerung. Dabei war es ihm gar nicht so selten vergönnt, solchen Gefangenen Beistand und Trost zu bieten, die um Christi und des Evangeliums willen in den Kerkern des Zaren schmachten mußten.

Einmal besuchte er das Gefängnis in Twer an der Wolga, nördlich von Moskau. Die Stadt hat neuerdings eine traurige Berühmtheit erlangt durch den Mord, den ein Agent der Sozialdemokraten an dem Grafen Ignatieff verübte. Einem Transport von achthundert kettentragenden Strafgefangenen mit halbgeschorenem Kopfe, die am folgenden Morgen zu Fuß nach Sibirien transportiert werden sollten, verkündigte er mit gewohnter Eingebung das Evangelium. Den Rest des Tages verbrachte er mit Zellenbesuchen und persönlicher Seelsorge bis abends 6 Uhr. Als er wieder auf den Bahnhof kam, war der Zug nach Moskau bereits abgefahren, und es ging bis zwei Uhr nachts kein anderer. Es blieb ihm nichts übrig, als seine Seele in Geduld zu fassen. Im Wartesaal schlief er mit vielen anderen Reisenden vor einem prächtigen Kaminfeuer den Schlaf des Gerechten. Der Lärm des einfahrenden Zuges weckte ihn auf. Er öffnete die Tür und fand eine große Menschenmenge auf dem Bahnsteig. Bei dem Gedränge und der Hast des Einsteigens ward ihm sein Taschenbuch gestohlen. Das war ein empfindlicher Verlust. Das Buch enthielt seinen Paß, 100 Pfund englisches Geld, dazu 1000 russische Rubel und, was das Schlimmste war — seinen kostbaren Erlaubnisschein!

Bei seiner Ankunft in Moskau setzte er sich schweren Herzens hin und teilte der ihm befreundeten Gräfin den Verlust des wertvollen Papiers mit. Sie antwortete telegraphisch: „Ich werde Ihnen einen neuen Schein verschaffen. Aber haben Sie nicht noch etwas anderes verloren? Etwa Geld?“

Der Doktor gestand, daß er eine beträchtliche Geldsumme verloren habe, dazu seinen Paß. Die gute Gräfin und ihre Petersburger Freunde wollten nicht zulassen, daß Dr. Baedeker durch sein Mißgeschick auch nur um eine Kopeke ärmer würde. Und als der neue Erlaubnisschein von der Zentralbehörde kam, entdeckte er zu seiner großen Freude, daß die Ausdrücke desselben ihm noch mehr Freiheit und größere Vorrechte für seine Arbeit unter den Gefangenen gaben als das verlorene Dokument!

So „wandte Gott den Fluch zum Segen“, wie Er es zu tun pflegt als Antwort auf die Gebete Seiner Kinder. Alle, die Dr. Baedeker gekannt haben, werden ja ohne weiteres gewiß sein, daß er diese Fügung, wie jeden anderen Umstand seines Lebens, im Gebet vor seinen Gott gebracht hat.

Sein Schein ward alle zwei Jahre erneuert. Und so groß war das Vertrauen der Behörden auf den Doktor, daß ihm fast bei jeder Erneuerung ohne seine Bitte noch größere Vorrechte bei seiner Arbeit gewährt wurden. Immer weiter taten sich ihm die sonst ängstlich gehüteten Tore der Festungsgefängnisse und Strafansiedelungen auf, und er durfte ungehindert durch Vorschriften und Beschränkungen in möglichst ausgedehnter Weise seine selbstverleugnende Arbeit zum geistlichen und ewigen Wohl der Strafgefangenen treiben.

Von seinen Besuchen hatten aber nicht nur die Gefangenen Segen, sondern auch die Wärter und die anderen Beamten.

„Ich war Beamter in der Festung X“, sagte ein Herr zu ihm, den er vor etwa zwei Jahren in Rußland gelegentlich traf. „Als Sie dort zu den Gefangenen redeten, haben Sie mich eingefangen!“

Im Gefängnis zu Kutais in Transkaukasien drängten sich die armen Menschen eifrig redend um ihn und erbaten etwas in unbekannter Sprache.

„Was wollen sie denn?“, fragte er seinen Übersetzer. „Vielleicht Geld oder Tee oder was sonst?“

„Sie sollen nur Ihren Namen auf kleine Papierstreifen schreiben, oder in ihre Testamente, damit sie ihn sich leichter merken können.“

„Aber warum wollen sie meinen Namen behalten? An mir liegt doch nichts. Ich bin einfach ein Diener Christi.“

„Sie wollen Ihren Namen vor Augen haben, um beständig für Sie beten zu können, weil Sie die armen Menschen so lieben.“

Der Doktor schaute in die Gesichter der großen Schar von Gefangenen, die vor ihm stand. In den liebevoll auf ihn gerichteten Augen las er, daß sein Übersetzer ihre Bitte richtig wiedergegeben hatte. Sie waren schon dabei, für ihn zu beten.

„Gott segne die lieben Menschen“, rief er aus. „Sie wollen wirklich für mich beten? Dann hat Gott gewiß mein Gebet für sie erhört. Sie sollen meine Unterschrift haben!“

So schrieb er denn in hunderte der Büchlein seinen Namen in russischen Buchstaben. Sicher hat die Gewährung eines Autogramms noch nie soviel Freude erregt und soviel Tränen hervorgelockt.

Tränen waren überhaupt die Regel und nicht die Ausnahme bei den Gefängnispredigten Dr. Baedekers. Gott öffnete ihm die harten Herzen in ganz wunderbarer Weise.

Dr. Baedeker hatte anfangs bei seinen Besuchen in den Gefängnissen viele schwere Hindernisse zu überwinden. Die Gefängnisbeamten konnten ihm angesichts seines Scheins den Zutritt und die Erlaubnis zur Predigt im Gefängnis nicht verwehren. Aber manche gaben ihm unzweideutig zu verstehen, er sei gänzlich überflüssig. Als ein Jahr nach dem anderen verging und einen Besuch nach dem anderen brachte, verwandelte sich die Feindschaft in Freundschaft und herzliche Aufnahme. Schließlich wurde er in fast jedem Gefängnis, das er besuchte, der sehnsüchtig erwartete Gast des Direktors, den man mit Freuden empfing und mit Bedauern entließ. Seine Sanftmut und Freundlichkeit, mit der er so sehr seines Heilands Art nachahmte, entwaffnete allen Widerstand und wandelte den tückischen Feind oft zum ergebenen Freunde. Aus seinen ersten Erfahrungen erzählte er, wie er in einem Gefängnis um die Anordnungen bat, damit er eine Ansprache an die Gefangenen halten könne. Man sagte ihm, der Direktor habe befohlen, die Versammlung müsse unterbleiben.

„Die Gefangenen sollen die Zellen nicht verlassen.“

„Dann will ich sie in den Zellen besuchen.“

„Das ist nicht erlaubt.“

„Aber ich habe die Ermächtigung, eine Ansprache zu halten! Wie kann ich das, wenn mich der Direktor nicht zu ihnen läßt?“

„Der Direktor hat befohlen, die Zellentüren einen Spalt weit zu öffnen. Wünschen Sie eine Ansprache zu halten, so kann das vom Korridor aus geschehen. Aber den Gefangenen ist das Verlassen und Ihnen das Betreten der Zellen untersagt.“

Der Doktor wußte sich als kluger Mann in die Lage zu schicken. So verkündete er das Evangelium einer unsichtbaren Zuhörerschaft, die hinter den ein wenig geöffneten Türen lauschte, während die Wärter scharfe Wache hielten.

Spätere Erlaubnisscheine gaben ihm das Recht, die Zellen zu betreten, sowie andere Vergünstigungen, und nun hatte er oft die ergreifendsten Unterredungen mit den Gefangenen.

Noch ein anderes Beispiel offizieller Behinderung aus jenen Tagen! Der Doktor hatte sich gedacht, es sei für die Gefangenen von Nutzen, wenn er in den Evangelien, die in einem gewissen Gefängnis verteilt werden sollten, passende Verse unterstreiche, so wie man bei uns Sperrdruck anwendet. Er machte sich die Mühe, einige hundert Bücher durchzugehen und eigenhändig mit roter Tinte ausgewählte Verse anzustreichen, die vom Erbarmen und der Gnade Gottes für Sünder handelten. Eine langwierige und ermüdende Arbeit! Aber seine Liebe zu Jesu und den Seelen machte sie ihm wahrhaft zur Lust. Als er die Bücher den Gefangenen in die begierig ausgestreckten Hände legte, lenkte er die Aufmerksamkeit der Empfänger auf die roten Striche.

Das argwöhnische Auge eines hohen Gefängnisbeamten richtete sich plötzlich auf ihn.

„Was haben Sie dem Mann da gegeben?“

„Ein Neues Testament.“

„Was bedeuten denn diese roten Zeichen?“, fragte der Beamte in strengem Tone. Er hielt das Buch in der Hand und sah sich die Blätter an.

„Da sind nur bestimmte Stellen unterstrichen!“

„Aber diese Kreuze am Rande? Das dürfen wir nicht gestatten!“

„Sie sollen nur die Aufmerksamkeit der Leser auf die wichtigsten Stellen richten. Ich möchte, daß diese Bücher ihnen helfen und zum Segen werden.“

„Das ist gut gemeint; aber es ist gegen die Vorschrift! Wärter, sammeln Sie die ausgegebenen Bücher wieder ein!“

„Gegen welche Vorschrift? Ich bin mir nicht bewußt, irgend eine Anweisung übertreten zu haben!“

„Ihre Erlaubnis zur Bücherverteilung ist ausdrücklich beschränkt auf ,Bibeln oder Testamente ohne Anmerkungen oder Erklärungen’!“

„Und diese Bibelteile sind ohne Anmerkungen und Erklärungen!“

„Das stimmt nicht. Sie haben mit diesen Unterstreichungen und Kreuzen Ihre eigenen Anmerkungen und Erklärungen hinzugefügt. Dieselben sollen, wie Sie eben selber gesagt haben, bedeuten, daß diese Verse besonders wichtig sind. Das ist Ihre Meinung, Ihre ,Anmerkung und Erklärung’, mit roter Tinte in das Buch eingetragen. Wärter, sammeln Sie alle Bücher ein! Keiner darf eins behalten. Es ist gegen die Vorschrift!“

Der gute Doktor mußte sich fügen. Die angestrichenen Bücher wurden für eine weniger verdächtige Gelegenheit zurückgestellt und andere verteilt.

Welche Liebe und Anhänglichkeit der Doktor bei manchen Gefangenen fand, die ihn wie einen Engel vom Himmel verehrten, davon können wir, die ihn davon erzählen hörten, Zeugnis ablegen. In seinem Hause in England stand in einer Ecke des Salons ein sorgfältig geschnitzter Photographierahmen mit seinem Bilde in Kabinettformat. Den Rahmen hatte ein Gefangener fern in Sibirien geschnitzt und dem Doktor gegeben als Zeichen der Liebe und des dankenden Gedächtnisses an seine langen Reisen und schweren Mühen um ihretwillen. „Der Tag wird’s klar machen“, nämlich die Früchte seiner Arbeit. Wir dürfen ganz sicher sein, daß unser teurer Freund zu denen gehören wird, die „kommen mit Freuden und bringen ihre Garben“.

In Engelshut.

„Pflegte Ihr Mann Waffen zu tragen?“, fragte einmal ein Freund Frau Baedeker.

„Was meinen Sie damit?“

„Nun, etwa einen Revolver oder einen Dolch für den Notfall. Er kam doch beständig mit allen Klassen der Bevölkerung in Berührung und — man kann nicht wissen.“

„Er dachte im Traum nicht daran, dergleichen einzustecken! Ich habe ihn während aller seiner Reisejahre nicht einmal davon sprechen hören.“

„Wollen Sie damit sagen, daß er so ganz ohne Schutz auszog?“

„Ganz gewiß nicht. Gott war sein Schutz!“

So stand es in der Tat. Er war in Engelshut. „Der Engel des Herrn lagert sich um die, so Ihn fürchten.“ (Ps. 34, 8) Er ist niemals ernstlich zu Schaden gekommen. Die schlimmste Gefahr, die ihn bedrohte, war wohl die einer Krankheit. Aber er ging unbeschädigt ein und aus in überfüllten Hospitälern, in denen der Gestank der gefährlichsten ansteckenden Krankheiten die Luft verpestete, und in denen die Ärzte oft selbst dahingerafft wurden.

Der allmächtige Gott barg seinen Diener unter dem Schatten Seiner Flügel sicher nach Seele und Leib. Für ihn hatte jeder Ausdruck im 91. Psalm seine Bedeutung und erfüllte sich wörtlich an seiner Person. Bei seinen unaufhörlichen Reisen Tag und Nacht, oft in wilden, wenig bevölkerten Gegenden, wo Raubtiere und verzweifelte Menschen hausten, — nie ist ihm „ein Übel begegnet ober hat eine Plage zu seiner Hütte sich genaht“. Seine Zuversicht, unter dem Schutze Gottes zu stehen, ließ ihn „sein Leben gering bedenken“.

Wenn seine Freunde in späteren Jahren mit ihm schalten, daß er in vorgerücktem Alter noch solche Reisen unternahm, so konnte er wohl antworten: „Wenn mich mein himmlischer Vater etwa auf der Eisenbahn heimruft, ober auf dem Dampfer, oder im Hotel, — das soll mich nicht anfechten! Macht das denn etwas aus?“

Seine innere Stellung auf diesem Punkte wird am besten beleuchtet durch das Folgende. Ein hochgestellter Russe berichtete ihm von einem Distrikt in den entferntesten Besitzungen des Zaren, wo harte Behandlung und Einsamkeit die unglückseligen Verbannten zur Verzweiflung getrieben, ja ordentlich in Dämonen verwandelt habe.

„Das Land ist herrlich; aber die Bewohner verbinden mit der brutalen Roheit der eingeborenen Asiaten die raffinierte Wildheit europäischer Verbrecher“, sagte der Gewährsmann. „Sie schießen ohne Zögern einen Menschen nieder, nur weil seine Kleider oder seine paar Pfennige ihnen begehrenswert erscheinen. Zweimal haben sie die Waffen gegen mich erhoben, aber Gott hat mich beschützt. Ihre stehende Redensart ist: ,Es lohnt sich mehr, einen Menschen zu treffen als eine Wachtel. Die Wachtel bringt höchstens ein paar Kopeken ein; aber ein Mensch trägt mindestens Kleider, und die sind mehr wert!’“

„Sagen Sie mir alles, was Sie wissen“, rief Dr. Baedeker eifrig. „Ich denke dahin zu gehen. Diese Menschen haben das Evangelium furchtbar nötig.“

Er ging auch wirklich hin, hatte Erfolg mit seiner Mission und kehrte unangefochten zurück.

„Bei all meinen Reisen durch das Land zur Tages-und Nachtzeit“, sagte er wohl, „habe ich nie ein Auge in böser Absicht auf mich gerichtet gesehen.“

Dr. Baedekers sanfte Art, seine unzerstörbare Ruhe und die Bereitwilligkeit, von allen Menschen und Dingen das Beste zu denken, waren sicher das rechte Mittel, ihn gegen Belästigungen zu schützen. Wir finden selbst unter den schwierigsten Umständen an ihm nie eine Spur von Reizbarkeit. Wer möchte sich’s wünschen, in tiefer Nacht auf der Eisenbahn durch die lauten Rufe und rohen Späße zweier räubermäßig aussehender Burschen aufgeweckt zu werden? Wenn man seinen Unwillen nicht laut äußert — und das wäre nicht klug, denn die Kerle führen blanke Waffen und bedenken sich nicht lange, sie zu gebrauchen — so wird man doch wenigstens bei einem Briefe an seine Frau sich einen kleinen Ausbruch nicht versagen und auf diese Weise seiner unterdrückten Entrüstung Luft machen. Nun höre man, wie der Doktor den Vorgang schildert:

„Tiflis. — Diese lieben Tartaren! Es geht nicht anders, ich muß sie lieb haben trotz ihres rauhen Aufzuges. Zwei prächtige Kerls, Tartaren, fuhren mit mir von Baku hierher. Um ein Uhr morgens fingen sie an Musik zu machen, der eine auf einer Art Gitarre, der andere auf einem Tamburin. Sie waren ganz Auge und Ohr dabei; jeder Nerv und Muskel gespannt; die zwei waren wie eins. Sie spielten wildmelancholische Weisen, wie sie nur ein einsames Wüstenleben erzeugen kann. Es war unbeschreiblich schön! Dann und wann sang einer in schrillen Tönen dazwischen. Eigentlich war’s keine feste Melodie, sondern ein wildmelodischer Gefühlsausbruch. Es schien ihnen zu schmeicheln, daß ich Notiz von ihnen nahm. Ich konnte nur mein Herz zu Gott erheben, Er möge diese wilden Herzen zu Seinem Lobe stimmen! Diese Menschen hatten etwas wunderbar Süßes und Anziehendes für mich! Möchte Gott die Quelle lebendigen Wassers auch für die Tartaren fließen lassen!“

Nein — die bitterste Feindschaft erfuhr des Doktors Arbeit nicht unter den rohen Verbrechern, noch auch von den Bewohnern ferner Länder, sondern an den Mittelpunkten der Bildung und Kultur.

Zur Zeit seines ersten Wirkens als Evangelist kam er auch einmal in die Schweiz nach Zürich. Er mietete eine Villa auf der Hügelseite außerhalb der Stadt. Dort wollte er mit seiner Frau einige Monate wohnen und unterdes in der Nachbarschaft umherreisen und evangelisieren. Es zog ihn besonders, daß damals zeitweise eine beträchtliche Anzahl russischer Flüchtlinge in der Stadt lebte.

Seine erste öffentliche Versammlung fand in einem großen Saale statt. Das Thema lautete: „Die Bibel.“ Der Doktor hatte nur ein Thema: „Jesum Christum und zwar den Gekreuzigten“, unter welchem Titel es auch angezeigt wurde. Damals übte sein Thema eine große Zugkraft aus, freilich nicht in der erhofften Weise. Die Studenten witterten einen Angriff auf Gottes Wort. Das ist für das unwiedergeborene Herz allenthalben eine erfreuliche Aussicht, und so erschienen sie in großen Scharen. Ein gelehrter Doktor der Philosophie war gekommen, die Bibel gebührend zu zerpflücken. Da mußten sie dabei sein und ihren Beifall möglichst stürmisch kundtun.

Dr. Baedeker wurde bei seinem Erscheinen auf dem Katheder mit donnerndem Beifall begrüßt. Er forderte seine Zuhörer auf, einige Augenblicke ihr Haupt in stillem Gebet zu neigen. Man sah sich in starrem Erstaunen an! Der erste Teil seiner Ansprache ward mit einem sehr bezeichnenden Schweigen angehört. Die jungen Herren brauchten einige Zeit, um sich über die wirkliche Situation klar zu werden. Dann wurden sie unruhig, machten Lärm, stießen Beleidigungen aus, und die Versammlung ging mit gewaltigem Tumult auseinander. Ein riesiger Pöbelhaufe wartete draußen auf Dr. Baedekers Erscheinen vor dem Saale.

„Werft ihn in den See, wenn er sich blicken läßt“, erschollen erbitterte Rufe. Der Doktor ging hinter den Häusern herum, entzog sich so der Volkswut und erreichte ungefährdet seine Wohnung.

Am folgenden Sonnabend fragte er wieder um das Lokal an für den folgenden Tag. Es wurde verweigert.

„Wir vermieten zu solchem Zweck nicht, und wenn Sie doppelte Miete zahlten“, sagte der Besitzer.

Ein anderes Lokal in der Stadt zu mieten, gelang ihm ebensowenig. Wäre er ein Prediger des Unglaubens gewesen statt ein Evangelist, so wäre es ihm leicht geworden, einen Saal zu finden. Aber Dr. Baedeker ließ sich nicht abweisen. Er suchte die Vorsteher der Methodistenkapelle auf. Sie hatten schon von ihm gehört und gestatteten ihm gern, seine Versammlungen dort abzuhalten.

Der Doktor arbeitete bei diesem Aufenthalt ein ganzes Jahr lang in Zürich. Meist benutzte er ein Theater zu seinen Versammlungen. Gott ließ es seinen Feinden nicht zu, daß sie ihm im geringsten Schaden tun oder seinen furchtlosen Mut brechen durften. Er hat seitdem oft in Zürich geredet. An den Ufern des Sees, in den die Widersacher des Evangeliums ihn gern hätten versinken sehen, spürt man immer noch die Früchte seiner Arbeit.

Folgender Brief ist ein sehr bezeichnender Nachklang des eben erzählten Ereignisses:

Zürich V, 2. Dezember 1896.

„Lieber Freund!

Eben, da ich meinen Fuß auf fremden Boden setze, scheint meine Zeit gleich in Anspruch genommen durch fröhliches Zeugnis für den Herrn.

Bei der Ankunft in Paris war meine Zeit sofort besetzt und ganz ausgefüllt durch köstlichen Dienst für Jesum... Sonnabend morgen kam ich in Basel an, und meine guten Freunde ließen sich’s nicht nehmen, mir mit größter Liebe zu dienen! Man hatte Versammlungen an verschiedenen Orten vorbereitet; man sorgte für mich und führte mich herum, daß ich mir vorkam wie ein Blinder oder ein Kind, das jeder Sorge überhoben ist!

Ich halte meine Versammlungen hier in demselben großen Saale, den man mir einst zu einer zweiten Versammlung verweigerte. Jetzt wurde er mir kostenlos zur Verfügung gestellt! — Gestern Abend fand die erste Versammlung statt. Sie war sehr gut besucht, heute Nachmittag ist Bibelstunde, und so alle Tage bis zum Sonntag, heute spreche ich über ,Glauben und Leben’. Ich sende Euch ein Exemplar der Ankündigungen, damit Ihr mit mir für diese guten Aussichten Gott preisen könnt. Am Sonnabend hoffe ich nach Glarus zu gehen, in eine großartige Gebirgswelt. Aber ich habe kaum Zeit, nach diesen Bergen zu schauen! ...“

Gottes treue Hut ward ebenso bei einem Aufenthalt in Dresden offenbar. Der Doktor verkündigte täglich das Evangelium in einem Saal in Dresden-Altstadt, und die Versammlungen zogen allerlei rohes Volk an. Ein Baptistenprediger, der mit dem Herzen zu der Sache stand, kam und bot seinen Beistand an.

„Ich rechne für morgen abend fest auf Sie“, sagte der Doktor eines Abends nach Schluß der Versammlung zu ihm.

„Ich bin bereit, Ihnen nach Kräften zu dienen! Was gibt’s denn?“

„Wollen Sie morgen die Versammlung halten?“, sagte Baedeker.

,,Werden Sie denn nicht hier sein?“

„Einige Freunde haben mich gebeten, morgen Abend eine Versammlung auf einer Elbinsel zu leiten. Ich gehe nicht gern an einer offenen Tür vorbei und möchte wohl hin, wenn Sie mich hier vertreten wollen.“

„Mit Freuden!“

„Da haben Sie die Saalmiete für morgen abend. Der Wirt wohnt im Nebenhause.“

Dr. Baedeker begab sich zu der Versammlung auf der Insel, und der Baptistenprediger vertrat ihn, wie verabredet. Die Miete für den Saal wurde, wenn der Wirt das wünschte, jeden Abend nach der Versammlung bezahlt. So ging der Prediger auch diesmal nach dem Nebenhause. Als er das Geld abgegeben hatte, wollte er wieder in den Saal zurück, um nach Hause zu gehen.

„Das brauchen Sie nicht“, sagte der gefällige Wirt. „Sie kommen durch dies Seitengäßchen schneller nach Hause.“

Der Prediger dankte und ging heim.

Am folgenden Morgen suchte ein Polizist Dr. Baedeker auf.

„Sie sind gestern Abend nur mit genauer Not davongekommen, mein Herr!“ redete der Beamte ihn an.

„Das müssen Sie mir erklären“, erwiderte der Doktor erstaunt.

„Eine Rotte böswilliger Burschen hatte vor, Sie zu mißhandeln, wenn Sie nach Schluß der Versammlung den Saal verließen“, sagte jener. „Sie waren sehr erstaunt, als Sie nicht erschienen. Wie haben Sie es fertig gebracht, so zu verschwinden?“

„Ich war gar nicht in der Versammlung“, erwiderte der Doktor.

„Aber die Versammlung hat doch stattgefunden, und sie standen draußen auf der Lauer!“

„Der baptistische Geistliche hat meinen Platz eingenommen.“

„Ja, aber hätten sie ihn erwischt, wäre es ihm ebenso ergangen, wie konnte er so verschwinden?“

„Ich kann Ihnen nicht sagen, wie Gott ihn bewahrt hat, denn ich war ja nicht da“, erwiderte der Doktor freundlich.

„Ich sehe, Sie stehen unter gutem Schutze“, sagte der Beamte beim Hinausgehen.

Dr. Baedeker erfuhr später aus dem Munde des Predigers, wie Gott auf die oben beschriebene Weise ihn errettet hatte, und die beiden Diener Gottes vereinten sich zum Lobpreis Seiner bewahrenden Treue.

Der Doktor erzählte auch öfter die Geschichte eines Abenteuers, das ihm bei einem Besuche in Transkaukasien zugestoßen war. Er hatte eine Anzahl Versammlungen in einem fernen Armenierdorfe tief in den Bergen gehalten. Es war Ende Dezember. Die späte Jahreszeit, die schauerliche Einsamkeit der Gegend, die Gefahr plötzlich auftretender Schneestürme, welche die waghalsigen Reisenden geblendet und Pfade und Wegzeichen zugeweht hätten — alles zusammen machte die Reise wenig lockend für einen, der das Land kannte. Aber die Dörfler hatten ihn bei so mancher früheren Gelegenheit gedrängt, sie zu besuchen, ohne daß er ihren Wunsch zu erfüllen vermochte. So konnte er ihrer inständigen Bitte nicht länger widerstehen.

Es wurde für ihn ein denkwürdiger Weihnachtsmorgen, an dem er ihnen lebewohl sagte und sich mit seinem armenischen Übersetzer und Führer auf den Rückweg machte. Einige Brüder aus dem Dorfe begleiteten sie noch ein Stück, um ihnen den Weg zu weisen. Dann blieben auch sie zurück, und die beiden setzten ihren Marsch allein fort.

Ich weiß nicht mehr, wie lange sie in der weiten Einöde gewandert waren, als der Führer merkte, daß er die Richtung verloren hatte. Die Zeichen der heraufkommenden Nacht machten sich bereits bemerklich. Und wenn die Nacht kommt, so geschieht es in diesen Breiten ganz plötzlich. Da stand der Armenier endlich still und sagte:

„Ich kann nicht weiter. Ich bin ganz erschöpft, wir haben den Weg verloren und laufen in der Irre.“

„Siehst du nichts, was dir bekannt vorkommt? Nichts, was uns unseren Standort oder unsere Richtung angibt?“, erkundigte sich der Doktor.

„Ich habe vergebens nach einem Zeichen oder einer Wegmarke ausgeschaut! Wehe uns! Wir kommen bis zum Morgen um vor Kälte! In ein paar Minuten geht die Sonne unter.“

„Dann wollen wir hier am Fleck auf die Kniee gehen und unserem himmlischen Vater alles sagen.“

„Ach, ich Tor! Solch eine Reise zu wagen, in so unbekannter Gegend, zu solcher Zeit!“

„Gott kann für uns sorgen und uns leiten, wir wollen Ihn darum bitten.“

„Wir sind gewiß stundenweit von jeder menschlichen Wohnung, und mir werden die Beine so schwer. Ich sehe die Heimat nicht wieder!“

„Wenn du den Weg nicht kennst, Gott kennt ihn. Komm, höre auf zu jammern und laß uns beten!“

Schweigend knieten die beiden einige Minuten nebeneinander. Dann wandte der Doktor sein Antlitz gen Himmel und rief in seiner fröhlichen, vertrauensvollen Art Den an, auf den er mit solch triumphierendem Glauben sich verließ. „Vater, wir können nicht umkommen, denn wir sind allezeit in Deiner Hand und unter dem Schatten Deiner Flügel. Du kennst unseren Weg. Sende uns Hilfe in unserer Not und führe uns an einen sicheren Ort!“

Ein fernes Hundegebell unterbrach den Beter.

„Horch! da ist des Vaters Antwort“, rief der Doktor.

„Sein Name sei gelobt! Er hört und läßt uns nicht lange harren.“

Der willkommene Ton erfüllte den müden Führer mit neuer Kraft. Sie folgten der Richtung des Schalles und gelangten, als es vollkommen Nacht geworden war, in ein kleines Tartarenlager.

Die Überraschung der Tartaren beim Anblick der Ankömmlinge war natürlich groß.

„Wie kommt Ihr auf diesen Weg?“, fragten sie. „Wir bekommen hier herum im Dezember nie einen Reisenden zu sehen. Fürchtet Ihr Euch nicht vor den Schneestürmen?“

„Mein Meister, der mich hergeführt hat, vermag die Schneestürme so zu lenken, daß sie uns nicht schaden. Ihr seht, Er hat es wirklich getan, denn es ist kein Schnee gefallen.“

„Wer ist denn Euer Meister?“

„Der Herr Jesus.“

Und auf der Stelle tat er seinen Mund auf, um ihnen Jesum zu verkündigen. Sie waren Mohammedaner, aber sie hörten ihrem ehrwürdigen Gast aufmerksam zu. Er erzählte später, daß sie ihn und seinen Führer auf die bestmögliche Weise versorgten. Seine Christmahlzeit bestand an diesem Abend aus einem Stück gewöhnlichen schwarzen Brotes, wie es die Tartaren essen, und einem Granatapfel! Als er am folgenden Tage seiner Gattin nach Hause schrieb, berichtete er, wie er an die Feier in England gedacht habe; er sei sicher, daß niemand daheim sein Weihnachtsessen mit größerer Dankbarkeit und Freude im Herrn verzehrt habe, als er das seine. Am Morgen sandten die Tartaren mit großer Bereitwilligkeit jemand ein Stück weit mit, um sie auf den rechten Weg zu bringen.

Diese Erzählung des Doktors bringt mich auf eine andere ähnliche, die er auch einst anführte zum Beweis dafür, wie Gott errettet, wenn man Ihn anruft in der Not.

Dr. Baedeker redete einmal in Odessa in einem öffentlichen Saale. Sein Gegenstand war das Gebet.

„Gott hört uns, wenn wir zu Ihm schreien, wir dürfen dessen ganz gewiß sein. Er hat versprochen, Gebete zu erhören, und Er hat noch nie Sein Wort gebrochen.“ Gleich nach Schluß der Versammlung drängte sich ein Mann im Saale nach vorn und bat ums Wort.

„Herr“, sagte er, „was Sie heute abend gesagt haben über Gebetserhörung, das ist vollkommen wahr. Ich hatte eine fromme Mutter. Aber ihr Sohn war ein unwürdiger, böser Mensch. Ich ritt eines Tages zu Pferde über die Steppe, fern von der Heimat. Mein Pferd trat mit dem Fuß in ein Loch, stolperte und schleuderte mich vornüber, so daß ich ein Bein brach. Als ich wieder zu mir kam, sah ich zu meinem Schrecken mein Pferd in der Entfernung dahintraben. Da lag ich allein in der weiten Steppe! Soweit das Auge reichte, kein Haus, kein menschliches Wesen! Drohend stand mir der Tod vor Augen, und ich schauderte — Wölfe oder ein langsames Verhungern! In der tödlichen Erschöpfung Leibes und der Seele mußte ich an meiner Mutter Gott denken und schloß meine Augen zum Gebet.

,O Gott, wenn es einen gibt’, stöhnte ich, ,sei mir gnädig! Ich bin zu einem schaurigen Tode verdammt, wenn Du Dich nicht meiner erbarmen willst! Schicke mir Hilfe, rette mich, ich flehe zu Dir, mein Gott!’

Ein Tränenstrom schloß mir die Augen. Mein Denken versagte. Ich verlor fast die Besinnung vor Schrecken.

,Väterchen, was ist dir?’

Es war wirklich eine Menschenstimme, die in mein Ohr drang. Aber zuerst meinte ich, es müßte die Stimme Gottes sein. Ich öffnete meine nassen Augen in starrem Staunen, vor mir standen zwei Bauern und beugten sich mitleidig über mich.

,Wir müssen dem armen Menschen helfen’, sagten sie zu einander. ,Sieh, sein Bein ist verletzt — gebrochen!’

,Wie seid Ihr hierhergekommen?’ fragte ich noch immer verwundert.

,Wir rasteten drüben in der Wegspur, wir sahen dich fallen und eilten dir zu Hilfe.’

,Gott hat Euch geschickt’, mußte ich sagen.

,Ganz sicher. Du brauchst uns’, antworteten die Bauern, beugten ehrfürchtig das Haupt und schlugen nach ihrer Gewohnheit das Kreuz.

Mit äußerster Sorgfalt, weil ich bei jeder Bewegung fast ohnmächtig wurde, brachten die zwei mich zu ihrem Wohnort in der Steppe. Dort wurde ich wochenlang gepflegt, bis mein gebrochenes Bein wieder heil und stark war. Nach einer solchen Erfahrung wäre es vergebliche Mühe, mich überzeugen zu wollen, daß Gott keine Gebete erhört.“

Wie Gott den armenischen Christen Patwakan Tarajantz bei dem Massaker in Baku vor vier oder fünf Jahren errettete, liebte Dr. Baedeker besonders zu erzählen. Tarajantz war einer der brauchbarsten Begleiter und Übersetzer des Doktors. Er begleitete ihn auf seiner zweiten Durchquerung Asiens. Er war unschätzbar nicht nur durch seine schnelle und wirksame Übersetzung der Ansprachen, sondern auch durch sein sorgsames, verständiges und unermüdliches Achten auf des Doktors persönliche Bequemlichkeit und sein Wohlbefinden. Als die Gewalttaten gegen die Armenier begannen, war Tarajantz mit seiner Frau und einer Familie von zehn Kindern in seinem Hause in Baku. Aus dem Fenster übersah er die tobenden Scharen der Türken und Kurden. Er hörte ihre fanatischen Drohungen, wenn sie hin und her eilten bei der grausigen Arbeit des Brennens und Würgens. Der Himmel war gerötet von dem Schein brennender Häuser; haßerfüllte Rufe, Sterbens- und Schreckensschreie durchschnitten die Luft. Die Wütenden näherten sich langsam aber sicher seiner Wohnung. Sie nahmen die Straßen Haus bei Haus vor. In diesem Stadtviertel wohnten fast lauter Armenier. Auf alle herzbeweglichen Bitten um Mitleid nicht achtend, legten die Unmenschen Feuer an jedes Haus und weihten so die Insassen einem gräßlichen Tode. Es handelte sich nur um wenige Minuten, dann mußte die Reihe auch an Tarajantz und seine Familie kommen. Der arme Mensch brachte diese Minuten in ernstlichem Gebet vor Gott zu. Unterdessen wälzte sich die Menge näher heran. Die Angst war furchtbar. Nun waren sie an der Tür!

„Nieder mit den Armeniern! Tod den Armeniern! Verbrennt sie lebendig!“

Plötzlich verstummte das brüllende Geheul drunten auf der Straße. Ein baumstarker Russe hatte sich vor Tarajantz’ Tür aufgepflanzt.

„Bei diesem Nachbar habt ihr nichts zu suchen. Er ist ein guter Kerl. Er ist ganz anders als die übrigen. Marsch weiter!“

Und die lebendige Flutwelle eines wütenden Fanatismus gehorchte dem gebieterischen Wort. Sie setzte ihr teuflisches Werk an den Wohnungen umher fort. Von allen den armenischen Häusern dieses Bezirks war ein einziges nicht zur verkohlten Ruine geworden, unter der die Überreste unglücklicher Bewohner begraben lagen — das des Patwakan Tarajantz. Ein Jahr vor seinem Tode führte Dr. Baedeker den P. Tarajantz bei der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft ein. Der Name desselben erscheint im Jahresbericht der Gesellschaft für 1906. Er wurde unterstützt durch Überlassung einer Anzahl Heiliger Schriften zur Verteilung in Baku. Denen, die leicht seine Mörder hätten werden können, reicht er das Brot des ewigen Lebens dar.

Bei einem seiner Besuche im Kaukasus war Dr. Baedeker bei einem wohlhabenden Molokanen zu Gast, der einen Holzplatz besaß.

„Bitte, achten Sie darauf, von dem Holzplatz wegzubleiben“, sagte der Wirt. „Ich halte einen bissigen Hund dort. Es gibt hier herum soviel Diebsgesindel, daß ich den Hund anschaffen mußte, damit der Holzplatz nicht ganz ausgeplündert würde. Sind meine Leute da, so hält der Hund sich ruhig; aber sind sie fort, so ist es nicht geraten heranzukommen.“

Eines Tages vergaß der Doktor die Warnung und war schon halb über den Holzplatz, als er ein bösartiges Knurren vernahm. Er blickte sich um und sah das gewaltige Tier wütend auf sich losstürzen. Er begann zu laufen; aber er stolperte und schlug hart aufs Gesicht, dabei das Bein verletzend. Der Hund sauste heran, knurrte gereizt und beschnüffelte den daliegenden von Kopf bis zu Fuß. Des Doktors Herz wandte sich mit einem Gebet um Schutz zum Himmel. Das Knurren wurde schwächer und verstummte. Der Hund war ruhig zu seiner Hütte zurückgetrottet. Der Doktor richtete sich mühsam auf die Füße, denn er hatte eine Muskelzerrung erlitten, und humpelte dem Haufe zu, während das Tier aufmerksam, doch keineswegs feindlich seinen Bewegungen zuschaute.

Der Wirt und seine Familie erstaunten sehr, daß er so glücklich davongekommen war, denn das Tier zeigte kein Mitleid mit Fremden. Aber der Doktor dachte an Daniel und sagte zu sich selbst:

„Der Rachen eines Hundes ist ebensoleicht geschlossen wie dereinst die Löwenrachen. Gott sei gepriesen!“

Gott „fasset den Wind in Seine Hände“ und „bindet die Wasser in ein Kleid“ (Spr. 30, 4). Das war ein wichtiger Artikel seines Glaubensbekenntnisses. Er kam gewiß oft in die Lage, die Probe darauf zu machen, und war fest überzeugt von der Wahrheit. Eine solche Probe wird in seinen Briefen erwähnt. Es war auf seiner ersten Reise zwischen Sachalin und Japan. Bei der Landung in Hakodate (japanischer Hafen) hörte er von einem englischen Arzt, der dort im Hospital lag. Derselbe war einige Tage vorher gleichfalls von Sachalin gekommen. Aber er hatte auf der Reise Schiffbruch gelitten und bei der Rettung zwei Rippen gebrochen. Während Dr. Baedeker in Hakodate auf einen Dampfer nach Yokohama wartete, erhob sich an der Ostküste Japans ein schwerer Sturm. Es liefen Nachrichten über furchtbare Schiffsunfälle ein. Das Schwesterschiff des Bootes, auf dem er gekommen war, scheiterte, und alle Mann an Bord bis auf einen kamen um. Ebenso war ein türkisches Kriegsschiff, das in denselben Gewässern kreuzte, diesem Sturm zum Opfer gefallen. Das Gefühl tiefsten Dankes im Herzen, fuhr der Doktor aus dem Hafen von Hakodate nach Yokohama. Er durfte sehen, wie Gott den Sturm zur Stille verkehrt hatte, und daß der Stille Ozean wirklich das göttliche Wort vernommen: „Schweig und verstumme!“

Wenn Dr. Baedeker die erfahrenen Segnungen aufzählte, so stellte er den bewahrenden Schutz seines himmlischen Vaters stets mit obenan.

Geistliche Feindschaft und polizeilicher Eifer.

Dr. Baedeker besaß Klugheit und Takt genug, um sich auch in recht schwierigen Lagen zurecht zu helfen. An manchen Orten schenkte ihm die Polizei in der ersten Zeit ganz besondere Aufmerksamkeit. Er blieb ihr eben rätselhaft. Es war ihm ein ganz gewohnter Anblick, Polizeispione um den Eingang seines Hotels herumlungern zu sehen. An solchen Spionen war überhaupt in Rußland niemals Mangel. Sie folgten ihm auf den Straßen, sie mischten sich unter die Dienstboten der Häuser, in denen er zu Gast war. Alle 14 Tage berichteten sie ihren Vorgesetzten, was sie gehört und gesehen hatten. Welch eine Atmosphäre von Argwohn und Verstellung! Dr. Baedeker mußte oft unwillkürlich über ihre durchsichtigen Kniffe und Pfiffe lachen.

Als er noch wenig bekannt war, hatte er einst in Riga bereits einen Saal gemietet und die Versammlungsanzeigen verteilen lassen. Sehr bald suchten ihn die Polizeibeamten auf.

„Sie dürfen hier keine Versammlungen halten“, setzten sie ihm auseinander. „Ist Ihnen nicht bekannt, daß andere religiöse Veranstaltungen als die der Staatskirche aufs strengste untersagt sind?“

Der Doktor war verblüfft. Er dachte einige Augenblicke nach.

„Dürfte ich denn statt dessen einen Vortrag halten?“, fragte er.

„Dem steht nichts im Wege“, erwiderten die Beamten. „Vorträge sind nicht gesetzlich verboten.“

„Dann werde ich einen Vortrag halten!“, sagte der Doktor.

„Recht so!“, sagte der Polizeibeamte; „aber es darf dabei weder Gebet noch Gesang stattfinden.“

Die alten Anzeigen wurden überklebt mit der Ankündigung, daß an einem bestimmten Abend Dr. Baedeker aus England einen Vortrag über „Sünde und Erlösung“ halten werde. Der gewählte Abend schien so ungünstig wie möglich. Hagel, Schnee und dicke Finsternis ließen erwarten, daß nur wenige Zuhörer den Unbilden der Witterung trotzen würden. Zu Dr. Baedekers Erstaunen waren bei seiner Ankunft die Straßen durch alle möglichen Fuhrwerke gesperrt. Massen waren von weit her zusammengeströmt. Der Adel der Gegend war stark vertreten, aber ebenso auch die geringere Bevölkerung. Barone und Grafen saßen da mit ihren Damen, Familiengliedern und Dienstboten, unter Kaufleute und einfache Arbeiter gepreßt. Alle brannten darauf, die kostbaren Worte des Lebens zu hören, die uns so vertraut sind, aber ihnen ganz neu und göttlich deuchten. Einen Abend nach dem anderen wurden in jenem Stadtteil Versammlungen gehalten. Der Vortrag über „Sünde und Erlösung“ mußte immer aufs neue wiederholt werden. In einem Saale drängten sich 2000, in einem anderen 3000 Personen unter das Wort. Ein Freund des Redners übersetzte die Ansprachen ins Lettische, und viele sagten wie jener Polizeibeamte: „Recht so!“

Den erbittertsten Widerstand fand der Doktor bei der lutherischen Geistlichkeit. An manchen Orten entfaltete sie einen betrübenden Eifer, das Räderwerk der Staatsgesetze zur Vernichtung seiner Arbeit in Gang zu bringen. Man hätte ihn für einen Sämann der Verführung und Revolution halten können, für einen schlimmen Verderber des Volkes, statt für einen Boten des Erbarmens Gottes über die sünden- und sorgenvolle Menschheit, — so schnaubten sie gegen ihn mit Drohen und Morden. Leider begnügten sie sich auch nicht mit dem immerhin sauberen, wenn auch harten Mittel, Verbote, Verhaftsbefehle und Einkerkerung zu erwirken. Immer wieder wandten sie sich in verächtlicher Weise an die niedrigen Leidenschaften der Menge und versuchten durch Katzenmusik, Glockenläuten, ja durch direkte tätliche Angriffe seine segenbringende Arbeit unter dem Volke unmöglich zu machen. Der Herr beschützte ihn gnädig vor aller Gefahr und tat ihm wunderbar die Tür auf für seinen Dienst, auch an Orten, wo man es am wenigsten erwartet hätte. Aber trotzdem bleibt die Geschichte des Widerstandes und der Verfolgung, die er erdulden mußte, eine unerfreuliche Lektüre für jeden fein empfindenden Menschen. Wir geben dem Doktor selber das Wort.

„Die lutherischen Pastoren in Wasa (Gouvernement in Finnland) zeigten große Teilnahme. Sie scheinen aus einem anderen Holz geschnitzt als die baltischen Pastoren. Es ist klar, daß doch die lutherische Kirche als solche nicht gegen das freie Evangelium ist.“

Diese seine offene Anerkennung brüderlichen Interesses als Einleitung, wir kommen nun zu dem Bericht über einen Besuch in den baltischen Provinzen.

„Stockholm, den 27. Mai. — Es fehlt nicht an freundlichen Anfängen meiner Arbeit. Die Tage in der Bahn und auf der See brachten mir die notwendigen Ruhepausen. In St. Petersburg gab mir Graf S. Empfehlungsschreiben an den Gouverneur in Riga, den Polizeivorsteher in Mitau u.s.w. Aber darauf darf ich mich nicht verlassen. Mein einziger Verlaß muß jetzt der Herr sein. Bis hierher hat Er geholfen.

Jeder berichtet mir, daß in Reval (heute Tallin) kein Eingang sei. Aber ich bin nicht geneigt, das ohne weiteres für wahr zu nehmen. Die Menschen brauchen das Evangelium; und sie finden es nicht, weder in der lutherischen noch in der griechischen Kirche. Es wird mir nur schwer werden, von den Orten meiner Arbeit wieder weg zu kommen. Ich weiß, Du betest für mich, liebe Gattin, und viele andere mit Dir. Das ist mir ein großer Trost. Obwohl der Herr bis hierher mir die Türen aufgetan hat, kann ich mich nur mit Zittern freuen. Ich brauche Seine Führung Tag für Tag. Gestern gab der Herr Sein Wort mit vieler Kraft, und einige Seelen kamen zu Ihm.“

„Hark bei Reval, den 14. Juni. — Ich bin gut angekommen. Auf der Reise habe ich erquickend geschlafen. Ein Wagen, vier Pferde quer gespannt, erwartete mich auf dem Bahnhof.“

„20. Juni. Ich dachte, morgen Reval zu verlassen, da die Türen für mich wirklich fest verschlossen sind. Aber zu meiner großen Überraschung und Freude taten mir die ,Estnischen Brüder’ eine Tür auf. Sie ließen mich in ihrem Saal reden. Für gestern Nachmittag war eine zweite Versammlung angekündigt, aber der Pastor untersagte sie. Die armen Esten waren in großer Sorge, und ein Nachbar öffnete einen geräumigen Garten zu Versammlungen im Freien. Wir hatten gestern noch zwei Versammlungen, und für heute sind zwei Versammlungen am selben Ort um fünf und acht Uhr angekündigt.

Die lutherischen Pastoren haben noch nicht begriffen, daß das Evangelium dem Volke von jedem verkündigt werden kann, den Gott sendet. ,Wer es höret, der spreche: Komm!’ (Offenb. 22,17.) Nach ihrer Anschauung bleibt kein Raum für einen Arbeiter, der nicht von ihnen ordiniert ist. Die lieben Esten bitten und drängen mich, länger zu bleiben; aber ich fürchte mich, eine Gegenpartei zu bilden. Ich komme wohl wieder hierher. In Helsingfors übersetzten zwei Professoren von der Universität für mich. Hier in Reval kümmern sie sich nicht um mich. Nur die geringen Leute hören beglückt zu. Das hält einen in der Demut. Durch böse Gerüchte und gute Gerüchte predige das Wort!

Heute Nachmittag war eine große Versammlung, heute abend wird vielleicht eine noch größere stattfinden. Gott gab das Wort, und es war Segen zu spüren. Manche entschieden sich für den Herrn, Ihm sei Dank dafür! Morgen früh fünf Uhr denke ich nach Kerro zu fahren. Gott segne Dich, meine Liebe!“

„21. Juni (Postkarte). Mit knapper Not davon gekommen. Die lutherische Geistlichkeit sandte uns die Polizei auf den Hals, während an die 300 Personen in einem Garten waren, um das Evangelium zu hören. Der Gouverneur kassierte die Anzeige. Die teuren Brüder hier haben einen Strauß für die freie Verkündigung des Wortes ausgefochten. Die Esten wissen, was sie brauchen, und ich bin der Zuversicht, sie werden es trotz aller Opposition auch durchsetzen.“

„St. Petersburg, den 25. Juni. — Ich war einen ganzen Tag lang in Kerro und kam wohlbehalten heute früh hier an. ... Nachdem die Versammlung von der Polizei gesprengt worden war, mußte ich auf dem Amt erscheinen. Aber der Gouverneur hatte Ordre gegeben, keine Schritte zu unternehmen, und so konnte ich unbehelligt mich entfernen. Ich habe noch Hoffnung, nach Reval zurückzukehren. Es ist rührend zu sehen, wie die lieben Esten an einem hängen.

Ich suchte den Gouverneur auf. Er war sehr freundlich und sprach mehrmals aus, es freue ihn, meine Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich sagte ihm, er könne mich nicht hindern, das Evangelium zu verkündigen. Ich muß zeugen, solange ich Atem habe; und jeder hat ein Recht zu hören. Das Evangelium Christi ist so frei wie die Luft, die wir atmen. Er gab mir ganz recht, bat mich aber, jetzt nichts zu tun.“

Nun folgt ein erfreulicherer Bericht aus Livland.

„Riga, den 11. Juli. — Gestern hatte ich einen besetzten Tag. Die Esten strömten in Scharen zusammen. Ich hielt für sie drei Versammlungen mit Dolmetscher, und eine deutsche Versammlung noch dazu. Mit einem Dolmetscher zu reden gewährt Zeit zum Ausruhen, und ich fühle mich nicht übermüdet.

Morgen hoffe ich den Gouverneur zu besuchen und dahinter zu kommen, wieviel Freiheit hier gewährt wird. Es ist ein neuer Polizeichef hier, der mich abweisen könnte. Aber ich habe einen Brief vom Grafen S. an den Gouverneur und will sehen, was ich damit ausrichte.

Die Polizisten sind äußerst eifrig. Gestern folgten sie mir sogar in ein Privathaus, wo wir eine deutsche Versammlung hielten, und fragten nach meinem Paß. Es ist wahrhaft lächerlich.“

„12. Juli. — Eben komme ich vom Gouverneur. Er war freundlich und gab mir zu den Adressen, die ich schon besitze, einen Brief an den Kurator, so daß ich ohne Zweifel die Erlaubnis bekomme. Er gestattete mir auch, die Gefängnisse zu besuchen, und stellte mich deswegen dem Polizeichef vor. Gott sei gedankt für diese offene Tür! Morgen gehe ich in die Gefängnisse! Um ein Uhr kommt Fürstin M. zum Frühstück!“

Daran schließt sich ein wahres Idyll:

„Reval, Estland. — Obwohl die Pastoren mir wieder die Türen geschlossen haben, hat der Herr mit Macht andere aufgetan, direkt zum Herzen des lieben Volkes. Sie strömen zusammen, auch wenn die Versammlung erst wenige Stunden vorher angekündigt ist; denn es geht von Mund zu Mund, und so sind die Versammlungen gestopft voll. Die Esten haben lebhaft fühlende Herzen, und wenn man ihnen ein wenig Liebe zeigt, rührt man sie zu Tränen. Du kannst Dir denken, wie die wunderbare Botschaft vom Kreuz sie bewegt!

In einem Dorf am Strande hatten wir einen ordentlichen Auflauf von estnischen Bauern, von denen einige große Entfernungen zurückgelegt hatten. Die Versammlungen wurden unter großen Fichten gehalten, und Eichhörnchen hüpften ruhig uns zu Häupten umher, während wir den Herrn lobten. Es war wie ein Vorgeschmack des Friedens und des Glückes im tausendjährigen Reich. Ich denke, manche Seele durfte den Saum Seines Kleides anrühren, und die Kraft des Herrn ging ungeschwächt aus und heilte alle, so viele Ihn anrührten. Wir haben hier eine gesegnete Erntezeit, dem Herrn sei Dank!“ —

Derselbe Geist unduldsamen Widerstandes gegen jedes Streben nach Besserung der sittlichen und religiösen Lage des Volkes zeigte sich in Südrußland. Aus der Krim, die er oft auf seinen Evangelisationsreisen besuchte, berichtet er folgenden „Kampf und Strauß für Christum“:

„Sewastopol. Mein Rufen zum Herrn für die Tausende von Arbeitern in dieser Stadt ist nicht vergeblich gewesen. Morgen geht mein Dampfer nach Odessa ab. Ich hoffte heute zu fahren, aber der Herr hatte Arbeit für mich. Eine Kiste mit Neuen Testamenten und russischen Traktaten erreichte mich hier. Sie kam gerade zur rechten Zeit. Die Bücher auspacken und verteilen war eine Freude und Wonne. Das begierige Volk zog seines Weges voller Jubel über den neuen Besitz. Wie furchtbar schwer ist die Verantwortung, Soldaten, Seeleute und Tausende von Werftarbeitern ohne die Gelegenheit zum Hören des Wortes zu lassen. Sie sind ganz ihren eigenen Gedanken überliefert. Niemand sagt ihnen etwas Gutes, und da ist es kein Wunder, daß Unglaube und Nihilismus die Folge sind. Wie könnte es anders sein?

Die Stadt ist allenthalben geflaggt. Es ist staatlicher Feiertag. Ich bin sehr dankbar für die herrliche Gelegenheit, Testamente und russische Traktate zu verteilen — ganz ungehindert. Wie treulich führt uns der Herr auf dem Wege, den wir nicht kennen! Er segne die Saat reichlich, die an diesem Tage weithin ausgestreut ist! Ein lieber Engländer, der auf den Werften angestellt ist, leistet mir bei der Schriftenverteilung große Hilfe. Unter den Russen herrscht große Nachfrage nach dem Neuen Testament. Die vierhundert Stück, die ich ihm sandte, werden längst nicht genügen.

Eben hat der Polizeikommissar mich aufgesucht; er hat mich angewiesen, morgen früh um neun Uhr auf der Polizeistation zu erscheinen der Bücher wegen, die ich verteilt habe. Ich gebe dies nicht zur Post, bis ich das Ergebnis melden kann. —

Dem Herrn sei Dank, alles in Ordnung! Der Konsul hat mit dem Vizegouverneur gesprochen, und die Angelegenheit ist abgeschlossen. Die Bücher sind in großen Mengen verteilt worden — Saat gesäet für die Ewigkeit. Satan ist abgeschlagen. Er hat die Saat nicht hinwegraffen dürfen, ehe sie Wurzel schlagen und wachsen konnte. Ja, der Herr hat alles wohlgemacht! Ich habe meinen Paß zurückerhalten und kann daher mit dem Abenddampfer nach Odessa fahren!“

Wäre der Doktor nicht ein Ausländer gewesen, und hätte er nicht Empfehlungsschreiben aus den höchsten Kreisen St. Petersburgs aufzuweisen gehabt, er wäre wahrscheinlich kurzer Hand nach Sibirien geschickt worden, um dort seine Tage zu enden. Rußland, das die Gewissen seiner Untertanen knechtete und ihren Geist verfinsterte, indem es die Verbreitung des Wortes Gottes hinderte, hat unwissentlich eine Zeit voll Feuer und Blut heraufgeführt. Möchte Gott dies Unheil wenden!

In den Salons St. Petersburgs.

Wer kennt das „Sammetbuch“ Rußlands, die Barhatnaia Knega? Es ist ein geschichtlich wichtiges Buch, das auf dem Heroldsamt des Senats in St. Petersburg aufbewahrt und mit eifersüchtiger Sorgfalt gehütet wird. Es ist das alte genealogische Verzeichnis des russischen Adels. Es heißt „Sammetbuch,“ weil es äußerst prächtig in reichen roten Sammet gebunden ist. Welche Anstrengungen haben in vergangenen Generationen mächtige und reiche Familien es sich kosten lassen, damit ihr Name ins „Sammetbuch“ aufgenommen würde! Das war der höchste Gipfel des Ehrgeizes für einen russischen Aristokraten. Alle Hilfsmittel des Einflusses und der Intrigue am Hofe sind zu diesem Zweck in Bewegung gesetzt worden, und gewöhnlich — umsonst.

Doch es gibt ein noch auserwählteres und edleres Verzeichnis als das Sammetbuch. Und wenn während der letzten dreißig Jahre mancher Name in jenes irdische Buch eingetragen wurde, so auch in das himmlische, das „Lebensbuch des Lammes“. Als Lord Radstock seinen Freund Dr. Baedeker in einige der vornehmsten Familienzirkel St. Petersburgs einführte, fand der Doktor unter ihnen nicht wenige warmherzige, geistlich gesinnte, dem Herrn dargegebene Seelen. Sie empfingen den Doktor aufs allerherzlichste. Soweit es in ihren Kräften stand, unterstützten sie seine evangelisatorischen Unternehmungen. In einzelnen Fällen büßten sie ihre Treue gegen ihren Herrn mit der Ungnade des Kaisers und der Verbannung aus ihrem Heimatlande.

Die Feinde der evangelischen Wahrheit zögerten sogar nicht, auf einige wohlbekannte Fürstinnen — verwitwete Damen — mit Fingern zu zeigen, deren einziges Vergehen das des Daniel war, „daß sie achteten auf das Gebot ihres Gottes (Daniel 6).“ Man forderte ihre Verbannung. Auf diesem Punkte begegnete indes der „fromme“ Übereifer einer schroffen Abweisung des Zaren.

„Man lasse meine Witwen in Frieden!“, rief er aus. Hinfort nahmen sie ihre gläubigen Gäste bei sich auf, hielten Bibelbesprechstunden und Gebetstunden in ihren Salons, ohne daß jemand ihnen zu nahe treten durfte.

In dem Palais einer dieser adeligen Damen, Ihrer Hoheit der Fürstin Lieven, fanden Dr. Baedeker und Frau bei ihren vielfachen Besuchen in St. Petersburg gewöhnlich ein Heim.

„Ihr Zimmer ist schon bereit“, schrieb die Fürstin bei der Einladung, die Hauptstadt zu besuchen.

Er schreibt dann nach Hause:

„Wohlbehalten bin ich angekommen. Die teure Fürstin holte mich in ihrem Wagen ab und begrüßte mich aufs herzlichste. Ich war köstlich müde nach der langen Nachtfahrt. Aber ich hatte in der Stadt etwas zu besorgen, und um 6 Uhr aß ich mit Prinzeß M., die immer sehr gütig ist. Um 8.30 Uhr war Bibelbesprechung bei Fürstin G., und es war Mitternacht vorüber, als ich ins Bett kam. Heute morgen geht es mir, Gott sei Dank, gut. Sein Name sei gelobt!“

Am folgenden Tage schrieb er:

„Hättest Du die herzliche Begrüßung auf dem Bahnhof gesehen, Du hättest gewünscht mit daran teil zu haben. Aber Du hast Deinen vollen Teil an der Liebe unserer Freunde hier. Die Fürstin und Mr. S., der Bruder der Gräfin K., traf ich auf dem Bahnhof; und bei der Ankunft im Hause begrüßten mich Fürstin G. und ihre fünf Kinder aufs herzlichste.

„Es ist ganz herrlich, wie der Herr Sein Werk hier fortführt, und wie die Christen einander lieben! Ich habe auch ein großes Teil von ihrer Zuneigung abbekommen. Alle hier sind wohl und fröhlich. Wilhelm, der erste Diener, ist gegangen, und ein Russe, der letztes Jahr seines Glaubens wegen entlassen wurde, hat seine Stelle bekommen. Das Wetter ist herrlich, strahlend heller Himmel bei Nacht und sonnige Tage. Vergangene Nacht sahen die Lichter am Newaufer prächtig aus. Der Kaiser ist jetzt in Gatschina.“

Der Raum, den Dr. Baedeker im Hause der Fürstin Lieven gewöhnlich bewohnte, hieß die Malachitkammer wegen des herrlichen Kaminsimses, der Säulen und Leisten aus Malachit, die das Gemach schmücken. Dies war das „Prophetenstübchen“, und manche ehrwürdige Diener Gottes haben die Gastfreundschaft der edlen Hauswirtin in diesem Raum genossen, unter anderen auch Georg Müller und seine Frau. In dem geräumigen weißen Salon fanden gewöhnlich die Versammlungen statt, und es waren ganz gewiß „Zeiten der Erquickung vor dem Angesicht des Herrn“. Übrigens besuchte der Doktor auf einer seiner Reisen nach Sibirien die Malachitbrüche- oder Bergwerke, aus denen der Marmorschmuck seines Zimmers stammte. Sie liegen bei Jekaterinburg am Ostabhange des Ural. Die Arbeiter waren damals eifrig mit dem Schneiden und Polieren einiger Vasen für den Kaiser beschäftigt. Der harte, grüne, aufs zarteste geäderte Stein ist im polierten Zustande einzig schön.

Durch die Güte der Fürstin bekommen die Leser dieses Buches ein Bild von ihr selbst und ihrer Familie zu sehen. Sie ist umgeben von ihren Söhnen Fürst Anatol, Fürst Paul, und ihren Töchtern Prinzeß Mary, Alicia und Sophie. Prinzeß Mary widmete sich während des jüngsten traurigen Krieges mit hingebendem Eifer der Verwundetenpflege in den Hospitälern von Mandschuria. Die Herzen der Christen Rußlands sind voll Teilnahme für Fürstin Lieven und ihr Haus wegen der schrecklichen Heimsuchung, die sie im letzten Januar getroffen hat. Prinzeß Mary ist in Lausanne an den Folgen eines traurigen Unglücksfalles gestorben. Auf ihrem Totenbett streckte die liebe Jungfrau die Arme aus und sagte fröhlich: „Jesus ruft mich!“ Das waren ihre letzten Worte, ehe sie vor Seinem Angesicht erscheinen durfte. Gott der Herr trage die teuren Freunde mit Seinem ewigen Trost in ihrem schweren Verlust!

Graf Bobrinsky wurde bereits genannt. Seine Bekehrung zu Gott war die Folge einer gelegentlichen Unterhaltung mit Lord Radstock. Er hatte im Krimkriege ein wichtiges Kommando. Damals bekam er einen Typhusanfall. Seine Krankheit brachte ihn zum Nachdenken. Er begann die Wahrheit und Gott zu suchen. Zwanzig Jahre lang rief er den „unbekannten Gott“ an. Dann kam für ihn die herrliche Stunde der Erleuchtung, und es folgten zwanzig Jahre der Hingabe und des Dienstes bis zu seinem Heimgange. Er hielt sein Haus für das Studium des Wortes Gottes und das Gebet offen. Jeden Sonnabend um 8 Uhr abends wurden gleichzeitig zwei Versammlungen gehalten, eine für die Jugend und eine für die Erwachsenen. Sie schlossen nach russischer Sitte mit einem gemeinsamen Teetrinken um elf Uhr. Gewöhnlich brach die Versammlung dann erst in den frühen Morgenstunden auf. Der Doktor und seine Frau geben lebendige Schilderungen des Verlaufs dieser Zusammenkünfte. Am auffälligsten dabei ist für uns die Bemerkung, nach der Ansprache habe man aus allen Teilen des Saales einen eigentümlich schabenden Laut gehört — und einen Schwefelgeruch verspürt! Was war das? Die Damen zündeten nur die Streichhölzer für ihre Zigaretten an, als Vorbereitung zu einer Unterhaltung über die Ansprache, die man soeben gehört. Das war Landessitte. Graf Bobrinsky fühlte aber doch, daß die Themata und Interessen der Versammlung eigentlich zu heilig waren, um sie mit Tabaksduft zu vermengen. Darum bat er seine werten Gäste, sich darin Selbstverleugnung aufzulegen. Sein Vorschlag ward allgemein angenommen. Nur eine alte Gräfin protestierte kläglich: Sie sei zu alt, um ihre kleine Schwäche zu opfern. So erhielt sie die Erlaubnis, nach Herzensbegehr schaben und schmauchen zu dürfen.

Eine bemerkenswerte Bekehrung infolge solcher Salonversammlungen war die des Obersten P. Seine Gattin ward zuerst zum Herrn geführt und öffnete wie die übrigen ihren Salon für Versammlungen. Ihr Gemahl verschwand aus St. Petersburg, um die Zusammenkünfte der Christen zu meiden, und verbarg sich für zwei Monate auf einem seiner Güter. Dann sagte er sich: „Ich kehre nach St. Petersburg zurück. Die Versammlungen sind jetzt gewiß vorbei. Ich bin also ganz sicher.“ Auf der Treppe seines Hauses in der Hauptstadt begrüßten ihn zu seiner Überraschung Fremde und Bekannte. Auch sie traten ein. Was ging da vor? Zu seinem Ärger mußte er erfahren, daß in seinem Salon eben eine Versammlung gehalten werden solle. Da gab’s kein Entrinnen. Er mußte teilnehmen und seine Gäste begrüßen. Am Schlusse der Versammlung lag der tapfere Oberst auf den Knieen. „Es war, als ob ein himmlischer Strahl meine Brust durchdränge“, erklärte er später. „Ich stand von meinen Knieen auf, eilte in mein Schlafzimmer und übergab mich meinem Gott.“

Die Tore der Landhäuser des russischen Adels standen Dr. Baedeker allerwärts offen. Er war aber keineswegs auf Einladungen aus, wenn er nicht dabei Gelegenheit fand, für seinen göttlichen Meister zu arbeiten. Er spricht sich darüber gelegentlich aus:

„Ich war einige Tage bei Baron S. und seiner Gattin. Er ist mit Fürstin X. befreundet und bat mich dringend um einen Besuch. Genußsüchtigen Landadel zu besuchen ist nichts für mich. Lieber trocken Brot und Arbeit für den Heiland, als Feste und Genuß, ohne die Hände zu rühren! Hier ist mir tatsächlich nirgend eine Tür aufgetan. Aber der Herr hat begonnen, unter dem Volke zu arbeiten, und ich bin dankbar, daß ich dafür beten darf.“

Das gleiche entschiedene „Nur einem will ich leben“ zeigt sich in seinen Bemerkungen über eine Hochzeit, zu der er eingeladen war, und bei der er ein werter Gast gewesen wäre. Er schreibt seiner Frau:

„Diesen Morgen schrieb ich dem Baron und seinen Schwestern. Dein Brief bestärkt mich in meiner Entscheidung. Ich habe ihnen mitgeteilt, daß ich mich freuen würde, an der Hochzeit teilzunehmen, falls sie am 12. oder 13. stattfände. Aber ich müsse um Entschuldigung bitten, wenn sie bis zum Ende des Monats verschoben würde. Ich kann nicht Zeit opfern, die von entscheidender Bedeutung für etliche arme Gefangene sein könnte. Am 15. muß ich in Rußland sein.“

Das ist eine treffliche Umkehrung des Gleichnisses von der Hochzeit des Königs und den Entschuldigungen der Gäste. Das Verlangen des hochgebornen Bräutigams und der adeligen Braut mußte zurückstehen vor dem Seufzen der Gefangenen und dem gebieterischen Ruf der Pflicht.

In Verbindung mit den Salonversammlungen und aus ihnen erwuchs das System der seelsorgerlichen Gespräche mit suchenden und anderen Seelen. Es war besonders gesegnet. Auszüge aus einigen Briefen werden eine Vorstellung davon geben, welche Gelegenheiten zum Dienst ihm Gott gab und zwar in Kreisen, die dem Evangelisten sonst nicht erreichbar sind.

„St. Petersburg. — heute ist Kaisers Geburtstag, mein letzter Tag hier. Morgen denke ich nach Berlin zu fahren. Mein beabsichtigter Besuch bei der Großfürstin kam nicht zu stande. Sie war zur Kaiserin gebeten. Aber gestern ging ich auf ihren Wunsch zu ihr und hatte ein langes Gespräch mit ihr, das sie sehr zu fesseln schien. Arme, unglückliche Frau! Sie strömte ihre Klagen vor mir aus! . . . Ich durfte sehr freimütig zu ihr reden und auf ihre Bitte mit ihr beten. Die Unterredung dauerte über eine Stunde.

Ebenso befand ich mich sehr wohl mit dem ... Gesandten. Beide zeigten viel Teilnahme, nicht minder der anwesende General W. Meine Zeit war gut ausgefüllt. Jetzt habe ich eine deutsche Versammlung in H. und später eine in dem weißen Salon unseres Hauses. Den Kindern allen geht es gut, aber die Fürstin selbst ist leidend. Gräfin S. läßt sich Dir ganz besonders empfehlen, und ebenso viele andere. Der junge Fürst L. ist mir als Übersetzer eine große Hilfe gewesen. Er ist Marineoffizier und hat sich ganz für den Herrn entschieden.

Ich wurde unterbrochen und zu dem ... Gesandten gerufen. Er scheint bekümmert um sein Seelenheil und die religiöse Erziehung seiner Kinder.

Gestern hatten wir schöne Versammlungen. Mehrere fanden Hilfe und Segen. Die Großfürstin sandte mir eine eilige Botschaft, ich möchte ihr heute von vier bis fünf eine Stunde widmen. So habe ich mich entschlossen, an einem späteren Tage abzufahren. Es sind auch noch andere da, die mich zu sprechen wünschen. Das ist ein fruchtbares Feld für stille, stetige Arbeit; soviel suchende Seelen, und kein einziger, der ihnen deutlich den Weg zeigt!

Mein Besuch beim Grafen F. verlief unbefriedigend. Er gibt sich immer für einen Gläubigen aus, aber man fühlt, da ist kein fester Grund und keine wirkliche Abkehr von der Sünde. Die Gräfin gab mir eine Empfehlung an Gräfin W. mit. Ich sprach bei ihr vor und hatte eine lange, interessante Unterhaltung mit ihr. Ihr Gemahl hat bei Hofe großen Einfluß, und sie selbst ist eine weitherzige, treue Christin, die viel Gutes tut.

Die teuren Freunde hier sind äußerst liebenswürdig und freundlich. Zu meiner großen Überraschung kam Fürstin F. von ihrer Inselwohnung auch hierher. Sie hat eine innere Not und hat zu Priester Johann nach Kronstadt geschickt, damit er über ihr bete. Du weißt, daß sie in der griechischen Kirche geblieben ist. Trotzdem ist sie eine freundliche, liebe Schwester im Herrn. Graf und Gräfin B. sind hier. Ich suchte sie auf, und der Graf machte mir heute morgen einen Gegenbesuch. Ich versuchte einen Brief zu schreiben, aber dabei hat man hier mit mancherlei Schwierigkeiten zu Kämpfen. Eben hat der dritte Besucher mich verlassen; um 3 Uhr werde ich Gräfin F. hier haben. Alle erkundigen sich angelegentlich nach Dir. Fürstin G. hat Dich viel in Gedanken.

Gestern kam ein Bruder in unsere Gebetsversammlung, der 8 Monate im Gefängnis gelegen hat. Er sagte, der Herr habe ihn während seiner Gefangenschaft mehr gesegnet, als er aussprechen könne. Nächsten Sonntag bin ich um die Predigt in der amerikanischen Kapelle gebeten worden. Gestern war ich sehr besetzt am Nachmittag und Abend. Das Werk des Herrn wächst in die Tiefe und in die Breite. Gepriesen sei Sein heiliger Name!“

Zum Teil ward die glücklich geborgene Ernte schon in die himmlischen Scheuern gesammelt, um in der heiligen Stadt, deren Leuchte das Lamm ist, die triumphierende Ankunft des Doktors zu erwarten. So schreibt er z. B.:

„Der teure Baron H. hat den jüngsten seiner beiden übriggebliebenen Söhne verloren. Einer starb im letzten Winter, und jetzt ist sein Bruder heimgegangen. Er war strahlend glücklich in seinem Heilande. Als ich dort war, hatten er und sein Bruder viele Fragen an mich, und die Entschiedenheit des jüngeren machte mir großen Eindruck. Sein Herz stand danach, ein Diener des Herrn zu sein, und er nahm jedes Gotteswort begierig auf. Jetzt ist er im Thronsaal des Königs, und alle seine Fragen finden vollauf Antwort. Baron H. schreibt, wie nur ein Mann Gottes schreiben kann. Er und seine teure Gattin schauen hinauf und hinaus über des Lebens wechselnd Bilderspiel.“

Das Folgende berichtet ein bezeichnendes russisches Erlebnis.

„Hier bin ich bei Gräfin B. Sie hat ein schönes Landhaus. Ihr Sohn, Graf S., suchte mich auf und redete mir zu, hierherzukommen. Auf der Herfahrt von der Station schlug der Schlitten in einer Schneewehe um. Ich fiel mit dem Baron in den Schnee, und alles Gepäck mir auf den Kopf. Aber wir blieben unversehrt, und bald war alles wieder in Ordnung gebracht.

Gestern besuchten wir Gräfin K. Sie ist auch eine Christin und wohnt mit ihren beiden jungen Töchtern acht Kilometer von hier. Wir fuhren im Schlitten, Gräfin B. und ich in einem von vier schönen Pferden gezogenen, und hinter uns Graf S. und Gemahlin zweispännig. Da das ganze Land, Weg und Steg, schneebedeckt war, so sandte Gräfin K. zwei Berittene, die uns den Weg zeigen sollten. So war’s ein ganzer Aufzug.

Im Gefängnis war die Aufmerksamkeit und der Eifer ganz rührend. Die Insassen waren so dankbar für die Neuen Testamente; es waren nur leider keine für die Tartaren da. Auch für die Russen in der Stadt hielt ich zwei Versammlungen. Der Saal war dicht gefüllt, und der Herr gab Seinem Wort kräftigen Eingang.“

Ähnlich heißt es aus St. Petersburg:

„In Reval wurde es mir gestattet, zwei Versammlungen im Börsensaale abzuhalten, der jedesmal von einer gespannt lauschenden Hörerschaft dicht gefüllt war. Du kannst Dir’s nicht vorstellen, welche Freude es ist, hungrigen Seelen das Brot brechen zu dürfen.

Am Freitag besuchte ich meine teure Freundin Baronin Uexküll. Einige Nachbarn waren auf mich hin eingeladen. Dazu kamen die estnischen Bauern an zwei Abenden, um eine Ansprache in Übersetzung zu hören. Wir hatten gesegnete Gemeinschaft am Worte. Gestern fuhren wir mit fröhlichem Schellengeklingel durch tiefen Schnee zum Besuche eines meiner geistlichen Kinder, das mir sehr teuer ist, aber zurückgegangen war. Der gute Hirte hat Sein verlorenes Kind gesucht und gefunden, und es war mir eine große Freude, ihre neue Entschiedenheit zu sehen. Ich aß mit ihr und ihrem Gatten und sah ihre drei Kinder, die mir das Gesicht streichelten.

Jetzt bin ich wohlbehalten in einem behaglichen Quartier bei Fürstin Lieven. Meine Tage werden recht besetzt sein.“

Ein Beweis für die zarte Sorgfalt der St. Petersburger Freunde für den Doktor ist die Geschichte von seinem Pelzmantel. Abgezehrt und geschwächt durch häufig wiederkehrende Fieberanfälle, niedergedrückt durch ein Gefühl abnehmender Lebenskraft und durch die aufregenden Szenen, die er bei seinen Gefängnisbesuchen im Kaukasus erlebt, kam er in St. Petersburg in seiner Wohnung im Palais der Fürstin Lieven an. Er schreibt:

„Es ist eine rechte Erquickung, wieder einmal strahlende Gesichter zu sehen, und zu hören, wie das Werk des Herrn fortgeht. Ich genieße die Ausspannung, werde schnell kräftiger und überwinde die Nachwirkungen des Fiebers. Du weißt, wie gut ich hier versorgt bin. Die gütige Fürstin schlägt vor, Du sollest kommen und hier bleiben, und ich solle ihr Haus zum Stützpunkt meiner Reisen machen.

Heute abend sagte die Fürstin ganz vertraulich, sie möchte mir gern einen neuen Pelzmantel geben. Ich sagte ihr, ich habe keinen nötig.“

Aber Fürstinnen, die einmal einen edelmütigen Entschluß gefaßt haben, lassen sich nicht so leicht abweisen. Man redete wohl darüber, was man mit dem Pelz machen könne, den der Doktor trug — ein schöner Sealskin, ein Geschenk von Oberst Paschkoff — um ihn noch bequemer zu machen und wirksamer gegen die Unbilden des russischen Winters. Aber die Fürstin tat ruhig ihren Entschluß kund, für einen besseren zu sorgen. Was mit dem alten Pelzmantel geschah, nachdem er dem Doktor entrissen worden war, davon schweigt die Geschichte. Aber nach wenig Tagen ward ein prächtiger neuer Pelz aus schwarzem Bärenfell mit einer Kamtschatka-Bibermütze sein Eigentum.

Der Doktor schreibt dazu: „Ist nicht das alles wunderbar gut vom Herrn! Er segne sie je mehr und mehr!“

Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, eine andere hübsche kleine Geschichte einzuschalten zum Troste der Jugend, welche die Schrecken eines Examens zu bestehen hat. Gott gebe allen einen solchen Erfolg und solche innere Stellung dabei wie dem jungen Fürsten Paul!

„Die beiden Söhne der Fürstin haben mit ihrem Lehrer eine Reise angetreten. Sie sind gutgeartete Knaben und machen ihrem Namen Ehre. Der zweite, Fürst Paul, legte vor Lehrern und Professoren ein herrliches Zeugnis ab. Als das Examensresultat bekannt gegeben wurde, und man ihm sagte, er habe bestanden und gut bestanden, und ihm eine Anerkennung aussprach, erwiderte er vor aller Ohren: ,Mir gebührt kein Lob. Ich habe zum Herrn gebetet. Er hat alles getan!’ Er ging mit völliger Ruhe ins Examen und versicherte seiner Mutter, sie brauche keine Angst zu haben. Er war gewiß, der Herr würde ihm schon geben, wie und was er reden solle. Und Gott hat sich ihm gnädig erwiesen.“

Eine Höllenfahrt.

Die furchtbare Lage der russischen und zumal der sibirischen Gefangenen ist von anderen Schriftstellern, besonders Russen und Amerikanern, zur Genüge geschildert worden. Es ist nicht meine Aufgabe, durch Anführung ihrer Worte meinen Zuhörern das Herz schwer zu machen und ihre Phantasie zu beflecken. Da vereinigen sich eine tierische Roheit, die von dem Anstand der Zivilisation nichts weiß, ein übermächtiger Gestank, Ungezieferschwärme, Lärm und unaufhörliche Unruhe Tag und Nacht, gefühllose Wächter, fürchterliche Überfüllung, Krankheiten, die schweren Ketten — alles miteinander schafft eine Hölle auf Erden, in der viele tausend unserer Mitmenschen verdammt sind, ihr Leben hinzubringen. Was muß das für Männer — und erst recht für Frauen — von höherer Bildung und feinerer Empfindung bedeuten! Bedenkt man zu den physischen Qualen das gänzliche Fehlen aller sittlichen Schranken, die Offenbarung zügelloser Leidenschaften in gemeinen Redensarten und aufsässigem Betragen, die Unmöglichkeit, auch nur für einen Augenblick sich den „Teufeln in Menschengestalt“ (wie Dr. Baedeker selbst sie nennt,) zu entziehen, mit denen man für Tag und Nacht zusammengesprochen ist, — so wird man zugeben, daß die Einbildungskraft sich vergebens diese Höllenorte vorzustellen sucht. Dr. Baedeker berichtet mit Dank, daß die russische Regierung große Verbesserungen eingeführt habe. „Aber“, sagt er dann, „Rußland ist unendlich groß, größer als ganz Afrika, größer als die Vereinigten Staaten und Kanada, und die Mißgriffe von Jahrhunderten sind in einem Jahre nicht wett gemacht.“

Denken wir uns hinein in diesen Höllenschlund menschlichen Elends, menschlicher Pein und Verzweiflung! Die unglückseligen Dulder sind Verbrecher, gewiß. Aber ihre Vergehen gegen die Gesetze ihres Landes und Gottes gehören der Vergangenheit an. Ihre stumme, zitternde Qual ist nur zu sehr Gegenwart, eine lang hingezögerte Todesangst. Der Mann, der nur wenige Tropfen menschlicher Sympathie und göttlichen Mitleids nimmt, um diese Pein zu kühlen, ist in Wahrheit ein Engel Gottes. Als der Doktor im Jahre 1889 zuerst über den Ural ging und Sibirien kennen lernte, berichtete er seine Eindrücke in einem Brief nach Hause, den er auf dem Dampfer „Fortuna“ auf dem mächtigen Obistrom zwischen Tomsk und Tobolsk schrieb. Sein Begleiter und Dolmetscher auf dieser Reise war Graf Scherbini. Er schreibt:

„Wir schwimmen wieder auf dem Wasser. Es geht nach Tobolsk, das wir etwa in einer Woche erreichen mögen. Die Gefängnisse in Tomsk sind einfach schauerlich. Sie spotten jeder Beschreibung und Vorstellung. Die Zahl der Gefangenen ist für einige Zeit im Wachsen. Jede Woche kommt aus Europa ein Transport von 600 oder 800 Köpfen; und 300—400 gehen nach dem Osten ab. Es gibt hier drei Gefängnisse: eins, in dem Strafarbeit geleistet wird, mit etwa 300 Insassen; das zweite, in dem die Gefangenen für längere Zeit inhaftiert werden, 1600 oder 1700 Köpfe fassend; und dann das schlechteste von allen, mit 3400 Insassen, in 16 hölzernen Schuppen, so daß in jeden 200 oder mehr hineingepfercht sind. Bei schönem Wetter wandern sie im Hofe herum. Da zeigt sich dann stets ein buntes Gemisch aller Nationalitäten: Russen, Juden, Deutsche, Esten, Letten, Finnen, Georgier, Tartaren, Kirgisen, Perser u.s.w., darunter auch Weiber und Kinder. Das Herz blutet einem, wenn man kleine Kinder ihren mit schweren Ketten belasteten Vater zärtlich umarmen sieht; oder wenn Mütter kommen mit drei oder vier Kindern, alle kränklich aussehend, weil sie jedem Wetter und der Not preisgegeben sind. Die Luft unter solcher Volksmenge ist einfach Gift. Aber man sagte mir, im Sommer sei sie nicht so schlecht, wenn sie sich in der frischen Luft aufhalten können, wobei manche gar unter freiem Himmel nächtigen. Freilich, wenn Regen und Kälte beginnen, und sie in ihre Schuppen eingesperrt werden, dann erkranken sie und sterben in Massen hin.

Jedoch der schrecklichste der Schrecken ist das Krankenhaus, das wir gestern besuchten. Der leitende Arzt hat in 13 Jahren 16 mal Typhus gehabt. Es lagen über 250 Kranke darin. Einen großen Prozentsatz liefern die Kaukasier, die sich nur langsam akklimatisieren und furchtbar schnell sterben, wenn der Winter einsetzt. In den Sälen waren alle möglichen Krankheiten zusammengelegt: Typhus, Pocken, Durchfall, Schwindsucht, ganz abgesehen von leichteren und chronischen Leiden. Einige lagen im Flur auf Matratzen; einige hauchten gerade ihren letzten Seufzer aus, während wir durch die Säle gingen. Die Atmosphäre war verpestet, trotzdem die frische Luft durch Fenster und Türen Zutritt hatte. Manche Patienten lagen einfach auf dem grasbewachsenen Hofe.

Wir sahen einen Trupp von 300 Köpfen, der nach dem Osten marschierte. Die Beamten rieten, wir sollten ihnen zur ersten, etwa 35 Kilometer entfernten Etappe folgen. Wir taten es am nächsten Tage und brachen um 9 Uhr auf. Um 2 Uhr kamen wir auf der Etappe an. Wir sahen dort die 300 Mann nach ihrem ersten Tagesmarsch, und es war ein jammervoller Anblick: viele Leidende und Fußkranke, denen vom Marschieren in Ketten Beine und Füße geschwollen waren und eiterten. Sie hielten mich für einen Arzt und zeigten mir alle ihre Wunden. Ich durfte öfter frei zu ihnen reden: in dem großen Gefängnis, in einigen der Schuppen und in den Höfen, wo sie sich gesammelt hatten. Sie hörten dem Worte höchst aufmerksam zu, einige unter Tränen. Solche Versammlungen habe ich noch nie zu sehen bekommen, noch nie auch so eifrige Aufmerksamkeit und Dankbarkeit.

Nach der Rückkehr von der ersten Etappe gingen wir zum zweiten Male in das große Gefängnis und ins Krankenhaus. Während wir dort waren, war eine Frau entwichen; viele Beamte und Wächter suchten nach ihr. So hatten wir volle Freiheit und durften, ohne Unterbrechungen fürchten zu müssen, mit den Gefangenen reden, sowohl öffentlich im Hofe, als mehr privatim und persönlich durch das offene Fenster der Wachtstube, während die Menge draußen stand und allerlei Fragen an uns richtete.

Die Beamten waren alle sehr freundlich und hilfsbereit. Sie sind mit ihrer Weisheit am Ende und wissen nicht, was sie tun sollen. Der Gouverneur, den wir gestern besuchten, hatte nach St. Petersburg telegraphiert, die Gefängnisse seien überfüllt, man solle keine Transporte mehr senden. Aber St. Petersburg ist ,weit vom Schuß’; und es ist klar, daß der Pulsschlag Sibiriens in St. Petersburg nicht zu fühlen ist, obgleich die Behörden das asiatische so gut wie das europäische Rußland regieren wollen. Alle unsere Neuen Testamente und Bibelteile sind weggegeben bis auf wenige tartarische und persische Exemplare. Tomsk ist das schlechteste Gefängnis, das ich gesehen habe. Wenn nicht sofort Maßregeln getroffen werden, so steigt die Zahl der Gefangenen leicht auf 7000—8000. Sie entlaufen in großen Mengen. Man rechnet, daß in Sibirien etwa 50.000 entwichene Sträflinge leben. Nur wenige finden Arbeit und Brot. Die große Mehrzahl legt sich aufs Betteln und Stehlen, oder sie fristen jämmerlich ihr Dasein. Es ist einfach ein langsames Sterben, wozu sie verurteilt sind.

Selbst die freien Kolonisten sind wenig besser daran. Sie werden an unmöglichen Orten angesiedelt; und der furchtbare Paßzwang erschwert ihre Lage noch ganz unnötig. Es scheint für die armen Menschen keinen Ausweg zu geben. Möchte Gott das Herz des Kaisers rühren, daß er diesen gedrückten Leuten Freiheit gibt!

Ein armer, alter Mann, ein Pole, kam aufs Bureau, während wir dort waren, um eine Bittschrift zu übergeben. Der Schreiber schnauzte ihn furchtbar an. Ich beschwerte mich, worauf er sich beruhigte, freundlich mit dem Alten sprach und ihm die gesetzlichen Bestimmungen klar machte. Wir gaben dem Armen ein wenig Geld, um Tee zu kaufen. Du machst Dir keinen Begriff von dem furchtbaren Elend allenthalben. Es wäre ihnen ein Leichtes, sich zu erheben und die Freiheit zu gewinnen. Aber das würde einfach den Hungertod bedeuten. Jetzt bekommen sie wenigstens zu essen.

Der Herr ist uns wunderbar gnädig gewesen. Es geht mir recht gut, Scherbini auch. Wir gingen in die Gefängnisse und Krankenhäuser im Vertrauen auf Seinen Schutz. Ich habe den 91. Psalm als Wahrheit erfahren. Sein Name sei gelobt!

Der Dampfer ist gerade bei einem ostjakischen Fischplatz angerufen worden. Er soll große Mengen getrockneten und gesalzenen Fisch übernehmen. Wir sahen ein wenig vom Familienleben der Ostjaken. Ein Säugling lag in einer Holzkiste, die an einem Balken hing. Die Mutter saß mit einem anderen Weibe am Boden und nähte. Um die große Zehe der Mutter war eine Schnur gebunden, deren anderes Ende an der Wiege befestigt war, und so schaukelte sie das Kleine. Sie haben viel Ähnlichkeit mit den Eskimos. Gesichtszüge und Gestalt sind nicht gerade besonders ansprechend. Leider sind sie fähig, für geistige Getränke alles zu tun. Das ist ihr Fluch.

Dieser Reisetag auf dem Flußdampfer ist eintönig und ermüdend, aber ich benutze jede Gelegenheit zu einem Gespräch mit den Leuten an Bord.“ —

Unser Mitleid mit den Gefangenen und unser Schauder über ihr Geschick wird in den meisten Fällen durch den Gedanken beeinflußt werden, daß sie das Gesetz übertreten haben und mit Fug verurteilt wurden. Aber wenn nun Unschuldige zu diesem Schicksal, schlimmer als der Tod, verdammt worden sind?! Bei einer Rückreise den Obi hinunter fuhr auf dem Dampfer ein Ehepaar, mit denen der Doktor sich öfter unterhielt. Beide waren arg von Wind und Wetter mitgenommen und vor der Zeit gefurcht und gealtert. Es waren Verbannte, die nach Simferopol in der Krim zurückkehrten. Dr. Baedeker hatte keine geringe Mühe damit, sie in ein Gespräch zu ziehen. Ihre lange Einsamkeit und der Ausschluß von gebildetem Verkehr hatten sie in der Gesellschaft peinvoll scheu und furchtsam gemacht. Aber der Doktor kannte seit langem die seltene Kunst, Herzen zu erschließen und Vertrauen einzuflößen. Bald erzählte der Verbannte seine traurige Geschichte. Er war Ingenieur und hatte das Unglück, mit einigen Persönlichkeiten bekannt zu sein, die in die Verschwörung gegen Zar Alexander II. verwickelt waren. Die Mörder wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Er ward unter dem Verdacht der Mittäterschaft verhaftet. Aber man konnte nichts gegen ihn vorbringen, als daß einige der Verschworenen mit ihm bekannt waren, und daß er eine Druckerpresse besaß. Auf diese schweren Verbrechen hin ward er verurteilt. Zuerst wurde er in St. Petersburg 16 Monate lang in Einzelhaft gehalten und jede seiner Bewegungen bewacht. Er durfte kein Wort sprechen. Als diese furchtbare Prüfung zu Ende war, begann der Etappentransport nach Irkutsk in Sibirien. Jeden Schritt der schrecklichen Reise legte er in Ketten zurück, ausgenommen die Fahrt auf dem Obi. Als diese zu Ende war, verschwand er in einem Gefängnis, wo er vier Jahre zubringen mußte. Sein treues Weib folgte ihm tapfer und erduldete auf dem Wege grausame Beschwerden. Nach diesen vier Jahren ward er in Freiheit gesetzt und erhielt die Erlaubnis, in einem Dörfchen nahe bei dem Gefängnisse sich niederzulassen. Dort fristete er mit seinem Weibe weitere sechs Jahre lang ein kümmerliches Dasein. Sie darbten sich den Bissen am Munde ab, um das Geld für die Rückreise nach Beendigung ihrer Verbannung zu sparen, falls ihr Gesuch um Rückkehr gewährt werden sollte. Der Kaiser war gnädig. Sie bekamen Erlaubnis zur Rückkehr, und die beiden gebräunten, furchtsamen, geschwächten Verbannten waren auf dem Heimwege nach dem teuren Ort, wo einst ihr Haus stand und ihre Freunde lebten — Simferopol, wo sie unter strenger Polizeiaufsicht den Rest ihrer Tage zubringen sollten. Natürlich waren ihre Aussichten für die Zukunft dahin, und sie mußten ihr Leben von neuem beginnen; aber ihre Herzen waren voll Jubels über die wiedergewonnene Freiheit. „Er sah aus wie ein innerlich ruhiger Mann“, sagte der Doktor. Und die Moral dieser Geschichte: Meide die Bekanntschaft jedes Menschen, der irgend jemand kennen könnte, der seinerseits imstande wäre, zu irgend jemand von der Ermordung eines Kaisers zu reden, bevor die Tat geschehen ist!

Das allerschrecklichste Schicksal hatten die Entwichenen. Es ist die größte Torheit, ein Entweichen zu versuchen. Dr. Baedeker spricht von einem Falle, den er erlebte. Ein Gefangener versuchte auszureißen. Die Wärter schienen so sorglos, und das Tor stand so verführerisch offen. Aber er hatte nicht mit den weiten Entfernungen, den menschenleeren Einöden, den erbarmungslosen Frösten und den Qualen des Hungers gerechnet. Er wurde wieder eingebracht mit erfrorenen Gliedern, die abgenommen werden mußten. Mit Hilfe von Krücken hätte er umher humpeln können, wenn er Hände besessen hätte, um die Krücken zu halten. So aber blieb ihm für den Rest seiner Tage nur ein mühsames Umherrutschen auf den schrägen Pritschen einer sibirischen Gefängniszelle.

Ein heller Lichtstrahl verklärte für Dr. Baedeker dies Tal der Todesschatten. Das war der ehrliche gute Wille und die echte Teilnahme, welche die Gefängnisbeamten, vom Direktor bis zum geringsten Wärter, seiner Arbeit entgegenbrachten. In einigen Gefängnissen stand der Direktor neben ihm, während er seine Ansprachen an die Gefangenen hielt, und legte ihnen am Schlusse ans Herz, ernstlich über das Gehörte nachzudenken. Meist war das überflüssig. Die Zuhörer waren schon selbst tief bewegt. Aber der Doktor freute sich sehr über die Teilnahme, die man seiner Arbeit bewies.

Auch außerhalb der Gefängnismauern empfing er viele ähnliche Beweise freundlichen Interesses.

„Ihre Arbeit wird sicher von großem Segen sein“, sagte ein General, ein Glied des Militärgerichtshofs, mit dem er auf dem Dampfer fuhr. „Gott gebe Ihnen guten Fortgang! Ich werde ernstlich für Sie beten!“

Selbst die Kutscher und die Fuhrleute, die seine großen Bücherkisten beförderten, leisteten ihm nach Kräften Hilfe, wenn sie erfuhren, was er wollte.

„Der Herr hat uns getragen auf Adlersflügeln, und Seine Güte ist allezeit mit uns gewesen auf dem Wege.“

Fischzüge in dunkler Flut.

Wir haben schon gesagt, daß Dr. Baedeker ein mächtiges Evangelium brauchte. Er mußte von einem Arme zeugen können, der den Geringsten erreichen kann, von einem Herzen, das den Allerunliebenswürdigsten zu lieben vermag, von einem Heil, das den Allerschlimmsten rettet. Die Erfahrung von vierzig Jahren hat bewiesen, daß seine Botschaft die rechte war.

„Ich tue manchen guten Fang in der dunkeln Flut des Gefängnisses“, schrieb er nach Hause. „Es ist ein herrlicher Dienst, Seine Botschaft von Saal zu Saal zu tragen und sie in Ohren zu senken, die so eifrig lauschen. Ich verhalte ihnen nichts. Aber ich erkläre offen, daß das Evangelium von der Gnade Gottes für alle Menschen ist. Niemand darf mir den Mund stopfen. Mit wenig Ausnahmen gewähren mir die Beamten jede Erleichterung; einige helfen mir wie Brüder. Der Ausdruck liebevoller Teilnahme bricht manchem verhärteten Gefangenen das Herz. Einer, der zum fünften Male bestraft ist, wurde ohnmächtig bei dem Zeugnis von Gottes Liebe zu den Sündern.“

Für einen Sträfling gab es in Rußland keine Aussicht mehr. Jedermann im Reiche mußte einen Paß besitzen und ihn auf Verlangen vorzeigen. Etwaige Strafen wurden in demselben vermerkt. Auch wenn der Paß schon ein Dutzend Mal erneuert war, so wurden die Vorstrafen, ob groß ober klein, stets auf den neuen Paß überschrieben. Solch ein armer Mensch konnte von seinen früheren Vergehen nie loskommen. Sie folgten seinen Spuren mit der grimmen Zähigkeit eines Bluthundes, bis er den einzigen wirklichen Zufluchtsort vor ihrem Drängen erreichte, das Grab.

„Einmal ein Verbrecher, für immer ein Verbrecher“, war der erbarmungslose Grundsatz, auf dem das furchtbare Paßsystem im Zarenreiche aufgebaut war.

In dem Gefängnisse von Krasnojarsk in Sibirien, wohin der Doktor auf seiner gewöhnlichen Rundreise kam, erhielt ein junger Sträfling den Auftrag, ihm zu helfen, die Kisten zu tragen und die Bibeln und Bibelteile auszupacken und aufzustellen, die an die Gefangenen verteilt werden sollten. Dr. Baedeker kam mit seinem Helfer in ein Gespräch. Die freimütige und liebenswürdige Art desselben zog ihn an.

„Es tut mir leid, einen so jungen Mann wie dich hier sehen zu müssen, wie ist das gekommen?“, fragte er teilnahmsvoll.

Das Gesicht des jungen Menschen verfinsterte sich.

„Es war die große Versuchung eines Augenblicks. Ich gab ihr nach. Ich gebe zu, daß ich sehr unrecht gehandelt habe und schäme mich sehr über mich selbst. Möchte Gott mir vergeben!“

„Was hast du verübt?“

„Brandstiftung.“

„War es dein eigenes Haus?“

„Jawohl!“

„Warum denn?“

„Der alte Köder! Die Versicherungssumme. Das Gold verlockte mich. Ich dachte, es würde nicht herauskommen.“

„Aber es ist herausgekommen.“

„Ja, und darum bin ich hier.“

„Gott hat deine Sünde ebensogut gesehen wie die irdischen Zeugen.“

„Das weiß ich wohl. Ich bereue aufrichtig. Ich habe offen bekannt. Möchte Er mir vergeben!“

„Er kann erretten, auch den tief Gefallenen. Das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Der Gottlose lasse von seinem Wege und bekehre sich, so wird Er reichlich vergeben.“

„Gottlob, das ist wahr ... Er wird reichlich vergeben! Ich habe meine Zeit beinahe abgesessen!“

„Das freut mich!“

„Ich will nach meiner Entlassung mit Gottes Hilfe ein neues Leben beginnen.“

„Wo bist du zu Hause?“

„Ich habe einen Bruder in angesehener Stellung bei der Regierung in den baltischen Provinzen. Sie werden nicht denken, daß ich aus guter Familie bin?“

„Aus guter Familie?“

„Jawohl! Von Adel. Mache ich nicht meinen Verwandten Unehre? Aber ich denke, meine Stellung und meinen guten Namen wieder zu gewinnen. Sie sollen mit Freude und Stolz auf mich blicken, wenn ich am Leben bleibe!“

„Sie sind noch jung. Sie haben das Leben vor sich. Sehen Sie zu, daß Sie es recht brauchen zur Ehre Gottes.“

„Das denke ich zu tun, wenn Er Gnade gibt“, sagte der junge Sträfling. Damit schieden sie.

Drei Jahre später besuchte Dr. Baedeker das große Gefängnis in Irkutsk am Baikalsee in Ostsibirien. Unter den ersten Gefangenen, die ihm ins Auge fielen, erkannte er den jungen Mann, mit dem er im Gefängnisse zu Krasnojarsk ein so vielversprechendes Gespräch gehabt. Der freundliche Glanz war von seinem Gesichte verschwunden. Seine Züge hatten einen harten, fast trotzigen Ausdruck angenommen. Als der Doktor an ihn herantrat, wandte er sich ab.

„Wie schmerzlich ist es mir, Sie hier zu sehen“, begann Dr. Baedeker.

„Bitte, lassen Sie mich!“

„Aber Sie können mir nicht verwehren, immer noch Ihr Freund zu sein. Wie sind Sie hierher gekommen?“

„Ich habe keinen Freund mehr auf Erden; auch im Himmel nicht.“

„Doch, im Himmel haben Sie noch einen Freund, komme was da will.“

„Gott weiß, wie ich trachtete, auf dem rechten Wege zu bleiben, als ich freigelassen wurde. Aber ich fand nirgend Hilfe. Niemand wollte mich anstellen. Jeder fragte nach meinem Paß. Das genügte. Meine Bekannten schlossen mir die Tür. Ich fand nicht einmal Speise für meinen nagenden Hunger. Ich wäre auf offener Straße vor Erschöpfung gestorben, wenn ich nicht für meine Wiederverhaftung gesorgt hätte. So sehen Sie mich hier. Der Leib ist gefangen, die Seele sitzt im Dunkel der Verzweiflung.“

„Dem Herrn Jesus kann man auch die Gefängnisse nicht zuschließen!“, sagte der Doktor mit einem gütigen Lächeln. „Er ist der Freund der Sünder, hier ist gerade der rechte Platz für Ihn, und Sie sind Sein Mann! Kopf hoch, lieber Freund! Wenn Menschen Ihnen Vergebung und Mitgefühl versagen, Er nicht! Und Er hat mich hierher gesandt, um Ihnen das zu sagen! Auf Ihrem himmlischen Paß steht keine Schuld mehr. Das Blut macht rein! Eurer Sünden und Missetaten will Ich nimmermehr gedenken!“

So träufelte der erprobte Samariter Öl und Wein göttlichen Trostes in die grausamen Herzenswunden des armen jungen Gefangenen. Sein irdisches Geschick konnte er freilich nicht wenden. Einst war er ein glänzender, hoffnungsvoller Vertreter der russischen Jugend gewesen, nun war das geknickte Rohr durch das harte Paßgesetz völlig zerbrochen, und ohne Erbarmen schlossen sich die Gefängnistüren hinter ihm für immer.

„Warum kommen Sie zu uns?“, fragten einige erstaunte Gefangene auf Sachalin den Doktor bei einem seiner Besuche auf dieser Insel der Verzweiflung. „Hier gibt es für uns keine Hoffnung!“

Mit Sachalin läßt sich im Umkreis unserer Zivilisation nichts vergleichen. Ein Menschenalter lang sandten die russischen Behörden die schlimmsten Verbrecher des Reiches nach dieser Insel voll Nebel und Eis. Mit Ketten belastet, auf Stirn und Wangen mit Eisen gebrannt, und in der größten Hälfte des Jahres von einer eisstarrenden See umgeben, hatten sie keine Aussicht auf ein Entrinnen, und ihre Existenz war ein Tod bei lebendigem Leibe.

„Warum kommen Sie zu uns? Hier ist ein Ort, wo es keine Hoffnung mehr gibt.“

„Steht es so“, antwortete er, „dann vergebt mir, daß ich zu euch nicht zu allererst gekommen bin. Ein Ort, wo es keine Hoffnung mehr gibt, ist der rechte Platz für die Botschaft vom Heil Gottes.“

Tränen rannen über die Wangen des treuen Dieners des Herrn, als er von Ihm erzählte, zu dem einst die Zöllner und Sünder sich nahten; der auch den vornehmsten der Sünder zu retten vermochte. Und die finsteren, verhärteten Halsabschneider in dieser sonst der Reue am wenigsten zugänglichen Strafkolonie des Zarenreiches lauschten in tiefem Sinnen auf den wunderbaren Klang der frohen Botschaft.

„Wenn ich mehr als ein Leben hätte“, sagte Dr. Baedeker bei einer Ansprache in Weston-Super-Mare, „ich würde sie alle zubringen, wie ich dies eine zugebracht habe. Ich würde die gute Botschaft von der großen Freude allen den Tausenden von unglücklichen, hoffnungslosen Menschen bringen, die ihr Leben lang in Finsternis und Schatten des Todes sitzen. Wir bequemen Engländer in unseren schönen, prächtigen Häusern, im Genuß unserer bürgerlichen Rechte, gesegnet vor allen Völkern mit der Verkündigung des Evangeliums, wir dürfen nicht denken, Gott habe uns allein lieb. Diese Haufen russischer Gefangener haben sicher auch ihren Anteil an der Barmherzigkeit des himmlischen Vaters und ihren Platz in den Fügungen Seiner unendlichen Gnade in Christo Jesu.“ -

„Was haben Sie in diesen Kisten?“ fragte barsch der Kapitän eines russischen Flußdampfers in den ersten Jahren seiner Arbeit.

„Bibeln und Testamente“, erwiderte der Doktor.

„Schöne Geschichte das!“, brummte der Kapitän, dessen Argwohn wohl Dynamit und Höllenmaschinen vermutete. „Was wollen Sie denn damit?“

„Ich will sie in den Gefängnissen zu X. und Y. verteilen.“

„Sie meinen: verkaufen? Sträflinge haben nicht viel Geld übrig.“

„Ich gebe sie umsonst. Sträflinge haben eine unsterbliche Seele.“

„Wie, Sie geben Ihre Bücher umsonst? Darf ich ein paar Kisten untersuchen?“

„So viele Sie wollen“, entgegnete der Doktor.

„He, du!“, rief der Kapitän einen Matrosen an, der dabei stand. „Öffne einmal diese Kisten, daß man sieht, was drinsteckt!“

Es geschah. Der Kapitän langte hinein und nahm eine einfach gebundene Bibel heraus. Er griff tiefer und durchwühlte den Inhalt bis auf den Boden. Bibeln, nichts als Bibeln!

„Öffne diese hier!“, rief er. Der Matrose gehorchte. Die Kiste ward aufs sorgfältigste durchsucht.

„Packe die Bücher wieder ein“, befahl er und ging seiner Wege. Bald stand er wieder vor dem Doktor.

„Herr, wer sind Sie?“ Der Doktor nannte seinen Namen und seine englische Adresse.

„Sagten Sie wirklich: aus England?“

„Jawohl.“

„Und Sie kommen nach Rußland, um unseren Gefangenen Bibeln zu geben?“

„Jawohl.“

„Natürlich werden Sie gut bezahlt.“

„Ich bekomme überhaupt keine Bezahlung.“

„Wer bezahlt denn Ihre Auslagen?“

„Ich bezahle meine Auslagen aus meiner eigenen Tasche.“

„Was tun Sie?“

„Ich bezahle meine Auslagen aus meiner eigenen Tasche!“

„Nun, das lasse ich mir gefallen! So einen soll man unter Millionen suchen! Ich wünschte, ich könnte Ihnen auf diesem Dampfer Freifahrt gewähren! Aber Sie sollen wenigstens keine einzige Kopeke für den Transport ihrer Kisten zahlen!“

Die einzigartige, selbstverleugnende Arbeit dieses Bahnbrechers des Evangeliums hat es den Nachfolgern in seinem Dienste leicht gemacht, zumal den Agenten der Britischen Bibelgesellschaft. Die Behörden waren im Sturm gewonnen. Hier war in der Tat „ein Mann unter Millionen“, ein Mann, der vor allen zuerst jede Ermutigung und Unterstützung fordern durfte. Es währte nicht lange, so hatte er nicht nur freien Zutritt zu allen Gefängnissen, sondern auch manche Vergünstigungen auf der Reise, besonders auf den Dampfern. Und diese Vergünstigungen sind auf seine Nachfolger übergegangen. „Kein einziges Dampfboot auf einem Strome Sibiriens, das nicht unsere Angestellten und Bücher frei beförderte“, schreibt Mr. Davidson, der Agent der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft für Sibirien im Jahre 1895. „Dazu genießen unsere Schriften auf der Uralbahn freie Beförderung. Solches Entgegenkommen der Bahn- und Dampfergesellschaften verdient herzliche Anerkennung.“

Jahr für Jahr werden in Sibirien und in einigen anderen Gebieten Rußlands den Agenten der Britischen Bibelgesellschaft diese wertvollen Vergünstigungen gewährt bis auf den heutigen Tag.

R. T. Morgan, der im Jahre 1901 den Doktor zwei Monate lang begleitete, hat seine Arbeitsmethode sehr anschaulich beschrieben.

„Dr. Baedeker mit seinem befreundeten Übersetzer ward stets nicht nur mit dem Respekt empfangen, der seinen Vollmachten gebührte, sondern mit wirklicher Höflichkeit und innerer Zustimmung zu dem Grunde seines Erscheinens.

Die ersten Unterredungen mit den Gefangenen geschahen meist in einem Raume, wo zwischen zwölf und zwanzig leichtere Verbrecher versammelt waren. In aller Kürze ward zu ihnen geredet als zu Sündern ohne Unterschied, die aber Gott liebt und für die Er Seinen Sohn in den Tod gab. Eins war dabei ohne weiteres klar: der Sprecher war voller Liebe, und das schuf ihm stets willige Ohren.

Die Beamten vom Direktor bis zu den Wärtern und die beiden Gefangenen, welche die große Bücherkiste von einer Stelle zur anderen trugen, beteiligten sich mit Eifer an der Bücherverteilung. War ein Lesekundiger, von welcher Nationalität er sein mochte, bei der Verteilung übergangen worden, so ward er nun gewiß ausfindig gemacht und ihm sein Buch übergeben.

In dem ersten Raum, den wir betraten, wartete unser eine Überraschung. Der Priester rief den Chordirigenten, und der Gefangenenchor (eine ständige Einrichtung russischer Gefängnisse) trug einige geistliche Lieder in sehr ansprechender Weise vor.

Darauf gingen wir von Saal zu Saal. Dr. Baedeker sprach Deutsch durch den Dolmetscher Patwakan Tarajantz, der die Ansprache ins Russische, Armenische oder Tartarische übersetzte. Stets war es eine deutliche und treffende Erklärung des gefallenen und sündigen Zustandes des Menschen; dann kam die Liebe Gottes, die keinen Unterschied macht; Seine unaussprechliche Gabe in Seinem geliebten Sohn; der einzige Weg zur Errettung durch das Blut am Kreuz; und die Zusage der Rechtfertigung und des ewigen Lebens für alle, die durch Ihn zu Gott kommen — ein internationales Evangelium, wie der Redner es nannte.

In einem Gefängnis enthielt der erste Raum, den wir besuchten, etwa 20 Mann, alle in Ketten, die unaufhörlich klirrten.

Einige dieser Kettengefangenen hatten einen Mord auf dem Gewissen, andere waren aus Sibirien entwichen. Beide Klassen sollten dorthin (nach Sibirien) deportiert werden. Es war ein fein aussehender junger Mann darunter, ein Offizier, der 2000 Rubel zu unterschlagen versucht hatte und zu zweieinhalb Jahren Zwangsarbeit verurteilt war.

Einige dieser schwer Bestraften waren Asiaten, denen mangels eines Übersetzers keine Ansprache gehalten werden konnte; aber die wenigen unter ihnen und den anderen Asiaten, die lesekundig waren, wurden gebeten, ihren Kameraden die gute Botschaft aus dem besten aller Bücher zu verkündigen, dem Worte Gottes.“ —

In Kischineff in Bessarabien besuchte Dr. Baedeker nach einer Nachtfahrt von Odessa aus den Gouverneur. Er hatte mit seinem Dolmetscher den Vorzug, zwei Stunden lang seine Füße im Vorzimmer ausruhen zu dürfen, bevor der große Herr geruhte, sie vorzulassen. Zuletzt fuhren sie doch, bewaffnet mit einem vom Gouverneur gestempelten Erlaubnisschein, zum Gefängnis. Es ist groß und sehr stark gebaut, die Mauern vier oder fünf Fuß dick mit vier massiven, runden Türmen. Es enthält Einzelzellen und unterirdische Kerker, kahl, dunkel und furchterweckend, deren Insassen ihre schlaflosen, schaurigen Nächte auf dem steinernen Fußboden zubringen müssen, in der Gesellschaft des scheußlichen Ungeziefers, das in der Dunkelheit seine Beute sucht.

Die Beamten gewährten jede Erleichterung und halfen sogleich; Dr. Baedeker und sein Freund konnten sich der Gefangenen recht annehmen. Es waren Russen darunter, Juden, Moldauer und Rumänen. Sie stellten sich in Reihen auf, und der Überreichung eines Neuen Testamentes an die Lesekundigen ging eine kurze, ernste Ansprache voraus, in der ihnen „das klare Evangelium“ vorgelegt wurde. Der Doktor fragte gar nicht erst um Erlaubnis. Er begann einfach, und die Beamten fügten sich schweigend, voll Dankbarkeit empfingen die Leute die kostbare Gabe.

„Wir haben gerade einen Mörder hier“, sagte ein Wärter.

„Habe ich ihn gesehen?“, fragte der Doktor.

„Nein: er sitzt in Einzelhaft.“

„Bitte, führen Sie mich in seine Zelle!“

Hinter den Wärtern her stolperte der Doktor die steinerne Treppe in die dunkeln Regionen des Untergeschosses hinab. In einem der Kerker fand man den Gesuchten.

„Danke, aber ich kann nicht lesen“, sagte er bedrückt, als der Doktor ihm eine Bibel anbot.

„Dann ist hier etwas, das für dich paßt. Das kannst du lesen. Und es enthält die eine Wahrheit, die du unbedingt kennen mußt.“

Der Doktor zog ein kleines „Buch ohne Worte“ hervor und drückte es dem Verurteilten in die Hand.

Der öffnete es und schaute verblüfft auf die drei Seiten darin: die erste war schwarz, die zweite rot, die dritte weiß.

„Was bedeutet das? Ich kann’s nicht verstehen“, fragte jener.

Des Doktors Augen strahlten in göttlichem Licht, als er dem elenden Menschen in der Armesünderzelle das Büchlein erklärte. „Das schwarze Blatt bedeutet schwarze Sünde — deine und meine. Sünde gegen Gott und Menschen. Sünde im Herzen und im Leben — schwarz wie die Nacht; schwarz wie der Tod; schwarz vom künftigen Gericht. Die rote Seite bedeutet das teure Blut Christi, das allein schwarze Sünde weiß machen und tilgen kann. ,Er ist um unserer Missetaten willen verwundet; durch Seine Wunden sind wir geheilet’. Das weiße Blatt bedeutet die vollbrachte Errettung durch unseren Herrn Jesus Christus; Seine völlige Vergebung aller Sünden für die, welche sich bekehren und Christum annehmen; die vollkommene Gerechtigkeit, die der Sünder durch den Glauben erlangt.“

In tiefem Sinnen ließ der Sträfling seine Augen von einer Seite des „Buches ohne Worte“ zur anderen gleiten. Seine Finger zitterten heftig, als er es in dem trüben Lichte emporhielt.

„Du wirst doch das kleine Buch lesen können, nicht wahr?“, fragte der Doktor gütig.

„Ja, Gott sei Dank, das kann ich lesen“, war die Antwort, und als der Sträfling dem Doktor ins Gesicht sah, fielen dicke, ungewohnte Tropfen auf seine gefesselten Hände. „Und Ihnen danke ich tausendmal, Herr, daß Sie solch eine Botschaft einem so unwürdigen Schuft gebracht haben!“

In den schauervollen Tiefen dieser Abgründe des Verbrechens und der Verzweiflung traf Dr. Baedeker doch hie und da einmal auf einen oder einige Knechte des Herrn, die verurteilt und eingekerkert waren, aber „sich freuten, daß sie mit Christo leiden“ durften. Welche Wonne brachte sein Besuch ihren Herzen! Ein kurzer Auszug aus seinem Tagebuch diene als Beispiel vieler ähnlicher Fälle. Es bezieht sich auf ein Ereignis auf seiner zweiten Durchquerung Asiens im Gefängnis zu Kabarowka am Amur.

„10. September. Kam halb 3 heut Nachmittag in Kabarowka an. Besuchte das Gefängnis und traf es gut. Fand einen Bruder, der zweieinhalb Jahre um Christi willen hier ist. Gab ihm 10 Rubel und ein Gesangbuch.“

„Ein Gesangbuch!“ Ist das nicht herrlich? Man denkt unwillkürlich an Philippi und die Apostel im Gefängnis. „Um die Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen.“

Ein Gesangbuch! Der teure Bruder konnte wohl von Herzen singen. Seine Seligkeit hatte dort in der Hölle von Kabarowka schon begonnen. Die unfreundliche Zelle, in der er mit dem Auswurf russischer Verbrecher zusammengesperrt war, ist ihm doch „nichts anderes denn Gottes Haus und die Pforte des Himmels“ geworden! Möchte er nur laut gesungen haben aus seinem Gesangbuch! Der Doktor wußte wohl, was er verschenkte, oder dem anderen war seine Bitte von Gott eingegeben. Er hat sicher andere Herzen zum Singen gebracht, bevor er sein Buch durchgesungen hatte. Und wenn Gott Gnade gibt, werden wir, die Leser, bald das Echo dieser Gesänge in der oberen Stadt vernehmen!

Quer durch Sibirien.

Dr. Baedekers erste Durchquerung Asiens; zusammengestellt aus Briefen an seine Frau.

„Wir haben endlich einen Fleck Erde gefunden, wo man noch nie das Evangelium in irgend einer Form gehört hat.“ So schrieb Dr. Baedeker aus den Gefängnissen Transbaikaliens im Hochsommer 1890 an seine Frau.

Seit diesem Jahre sind in Sibirien große Veränderungen vor sich gegangen. Die Einwanderung hat eine beträchtliche Zunahme der Bevölkerung gebracht. Ein Schienenweg durchzieht das Land. Die Regierung hat gewaltige Summen zur Erschließung des Erdteils aufgewandt, vor allem liegt der furchtbare russisch-japanische Krieg dazwischen. Als Dr. Baedeker seine sechsmonatliche Zickzackreise durch zwei Erdteile unternahm, war das Land östlich vom Obi tatsächlich kaum bewohnt. Nur die wilden Tiere hausten in den tiefen Wäldern, dazu in spärlich verstreuten Ansiedlungen die elenden Verbannten, und im schaurigen Herzen des Landes stand eine düstere Gruppe von Gefängnissen. Jedes war vom anderen durch viele Meilen öder Wüste getrennt, und nur ein kümmerliches Postdorf stand irgendwo in der Nähe.

In und durch diese Wildnisse wagte sich der Pionier des Kreuzes voll heiligen Eifers. Ungeduldig kreuzte er die weiten Einöden, um darbenden Seelen das Brot des Lebens zu bringen. In den folgenden Absätzen begleiten wir ihn und tun dabei einen tiefen Blick in sein Herz.

„Von St. Petersburg nach Perm.

Wirballen, Montag, den 28. April. — Alles ist gut gegangen. Mein Gepäck kam ohne Schwierigkeit durch den Zoll. So sende ich Dir meine ersten Zeilen aus Rußland. Wir haben schönes Wetter. Überall grünt und blüht es; aber noch ist’s Winter, das siehst Du aus den beigelegten Temperaturangaben, welche die Fürstin mir nach Berlin sandte.

In Berlin hatte ich einen ganz besetzten Tag. Ich empfing Kraft dafür, und ich fühle mich, Gott sei Dank, recht wohl. Ich weiß mich von vielen Gebeten getragen. Jetzt habe ich noch eine Reise von 24 Stunden vor mir. Der Zug soll morgen 6 Uhr Nachmittag in St. Petersburg sein. Merkwürdig, daß sich immer ein guter Eckplatz für mich fand. Obwohl ich im Raucherabteil fuhr, war es ganz gemütlich und nicht übermäßig viel Rauch. Ich weiß, Deine Gebete bahnen mir den Weg, so daß ich Kraft empfange und alles, was ich sonst Tag für Tag brauche. Grüße alle teuren Freunde, die für mich beten.

St. Petersburg, Freitag, den 2. Mai. — Wenn ich hier bin, ist meine Zeit immer sehr besetzt. Ich muß die Frühstunden zum Schreiben nehmen. Gestern hatte ich eine lange Unterredung mit dem ersten Sekretär des Direktors, der mir manche Auskunft gab. Er erzählte mir, daß das große Gefängnis in Irkutsk, das 1400 Insassen hat, niedergebrannt worden ist. Zwei Gefangene sind verbrannt, drei werden vermißt, heute will ich hier einige Gefängnisse besuchen. Madame T. hat sich erboten, bei unserer Ankunft anwesend zu sein, um zu übersetzen. Gestern Nachmittag hatten wir eine schöne Gebetsversammlung und abends eine Bibelbesprechung im weißen Salon. Es war, dem Herrn sei Dank, ein gesegnetes Zusammensein.

Herr C. bringt mich heute Nachmittag um 5 Uhr in die Gefängnisse; hernach habe ich eine Kinderversammlung; um 9 Uhr reise ich nach Helsingfors. Ich weiß, Du bringst mich vor den Herrn in Deinen Gebeten.

Helsingfors, Sonntag, den 4. Mai. — Die Freunde hier sind voll warmer Liebe und Teilnahme. Gestern hatten wir eine schöne Versammlung. Oberst S., der vor einigen Jahren bei einer meiner Versammlungen hier bekehrt wurde, ist auch zu Besuch hier. Es war mir eine besondere Freude, ihn umarmen zu dürfen. Ich hatte ihn seit seiner Bekehrung nicht wiedergesehen. Jetzt eben haben wir in meinem Zimmer das Brot gebrochen, und wir fühlten uns im Geist eins mit der ganzen Schar der Erlösten aus allen Völkern. Meine Gedanken eilten zu Dir und den Kindern Gottes in Weston-Super-Mare.

Heute Nachmittag und Abend bin ich besetzt. Morgen ebenso. Am Freitag ging ich in St. Petersburg durch ein Gefängnis. Madame T. übersetzte. Es waren natürlich seit meinem letzten Besuch meist neue Gefangene. Ich sah nichts mehr von den Büchern, die ich verteilt hatte, wir konnten ohne Schwierigkeit reden. Ein Sträfling hat 15 Morde auf dem Gewissen. Anscheinend ist er jetzt voll tiefer Reue.

Mein Erlaubnisschein für die Gefängnisse ist erneuert worden. Ich bat den Chef, ihn so abzufassen, daß er ganz allgemein mit für einen Dolmetscher gilt ohne Angabe des Namens. Dann habe ich Freiheit, jeden mitzunehmen, den ich für geeignet halte, ohne daß sein Einlaß Schwierigkeiten macht. Der Chef war äußerst freundlich und lieb zu mir und gewährte meine Bitte ohne weiteres. So ist mein Name eine Art Hauptschlüssel für Gefängnistüren. Ich bin sehr dankbar dafür; aber ich weiß auch, daß die Gebete der Kinder Gottes die Macht sind, der ich soviel verdanke.

Eine große Masse von Büchern ist nach Perm, Jekaterinburg, Tjumen, Tomsk, Irkutsk und Nikolajewsk bei Sachalin vorausgesandt worden, damit ich sie dort gleich vorfinde. Gott gebe uns viel Weisheit und Kraft von oben, um allen Bitten nachkommen zu können!

St. Petersburg, Donnerstag, den 8. Mai. — Bei der Rückkehr von Finnland fand ich Deine Briefe, herzlichen Dank dafür. In Helsingfors gab es viel Arbeit. Heute Abend um 8 Uhr gehe ich zu einer Versammlung der Russischen Bibelgesellschaft. Um 9 Uhr ist Abschiedsversammlung in unserem Hause.

Moskau, Sonntag, den 11. Mai. — Kam gestern um 10 Uhr früh hier an. Mr. Kargel (ein Übersetzer, der mich begleiten soll) hatte für sich und mich Zimmer genommen. Wir gingen sogleich zu dem großen Zentralgefängnis, wo die Beamten mich mit offenen Armen empfingen. Der Direktor beweist mir stets viel Teilnahme. Wir kamen gerade recht, um einen Trupp von 400 Verbannten, Männer, Weiber und Kinder, den langen und beschwerlichen Marsch nach Sibirien antreten zu sehen. Wir denken morgen das Gefängnis nochmals aufzusuchen. Es sind etwa 3000 Gefangene darin. Sechsmal im Monat wird ein Trupp verschickt. Ein freundlicher Moskauer Kaufmann läßt jedem Verbannten, Mann, Frau oder Kind, beim Ausmarsch einen Rubel reichen. Es waren einige mit drei oder vier Kindern darunter. Verschiedene trugen Säuglinge auf dem Arm. Aber keins wurde übersehen. Für jedes Kind gab es einen Rubel. Außerdem gab ein alter Pope jedem zehn Kopeken. Ein trauriger Anblick, das Ganze! Wie ich Sibirien kenne, ist es mir leider gewiß, daß viele dieser armen Geschöpfe auf dem Wege umkommen werden, besonders die Kinder.

Gestern Abend hatten wir eine herrliche Versammlung in einem Privathause. Heute Morgen „verkündigten wir des Herrn Tod“. Neun oder zehn Teilnehmer. Eben haben wir uns von A.s drei Söhnen verabschiedet. Sie besuchen hier die Schule. Wir nahmen sie mit uns in ein Restaurant. Um 5 Uhr ist eine Evangelisationsversammlung angesetzt. Das Wetter ist herrlich.

Montag, den 12. Mai. — Heute Morgen gingen wir zum Gefängnis. Ein Einblick zum traurig und krank werden! Über 800 Mann in Ketten. Wir durften zu ihnen reden und Bücher verteilen. Morgen werden wir die gleiche Zahl vor uns haben und dann noch 300 Frauen im Weibergefängnis. Die Männer, die wir heut Morgen sahen, kommen sämtlich nach Sibirien. Das hiesige Gefängnis ist sauber und luftig, ohne üble Gerüche. Ich habe siebzehn Bibelkisten auf dem Landwege und vier zur See vorausgesandt. Gott segne jedes Buch seinem Empfänger! Mr. Kargel hat mir heute früh treu geholfen. Er ist nicht verlegen und spricht geradeweg. Das ist mir sehr lieb. Ich vertraue dem Herrn, daß Er ihm helfen und ihn stärken wird.

Nischni-Nowgorod, Mittwoch, den 14. Mai. — Wir haben eine gute Nachtfahrt gehabt. In Moskau fuhren wir um 6 Uhr abends ab und waren etwa 9 Uhr früh hier. Nach der Einkunft fuhren wir mit unserer Bücherkiste stracks zu dem großen Gefängnis, durften unverzüglich die Gefangenen besuchen und etwa 500 Bücher verteilen. Dann aßen wir und fuhren mit unserem Gepäck zum Dampfer. Wir haben zum ersten Male die schöne Teemaschine benutzt. Du hättest Deinen Spaß gehabt, uns zu sehen. Sie ist ganz ausgezeichnet und wird uns von großem Nutzen sein, weil wir auf der Reise uns selber Tee, Suppe u.s.w. bereiten können.

Es war mir eine große Freude, daß doch viele sich unser erinnerten. Ein Tartar, der im vorigen Jahr unsere Bücherkisten trug, kam heute auf mich zu und strahlte vor Freude über das Wiedersehen. Ebenso erinnerte sich der Mann auf dem Bureau der Dampfergesellschaft an mich.

In Moskau und hier bettelten die Gefangenen unaufhörlich um Geld für Tee. Ich war sehr froh, die Gaben von Anna und Marie dafür verwenden zu können.

Sonnabend, den 17. Mai. — An Bord unseres Dampfers sind 500 Auswanderer, — alle sehr arm. Sie haben ihre Heimat in der Provinz Kursk verlassen, um mit Weib und Kind nach Tomsk zu ziehen. Sie haben nichts als Brot zu essen. Dazu trinken sie heißes Wasser; das nennen sie „Tee“. Die Kinder fangen an, krank auszusehen. Sie schauten so verhungert drein, daß ich bei mir dachte, eine ordentliche heiße russische Fleischsuppe würde sie neu beleben. Der Schiffskoch nahm die Sache in die Hand, und es wurde ein wirklicher Festtag für sie. Für mich noch mehr als für sie, weil ich sehen durfte, wie es ihnen schmeckte, und aufschauen zu Gott, dem Geber aller guten Gabe. Die armen Geschöpfe waren in beängstigender Weise zusammengepfercht. Ich bin froh, daß wir gutes Wetter hatten. Bei Regen und Schnee weiß ich nicht, was geschehen wäre. Gott allein weiß, was zuletzt in Tomsk, in all dem Frost und Schnee aus ihnen werden wird. Manche der Kinder werden die neue Heimat kaum zu sehen bekommen.

Einige entlassene Soldaten, die in Turkestan gedient haben und auf dem Heimweg nach Perm und Jekaterinburg sind, fahren auch mit. Es sind rauhe Burschen; da aber Schwarzbrot und Tee gleichfalls ihre einzige Nahrung ist, so hielten sie bei dem Feste mit. Alle waren sie so dankbar, die armen Geschöpfe. Die Sache kostete mich 75 Rubel. Ich fand viel Gelegenheit, mit ihnen über geistliche Dinge zu reden. Sehr wahrscheinlich werden wir sie nie wiedersehen.

Die Kama, ein Nebenfluß der Wolga, ist sehr breit und führt der Wolga eine riesige Menge Wasser zu. Wir bleiben bis Montag auf der Reise. In Kasan bekamen wir eine frische Sendung Neuer Testamente. Wir verteilten sie an die Auswanderer und Soldaten, die lesen konnten. Das Wetter ist prächtig. Das Land sieht freundlich aus, obwohl die Bäume noch nicht grün sind. Die Verpflegung an Bord ist recht gut.

Perm, Montag, den 19. Mai. — Heute morgen um 11 Uhr kamen wir an. Sogleich gingen wir zum Gefängnisdirektor und dann zu dem großen Gefängnis, in dem mehr als 600 Gefangene furchtbar eng gepfercht sind. Zuerst hatten wir sie alle zusammen vor uns und redeten zu ihnen über den Zweck unseres Besuches, über ihre Seelennot und über des Herrn Bereitwilligkeit, diese Not zu heben. Als wir dann Neue Testamente zu verteilen begannen, war es unmöglich, Ordnung zu halten. Wir mußten sie in die Säle zurückschicken und sie da aufsuchen.

Ich meine, noch nie ein Gefängnis gesehen zu haben, in dem die Menschen so zusammengepfercht sind wie hier. Es gibt noch zwei andere hier, und wir beschlossen, wenigstens eines und wenn möglich beide zu besuchen. Es geht nur einmal täglich ein Zug nach Jekaterinburg. Heute abend fuhr eine Menge russische Bauern, unsere Reisegesellschaft, mit der Bahn ab. Aber sie müssen in Tjumen liegen bleiben. Ich höre, daß dort schon einige tausend freie Auswanderer auf den Dampfer zur Weiterbeförderung warten. Und nun kommen noch weitere fünfhundert! Was für ein Elend! Es ist über alle Begriffe. Sie werden irgendwo zusammengedrängt, ohne ärztliche Versorgung und ohne Aufsicht. Und die Leute selbst so furchtbar unwissend! Ich wüßte kaum, was besser ist, das Los der Gefangenen oder der freien Auswanderer. Viele Frauen haben kleine Kinder, ja selbst Säuglinge bei sich. Es ist wirklich nicht recht gehandelt von den Behörden. Kämen nur einige Menschen zu einer religiösen Versammlung, so würde die Polizei umgehend einschreiten. Hier wird von der allerschlimmsten Behandlung nicht einmal Notiz genommen. — Die Beamten sind gegen mich sehr zuvorkommend.

Über den Ural. Von Perm nach Tjumen.

Jekaterinburg, Samstag, den 24. Mai.— Wir kamen von Perm wohlbehalten am 21. (Mittwoch) hier an und dachten, am Freitag nach Tjumen zu fahren. Aber es wäre zwecklos gewesen. Der Obi ist noch zugefroren, und es gehen keine Dampfer. In Tjumen liegt eine große Masse Gefangene, die auf Beförderung mit dem Dampfer warten, außer den vorerwähnten Auswanderern. Die letzteren sind weit schlimmer daran als die Sträflinge. Sie haben kein oder kaum ein Obdach und nichts zu essen; und da unter den Kindern die Masern ausgebrochen sind, so sind die Einwohner nicht zu bewegen, sie bei sich aufzunehmen. Ich hörte, sie lebten in Zelten. Arme Menschenkinder! Dies kalte Wetter ist allein schon todbringend für sie.

Wir besuchten hier das Gefängnis und fanden, daß die Gefangenen aus einem Vorrat mit Büchern versorgt wurden, den ich voriges Jahr beim Direktor gelassen hatte. Wir sind ausnehmend weit zurück in der Jahreszeit: wir haben jetzt noch Schneestürme. Es gibt hier einige englische Familien, die ich besucht habe. Herr und Frau Davidson von der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft sind sehr freundlich. Herr Davidson will zwischen Tomsk und Irkutsk mit mir reisen. Es ist mir eine große Entbehrung, keinen Brief von Dir zu haben. Ich hoffe, einen dicken Bund zu finden, wenn ich, so Gott will, in Tomsk bin.

Jekaterinburg ist eine recht hübsche Stadt. Sie ist der Mittelpunkt des Bergwerkbetriebes. Nicht weit von hier sind die berühmten Demidoff-Minen, wo Malachit gefunden wird. Dorther stammt auch die Ausstattung des Malachitzimmers im Palais der Fürstin Lieven. Einige besonders kostbare Stücke werden für den Kaiser vorgerichtet. Gestern besuchten wir die Steinschneidewerke. Einige Vasen aus einem sehr harten Steine wurden gerade geschnitten. Manche Steine sind ausgezeichnet schön.

Tjumen, Dienstag, den 27. Mai. — Heute morgen von Jekaterinburg angekommen. Mir wurden sehr herzlich von Mr. Wardropper empfangen und sind feine Gäste. Den ganzen Tag hatten wir viel zu tun, und ich bin müde. Bei der Nachfrage im Gefängnis fanden wir 1930 Insassen. Wir nahmen die Bücher und begannen sie zu verteilen. Die Leute sind furchtbar zusammengedrängt. Es ist wirklich schlimmer, als ich’s im vorigen Jahre fand. Ich kann mir nicht denken, wie sie es fertig bringen, zu existieren. Immerhin ist bei den gesundheitlichen Maßregeln eine große Besserung zu merken. Sage das Stabsarzt Theobald, wenn Du ihn triffst.

Wir konnten ganz ungehindert zu den Gefangenen reden. Sie hörten sehr eifrig zu und zeigten große Dankbarkeit. Aber wir haben die Arbeit erst zum dritten Teil getan und hoffen, sie morgen früh wieder aufzunehmen. Die Neuen Testamente werden mit brennendem Eifer angenommen und gelesen.

Neun ober zehn Dampfer haben hier eingefroren auf dem Strom gelegen. Aber jetzt beginnt der Eisgang. Es wird ganz warm und schwül. Wir hoffen, bald grünende Bäume und blumige Wiesen zu sehen. Bis jetzt deutet noch kein Anzeichen auf Frühling. Die Boote werden sehr überfüllt sein. Es warten so viele Passagiere auf sie.

Unser Zug heute morgen brachte wieder 800 Auswanderer mit. Du machst Dir von den Zuständen keine Vorstellung. Die rohen Schuppen werden nachts von Weibern und Kindern in Beschlag genommen. Die Männer schlafen so gut wie möglich draußen auf dem Erdboden. Gott erbarme sich über sie! Ein Elend, wie ich es nie gesehen habe, ist hier auf einem Fleck beieinander.

Für die Gefangenen ist besser gesorgt. Es geschieht wahrhaftig manchmal, daß die Kolonisten, wenn sie mit ihrer Kunst zu Ende sind, ein Verbrechen begehen, um ins Gefängnis zu kommen, wo es wenigstens etwas zu essen gibt. Im Gefängnishofe wird von den Sträflingen ein Taubenschwarm mit dem Brote gefüttert, das sie übrig behalten.

Ich versichere Dich, es ist mir eine große Entbehrung, so lange ganz ohne Briefe von Dir zu sein.

Tjumen, Freitag, den 30. Mai. — Wir hoffen, spätestens morgen abzufahren. Es haben sich kolossale Gütermengen hier angestaut. Darum sind wir dankbar, daß unsere Bücher soweit vorausbefördert sind. Wir sind besser daran als viele andere.

Heute morgen sahen wir einmal nach den armen Kolonisten, die draußen im Freien kampieren. Einige waren schon völlig erschöpft. Wir fanden Gelegenheit genug, sie mit Geld u.s.w. zu unterstützen. Es sah traurig aus, wie sie da zusammenhockten, und auf ihren Kleidern oder auf dem blanken Erdboden lagen. Ich bin so froh, daß das Wetter schön und warm geworden ist, so daß sie nicht so viel zu leiden haben. Fast jeden Tag kommen mit dem Zuge neue an.

Heute Nachmittag gingen wir an Bord des Bootes, wo die Gefangenen in einer Art Käfig untergebracht sind. Sie erkannten uns alle, da sie uns im Gefängnisse gesehen hatten. Während unserer Anwesenheit hielt ein russischer Priester Gottesdienst. Alle Gefangenen lauschten und bekreuzten sich häufig. Es war die gewöhnliche Liturgie in Slavonisch (der russischen Kirchensprache), das nur wenige verstehen. Die Responsorien sind ganz ähnlich wie im hochkirchlichen Gottesdienst: „Herr, erbarme Dich unser.“ Darauf wurde das Wasser geweiht, indem ein Kruzifix hindurchgezogen ward, und das Volk küßte das Kruzifix und wurde mit dem Wasser besprengt.

Unser Dampfer geht morgen Mittag um zwölf. Vergangenes Jahr benutzte ich dasselbe Schiff. Der Kapitän begrüßte mich aufs wärmste.

Die Familie Wardropper ist sehr gütig und gastfrei. Mr. Wardropper stellt uns zuvorkommenderweise Pferd und Fuhrwerk zur Verfügung. Das erleichtert unsere Reise. Auch die verheiratete Tochter, die in Jekaterinburg lebt, erzeigte uns viel Freundlichkeit. George Kennan wohnte hier, als er Sibirien durchreiste; auch einige andere englisch sprechende Reisende. Der Zustand des hiesigen Gefängnisses ist noch weit schlechter, als es Kennan dargestellt hat. Freilich sind die Gefangenen noch besser daran, als die armen Auswanderer. Die meisten Artikel Mr. Kennans sind durch den Zensor aus dem Century (engl. Monatsschrift) ausgemerzt worden. Die Russen lernen auf diese Weise den Stand der Dinge in ihrem eigenen Lande nicht kennen.

Die Sehnsucht nach Briefen von Dir verzehrt mich ordentlich. Die Zeit ist so lang. Aber ich muß mich gedulden. Ich hoffe, Du bist meinetwegen nicht besorgt gewesen.

Ich kann das alles nur auf den Herrn werfen, der da sorget für uns, und der nicht will, daß wir sorgen. Es ist nicht viel länger als einen Monat her, seit ich von zu Hause weg bin, und es scheint mir schon so lange! Gott führe unseren Fuß auf Seinem Weg um Seines Namens willen!

Von Tjumen und Tobolsk nach Tomsk.

(Über 1000 engl. Meilen.) Flußreise auf dem Obi.

Tobolsk, Montag, den 2. Juni. — Nach der Ankunft besuchten wir den Gouverneur. Er war sehr freundlich und gab uns Namen und Lage der verschiedenen Gefängnisse in Tobolsk an, die wir dann aufsuchten. Zusammen sind etwa 1500 Gefangene hier, nicht eingerechnet eine große Anzahl Kinder, welche mit ihren Müttern die Gefangenen begleiten. Gestern gingen 480 per Boot nach Tomsk, und es sind immer noch genug hier. In dem einen Gefängnis sind große Verbesserungen getroffen. Dort gibt man den Leuten Arbeit. Aber die Scharen sind nicht zu bewältigen. Manche erkannten mich. Sie sehen mich als ihren Freund an. Einige hatten mich in Tiflis in Transkaukasien gesehen. Ebenso begrüßten die Beamten mich freundlich. Heute war ein Gewitter mit starkem, warmem Regen. Es liegen noch Schneelachen auf den Straßen, aber der Frühling kommt mit Macht. Morgen hoffen wir, tüchtig in den Gefängnissen zu arbeiten.

Heute ist Weißer Montag, ein Feiertag, an dem wir nichts ausrichten können. So nahmen wir einen Wagen und sahen uns die „verbannte Glocke“ an. Da sie zu revolutionären Zwecken gebraucht worden ist, wurde sie tüchtig mit der Knute geprügelt, zwei Henkel ihr abgebrochen und sie „verbannt“. Sie ist nie wieder an ihren Platz gekommen; aber gebraucht wird sie noch, und gibt bei der leisesten Berührung einen ungewöhnlich klaren Ton. Mir fiel das Wort ein: „Durch Leiden vollkommen gemacht.“

Bei der Rückkehr von unserem Gefängnisbesuche fanden wir, daß der Gouverneur in unserem Hotel vorgesprochen und seine Karte dagelassen hatte.

Die Stadt ist voll von den Nachkommen polnischer Verbannter und vielen, die selbst wieder aus Polen verbannt sind. Die Winterzeit ist furchtbar still und öde, da die Dampfer nur wenige Monate gehen. Die Stadt steht teilweise auf einem Hügel, größtenteils aber auf der Ebene am Flußufer. Es gibt hier viele alte Kirchen, die sehr häßlich sind, aber in ihrem weißen Anstrich alle sauber ausschauen. Die Straßen sind mit Holz gepflastert, das reichlich und billig ist. Das Pflaster in manchen Straßen ist eben jetzt schlecht und müßte erneuert werden.

Dienstag, den 3. Juni. — Unser Besuch in dem einen der Gefängnisse war recht gesegnet. Die Leute hörten mit Eifer auf das Evangelium. Wir verweilten länger in jedem Saale, und das Wort ward ausgestreut und angenommen in Kraft. Wir hoffen, nachmittags und abends wieder hinzugehen. Das Wetter ist schön. Alles wächst schnell.

10 Uhr abends. — Eben kamen wir nach einem ausgefüllten, glücklichen Tage heim. Einige Gefangenen baten um Brillen. Wir konnten ihnen dazu verhelfen, zu 50 Kopeken pro Stück. Einige baten um Geld für Tee. So hat man manche Gelegenheit, eine Freundlichkeit zu erweisen, und die kleinen Gaben werden sehr dankbar angenommen. Heute abend war große Versammlung im Gefängnishofe. Die Zuhörerschaft war besonders aufmerksam. Auch die Beamten hängen mir an den Lippen. Ich bin zuversichtlich gewiß, daß mir „viel Frucht“ geschenkt wurde.

Viele, die letztes Jahr Bibeln oder Testamente empfangen hatten, kamen und zeigten sie uns. Einige hatten sich ordentliche Deckel von Pappe gemacht, um sie gegen die Abnutzung zu schützen. Gott segne sie!

Wir haben noch zwei ganze Tage zu tun. Der Dampfer nach Tomsk kommt Samstag hier durch. Ich warte dringend auf Briefe. Ich muß mich im geduldigen Warten üben und vertrauen, daß es Dir gut geht. Es ist gut, „sicher in Jesu Armen“ zu sein.

An Bord des Dampfers auf dem Obi, Sonntag, den 15. Juni. — Das ist eine lange und ermüdende Fahrt. Wir haben Gegenwind. Der Fluß ist so weit über die Ufer getreten, daß er mehr wie ein großer See als wie ein Fluß aussieht.

Wir hatten in Tobolsk Aufenthalt, weil das Boot, mit dem wir fahren wollten, keinen Platz für uns hatte. Dies Boot nahm uns aus besonderer Freundlichkeit mit. Die Masse der Passagiere ist groß. Unsere Betten stehen in der gemeinsamen Kabine 1. Klasse. Jede Koje ist besetzt. Der Damensalon und die Separatkabinen sind ebenso überfüllt. Keine Ecke, wo man für sich sein könnte. Die zweite Klasse ist auch vollgestopft. Dann ist da noch die dichte Masse der Deckpassagiere, der armen Auswanderer. Sie leben fast nur von Fisch und trockenem Brot, wovon sie eine Suppe kochen. Ihre Kinder sehen recht krank aus.

Der Gouverneur in Tobolsk kam an Bord, um sich von uns zu verabschieden. Er stellte mich einem Mitreisenden vor, einem Kaufmann aus Tjumen.

Die Direktion der Dampfergesellschaft hat uns wieder Freibillets für uns und unsere Bücher zur Verfügung gestellt. Das ist sehr freundlich.

Einige reiche sibirische Kaufleute fahren mit uns. Einer mit Frau und sechs Kindern, zwei Gouvernanten, Schwiegermutter und mehreren Dienstboten. Sie sind in London und Paris gewesen und wollen nun den Sommer daheim in Krasnojarsk zubringen. Ferner ein russischer Oberst mit Frau, Kind und Mädchen, die nach Kabarowka am Amur wollen. Die Frau scheint sehr zart, und ich fürchte, sie ist an die Strapazen nicht genügend gewöhnt. Dann ein Gelehrter von der Universität Helsingfors mit seiner Frau und seinem Bruder, der Student ist. Sie wollen zu archäologischen Forschungen nach Kiachta und tiefer hinein in die Mongolei. Einige Passagiere wollen nach den Minendistrikten Transbaikaliens — ein Herr mit Frau und zwei Kindern, dazu einige andere, mit denen ich mich deutsch und ein wenig englisch unterhalten kann. Neben mir in unserer Kabine schläft ein Baron S., der nach Irkutsk geht.

Das Land zu beiden Seiten ist recht uninteressant. Die Sandbänke sind überflutet. Man sieht über weite Wasserflächen, aus denen hie und da Baumgruppen auftauchen. Einige der Ostjakenansiedlungen haben im Stich gelassen werden müssen. Die Bewohner waren gezwungen, in ihren Booten höher aufs Land zu flüchten.

Wenn wir hin und wieder halten, um Holz zur Feuerung einzunehmen, so entsteht unter den Passagieren ein großes Gedränge. Jeder will Fische, Brot, Milch, Enten und Gänse kaufen. Alles ist erstaunlich billig. An einem Orte wurden wilde Enten zu drei Kopeken das Stück verkauft, und Wildgänse zu zwölf oder fünfzehn Kopeken. Fisch gibt es in dieser Jahreszeit nicht so häufig. Aber er ist ebenfalls fabelhaft billig. Die wilden Enten und Gänse werden in Netzen gefangen und zu Hunderten getötet. Die Flüsse sind voll davon. Ebenso werden auch weiße Schwäne gefangen und ihre Bälge zu Pelzwerk verarbeitet.

An einer Anlegestelle kam ein armer Verbannter auf uns zu. Er stammte aus Riga und war nach einem elenden sibirischen Dorfe verschickt worden, wo er in einer Fischerfamilie lebt. Als wir ihn in seiner Sprache anredeten, konnte er uns nicht antworten. Er hatte solange nur Sibirisch-russisch gehört und gesprochen. Wir hatten ein langes Gespräch mit ihm, und er schien sehr gerührt, der arme Mensch! Es ist wirklich hart, nach einem solchen Orte verbannt zu werden, einem Miniaturdorf von vielleicht einem Dutzend hölzerner Häuser und einer russischen Kirche.

Der Pflanzenwuchs ist hier noch sehr zurück. Dies Jahr habe ich den Frühling viermal mitgemacht: zuerst in England, dann in St. Petersburg, zum drittenmal an der Kama; und jetzt belausche ich das Erwachen der Natur zum viertenmal. Die Weiden öffnen ihre Knospen und lassen ihre Blätter sprießen.

Der Fluß steigt noch infolge der Schneeschmelze droben im Hoch-Altai, der zwischen uns und Tibet liegt. Kein europäischer Strom läßt sich mit dem Obi vergleichen; nicht einmal mit dem Irtisch, der doch nur sein Nebenfluß ist. Obgleich wir nun schon eine volle Woche stromaufwärts fahren, ist noch keine Abnahme der Wassermassen zu spüren.

Morgens bin ich gewöhnlich zuerst auf den Beinen. Dann lesen und beten wir jeder für sich und frühstücken, trinken Kaffee mit Brot, Butter und Eiern. Die letzten Tage war keine Butter mehr da. Um 2 Uhr mittags wird gegessen, Suppe, zweimal Fleisch und Süßigkeiten. Dann gibt’s um 7 Uhr Tee mit Brot und Rauchfisch. Wir haben noch Tee und Zucker in unserem Vorrat, und der geräucherte Fisch, den wir in Tobolsk kauften, ist recht gut. Wir ziehen uns dann früh zurück. Die anderen Passagiere sitzen gewöhnlich lange auf, schwatzen und rauchen.

Ich sehne mich, in Tomsk anzukommen und die Arbeit unter den Gefangenen aufzunehmen.

Heute morgen hatten wir Maschinenschaden. Wir warfen in einer weiten Wasserwüste Anker, während die Ausbesserung vorgenommen wurde. Nach fünf Stunden kamen wir glücklich wieder in Fahrt. Der Dampfer, welcher uns aus Raummangel nicht aufnehmen konnte, ist durch Eis aufgehalten worden. Wir haben ihn jetzt überholt. Alles ist wunderbar für uns geordnet worden. Wir konnten die Wartezeit in Tobolsk für die Gefängnisse gut ausnutzen, während wir an Bord die Zeit untätig hätten zubringen müssen.

Montag, den 16. Juni. — Wieder ein Maschinenschaden, aber die Unterbrechung war nicht lang. Auf einem der anderen Boote ist ein Dampfrohr geplatzt. Der heiße Dampf verbrühte eine große Anzahl Passagiere. Besonders haben die Insassen der dritten Klasse gelitten. An 60 Personen sind tot; daraus kannst Du Dir ein Bild von dem Umfang der Katastrophe machen. Der Gouverneur von Krasnojarsk mit Familie war an Bord, aber niemand wurde verletzt.

Wir haben viel über religiöse Dinge reden können. Ein gläubiger Farmer, der nach dem Amur geht, kommt mit allerlei Fragen. Manche Passagiere fühlen sich angezogen, unseren Antworten zu lauschen. Bei einigen ist ganz offenbar ein Interesse erwacht. Gott sei gelobt!

Wir schleppen ein schwerbeladenes Lastboot hinter uns, und da wir Strom und Wind gegen uns haben, ist unser Fortschritt gering. Aber ich bin gewiß, daß alles nach Seinem Willen und zu Seinem Ruhme verordnet ist.

Ich muß immer wieder sagen, es ist eine schwere Probe für mich, ganz ohne Briefe von Dir zu sein und so weit fort. Ich sende Dir bei der Ankunft in Tobolsk (heute Tomsk) ein Telegramm, und hoffe sehr, viele Briefe und gute Nachrichten zu finden. Gott gebe, daß ich nicht enttäuscht werde.

Telegramm aus Tomsk:

Tomsk, Mittwoch, den 18. Juni. — Wir sind heute alle wohlbehalten angekommen. Mr. Davidson ist zu uns gestoßen. Deine Briefe...! Der Herr sei gepriesen um alle Seine Güte! Es geht mir sehr gut, und ich bin in der rechten Verfassung für die Reise, die vor uns liegt.

Tomsk, Freitag, den 20. Juni. — Die Büchersendungen sind noch nicht angekommen, und wir müssen darum bis zur nächsten Woche hier bleiben.

Die Gefängnisse sind hier nicht überfüllt. In einem, wo ich im vergangenen Jahre 3400 Mann zusammengedrängt fand, sind jetzt 1000. In einem zweiten, in dem 1600 waren, jetzt 326. Das dritte hat seine gewöhnliche Belegziffer von 300 Köpfen. Das ist eine große Erleichterung. An einigen Stellen finde ich noch Leute, die vorm Jahre Testamente oder Bibeln erhalten haben. Sie begrüßen mich mit dankbarem Lächeln und zeigen mir ihre Bücher, die sie gelesen haben und liebevoll verwahren. Es sind Anzeichen da, daß Gottes Wort nicht ohne Einfluß auf sie geblieben ist. Ein geistlicher Frühling beginnt sich zu regen.

Gestern morgen sahen wir 250 Mann auf dem Transportschiff. Wir hatten gute Gelegenheit, ihnen das Evangelium zu verkündigen und ihnen Bücher zu geben, ehe sie abfuhren. Der Offizier, der den Trupp führte, war sehr freundlich, und wir wurden laut begrüßt.

Nachmittags gingen wir in das zweite Gefängnis und kamen auch da gut voran.

Am Abend besuchten wir das dritte. Die Sträflinge gehen tagsüber zur Arbeit und kommen erst um 7 oder 8 Uhr zurück. Wir kamen um 8.30 Uhr und fanden guten Eingang bei ihnen. Es befinden sich Juden in großer Menge darunter. Alle sind sehr begierig, das Neue Testament zu bekommen. Kein einziger weist es zurück.

Gestern besuchten wir den Gouverneur. Er war sehr freundlich und gab uns für unsere Reise einen „Ausweis“. Derselbe ermöglicht uns ein schnelleres Reisen, denn er sichert uns einen sofortigen Pferdewechsel zu billigerem Preise. Das Papier verkündet, daß wir „den besonderen Auftrag haben, die sibirischen Gefängnisse zu besuchen und die Sträflinge mit Exemplaren der Heiligen Schrift zu versehen“. Brauchen wir Postpferde, so müssen uns Regierungspferde geliefert werden. Sind keine da, so müssen auf alle Fälle andere aufgetrieben werden. Du siehst, der Herr erweckt uns überall Freunde und Helfer. Es ist jetzt eine solche Schar von Reisenden unterwegs, daß das ein sehr schätzenswertes und wichtiges Schriftstück ist. Ebenso ist Kargels Paß erneuert worden. Durch die Freundlichkeit des Gouverneurs geschah es noch am gleichen Tage, während sich die Sache gewöhnlich einige Tage hinzieht. Jetzt warten wir nur noch auf unsere Bücher. Glücklicherweise haben wir für Tomsk genug Bücher und wollen sofort in das große Gefängnis gehen. Ich schreibe noch einige Zeilen, wenn ich zurückkomme.

Samstag, den 21. Juni.— Gestern hatten wir „schweren Dienst“ im großen Gefängnis. Wir arbeiteten voran, solange wir konnten, gingen durch alle Zellen, redeten in jeder und gaben jedem Gefangenen, der lesen konnte, ein Buch.

Unsere Bücher langten nicht, und die Zeit ebensowenig. Mr. Davidson ging mit und war sehr gerührt von allem, was er sah. Wir hoffen, so Gott will, heute Nachmittag auch die übrigen Zellen aufzusuchen.

Wir hatten jede gewünschte Bewegungsfreiheit. In jeder Zelle redeten wir ausführlich und sprachen dann noch im offenen Hofe zu den Hunderten in der Runde. Wie immer wurden mir viele Bittschriften in die Hand gedrückt, die das Los der Gefangenen ein wenig erleichtern sollen. Einige Fälle waren bejammernswert. Einem Apotheker, einem gebildeten Manne, waren seine Papiere und seine Kleider geraubt worden. Er wandte sich an die Polizei um Hilfe. Man gab ihm Gefangenenkleider und wies ihm das Gefängnis als Unterkunft an!

Wir fanden einen jungen Burschen von 17 Jahren im Gefängnis in Gesellschaft aller möglichen Verbrecher. Er sieht reinlich und ansehnlich aus. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, ihn hier zu lassen, ohne einen Versuch, ihn loszubekommen. Er hat nicht eigentlich ein Verbrechen begangen. Er geriet in schlechte Gesellschaft und verlor über den Karten sein Geld. In den Straßen dieser Stadt wurde er, tatsächlich von allem entblößt und ohne seinen Paß, aufgefunden und ins Gefängnis gesteckt, wo er in einer Zelle mit den anderen kampiert. Ich muß mit dem Gouverneur über ihn reden. Jeder Tag in der Zelle bringt ihn dem Verderben näher.

Kargel und ich wünschen sehr, nach Minutschinsk zu gehen, um einen aus religiösen Gründen Verbannten aufzusuchen, einen Diener meines teuren Freundes, des Obersten Paschkoff, der nach Sibirien verschickt wurde und um Gerechtigkeit und des Evangeliums willen viel erlitten hat.

Ein Herr aus St. Petersburg ist als Gefangener auf dem Marsche, und seine Gattin, eine feine Dame, ist ihm hierher gefolgt. Jetzt sind ihre Mittel erschöpft, und sie ist in äußerster Not und Verzweiflung. Was soll sie tun? Ein jüngerer Herr (ein politischer Verbannter) ist auf dem Wege nach Jakutsk; ferner zwei Damen (auch politische Verbannte) auf dem Wege nach Ostsibirien. Gott erbarme sich über sie! Jedes von ihnen hat seine eigene Geschichte, wie alle Sünder. „Ein jeglicher sahe auf seinen Weg.“

Jetzt muß ich aufhören. Wenn wir zueinander nicht so oft reden oder uns schreiben können, als wir möchten, so wollen wir öfter voneinander zu unserem himmlischen Vater reden.

Davidson ist mir eine große Hilfe. Ebenso Kargel. Der Herr, unser Hirte, läßt uns nichts mangeln. Sein Name sei gepriesen!

Tomsk, Montag, den 23. Juni. — Immer noch in Tomsk! Aber jetzt sind endlich unsere Bücher angekommen, und wir hoffen, sie heute zu erhalten. Dann müssen sie für die lange Landreise gepackt werden.

Ich freue mich sehr, daß Davidson noch hier ist. Er ist voller Energie und ein vollendeter Geschäftsmann. Er kommt auch mit den Behörden vorwärts. Er will einen Wagen kaufen, um die großen Bücherpakete zu befördern. Den Wagen werden wir dann am anderen Ende wieder verkaufen. Ich habe mir doch keine rechte Vorstellung von den Schwierigkeiten und Verzögerungen bei der Gepäckbeförderung in Sibirien gemacht. Es wird viel billiger und schneller gehen, wenn wir Wagen und Pferde kaufen, die Bücherkisten mitnehmen und unser Gespann zuletzt wieder verkaufen, als wenn wir sie den öffentlichen Transportmitteln anvertrauen.

Wir haben unsere Zeit nicht verschwendet. Gestern bat mich der deutsche Pastor, in der (lutherischen) Kirche nach dem Gottesdienst eine Ansprache zu halten.

In unserem Hotel feierten wir miteinander das Abendmahl, Kargel, Davidson und ich. Wir fühlten uns durch unsere gemeinschaftliche Feier erquickt und gekräftigt. Unsere Gedanken waren bei den Kindern Gottes in der Heimat und allerorten.

Im großen Gefängnis bettelten viele Strafgefangene um ein wenig Tee. Wir gingen zu einem Teehändler und ließen uns kleine Pakete Ziegeltee und Zucker zurechtmachen, die wir heute morgen mit zu den Gefangenen nehmen wollen. Außerdem mußten wir Brillen kaufen für einige, die ohne Glas nicht lesen konnten. Wenn wir mit allem, das heute getan werden soll, zustande kommen, so hoffen wir morgen nach dem Osten abzufahren.

Tomsk ist eine schöne Stadt. Es ist auf dem Wege, die bedeutendste Stadt Sibiriens zu werden.

Samstag besuchte ich mit Davidson einen hohen russischen Geistlichen, einen Leiter der Mission unter den Mongolen. Er empfing uns sehr freundlich und zeigte warmes Interesse für alle Missionsbestrebungen. Er lud mich ein, sein Gast zu sein; das mußte ich jedoch ablehnen. Der oben erwähnte Teehändler hat ein ausgedehntes Geschäft. Er bestellte bei Mr. Davidson 5000 Schriften, die er in seinem Laden verkaufen will.

Eben sind wir aus dem Gefängnis zurück. Wir sahen einen Trupp abmarschieren, Weiber und Kinder hintendrein, ein herzzerreißender Anblick. Wir besuchten auch das Gefängnishospital. Dort ist jetzt alles sehr schön gegen letztes Jahr. Aber die Transporte fangen auch erst an. Sie treffen sehr schnell hintereinander ein, 700—800 Köpfe pro Woche, während jede Woche zwei Abteilungen von 300—400 Köpfen nach den Ansiedlungen im Osten und den Strafkolonien abgehen. Es ist ein trauriges Schauspiel, wenn diese Menschenmassen lungernd in den Gefängnishöfen umherstehen.

3 Uhr nachmittags. — Ich suchte noch einmal den Gouverneur auf, um mit ihm über die Gefängnisse zu reden und ihm für seine Güte zu danken. Er hat den oben erwähnten Burschen frei gelassen und unserer Obhut übergeben. Wir werden ihn nach Irkutsk mitnehmen zu seiner Mutter, die dort wohnt. Wir hoffen, Tomsk morgen zu verlassen. Ich werde versuchen, Dir so oft wie möglich zu schreiben und das Entbehren Deiner Briefe tapfer zu tragen. Ich weiß, Du betest für mich.

Von Tomsk zu Wagen nach dem Baikalsee.

(1160 engl. Meilen.)

Wir haben für 130 Rubel einen Tarantaß gekauft.

Mr. Davidson besitzt einen eigenen. So werden wir zusammen reisen. Man kann sich schwer vorstellen, was eine Reise im Tarantaß bedeutet. Er sieht aus wie eine altmodische Familienkutsche. Der eigentliche Wagenkörper besteht aus Flechtwerk, das mit Teppichstoff verkleidet ist. Darüber eine bewegliche Lederplane. Von ordentlichen Federn ist leider keine Rede! Der Wagen ruht auf Stangen —, drei oder vier langen Stangen, deren Elastizität ein klein wenig Schutz gewährt gegen das Rumpeln auf dem rauhen Wege oder besser Pfade, dem wir so gut wie möglich folgen. Drei Pferde sind quer vor jeden Wagen gespannt, und da die sibirischen Pferde sehr schnell jagen, muß sich der Fahrgast sehr fest halten, bis er sich an das Stoßen und Schleudern gewöhnt. Sind die Wege holprig, so wird man oft ohne Erbarmen bis an die Decke oder von einer Ecke zur anderen geschleudert. Dazu ist dies Gefährt unser Schlafwagen, bei nassem Wetter unser Speisewagen und unser Laden.

Die Hoteldiener in Tomsk verstanden sich auf das Packen eines Tarantaß. Ihre Methode ist künstlerisch ausgebildet, und ihr Hauptziel dies, die Bequemlichkeit des Reisenden trotz des schlechten Weges zu sichern. Zuerst werden etliche fünfhundert Bibeln und Testamente, in Pakete zu je 40 eingeteilt, als eine Art Ballast auf dem Boden des Wagens verstaut. Dann kommt der Rest des Gepäcks — so gleichmäßig wie möglich verteilt. Zu oberst werden die Matratze und die Kissen gelegt, auf denen die Fahrgäste Platz nehmen. Mit Essen, Tee und Zucker muß man versehen sein. Auf den Poststationen ist nur ein Samowar zu haben, eine Art Urne, in welcher das Wasser durch einen in der Mitte befindlichen, mit Holzkohle gefüllten Zylinder erhitzt wird, und allenfalls Eier. Du weißt, wie gern ich Schwarzbrot esse. Wir bekommen es hier ausgezeichnet. Außerdem führen wir Schinken mit, Caviar, Sardinen u.s.w. Butter ist nicht aufzutreiben. Ferner muß der Wagen Büchsen mit Maschinenschmiere für die Bäder, Stricke, ein Beil u.s.w. mitführen, um gegen Beschädigungen gerüstet zu sein.

Von Tomsk nach Krasnojarsk direkt sind 550 Werst; von dort nach Irkutsk 1000 Werst. Daraus kannst Du Dir selbst ein Bild davon machen, was für eine Reise vor uns liegt. Doch bedaure ich noch keinen Augenblick, sie unternommen zu haben. Ich hoffe, Du behältst innerlich Freude und Frieden, wenn ich auch für eine Weile so weit weg von Dir bin. Von Tomsk nach Krasnojarsk sind 27 Poststationen. Auf jeder findet Pferdewechsel statt. Von Krasnojarsk nach Irkutsk sind 40 Poststationen.

Die Arbeit in den Gefängnissen wird immer interessanter, je weiter wir kommen. Männer und Weiber sind sehr dankbar. Wir arbeiten ganz planmäßig ohne alle Verwirrung oder Unordnung. Wir genießen jede gewünschte Freiheit —, niemand greift ein, vielmehr hören Beamte wie Gefangene äußerst aufmerksam zu. Die ganz großen Gefängnisse liegen allerdings noch weit weg jenseits des Baikalsees.

Ich kann nicht sagen, wie lange meine Abwesenheit noch dauern wird. Doch hoffe ich, im Oktober zurückkehren und Dein liebes Gesicht wieder sehen zu dürfen. Ich weiß, Du vergißt mich nicht in Deinem Gebet, wie ich Dich nicht. Gott gebe, daß wir immer eines Herzens erfunden werden darin, Ihn zu verherrlichen und zu Seinem Ruhme zu leben. Es ist eine schwere Prüfung, von aller Verbindung mit der Heimat abgeschnitten zu sein. Ich kann noch nicht angeben, wie wir es fertig bringen werden, jenseits Nertschinsk weiter zu kommen, ob wir umkehren müssen oder zum Stillen Ozean vordringen werden.

Altschinsk, Samstag, den 28. Juni. — Durch Gefahren zu Lande und zu Wasser hat uns der Herr geholfen. Wir kamen heute Nachmittag hier an, besuchten die Gefängnisse und wollen jetzt nach Krasnojarsk weiter. Die Wege sind teilweise sehr schlecht. Das Überschreiten der Flüsse ist sehr anstrengend und schwierig.

Im Gefängnis fanden wir zwei an Hand und Fuß gefesselte Sträflinge, von denen einer ein Lette, der andere ein Este war. Wir hatten nur russische Neue Testamente bei uns. Sie baten uns flehentlich um ein Buch in ihrer Muttersprache. Wir kehrten um und fanden nach längerem Suchen unter den Paketen die gewünschten Bücher. Gott segne sie reichlich!

Telegramm aus Krasnojarsk, den 30. Juni:

Krasnojarsk, Montag, den 30. Juni. — Kargel und ich kamen wohl und gesund hier an, nach einer Tarantaßfahrt von Dienstag abend bis Montag morgen, die mit kurzen Unterbrechungen beständig fortgesetzt wurde. Da unser Gefährt voller Bücher war, und die Wege meist schwer zu passieren, so war unsere Schnelligkeit nicht groß. Aber die drei Pferde zogen uns unverdrossen durch den Kot, über alle die Hügel, durch die Flüsse u.s.w. Wir haben jetzt etwa ein Drittel unserer Tarantaßreise hinter uns; aber wir haben auch durch die Erfahrung der letzten Wochen einen Vorteil. Wir können ziemlich viel Ruhezeit gewinnen, indem wir während der heißen Tagesstunden auf einer Poststation bleiben, dagegen abends und nachts reisen. Die Tage sind meist sehr heiß, und die Nächte recht kalt. Aber bisher hat der gnädige Gott uns bei Gesundheit und gutem Mut erhalten.

Das Land ist in einigen Teilen sehr schön. Interessant ist es überall. Eben sind wir aus einem tiefen Forst aufgetaucht, durch den wir zwei Tage lang gefahren sind. Nur durch den für die Straße ausgehauenen Streifen drang Licht herein von dem schmalen Bande des Himmels über uns. Gras wächst in Menge. Herden von Kühen und Pferden weiden überall. Es gibt merkwürdig viele Blumenarten: Päonien und Ranunkeln wachsen mit vielen anderen in üppiger Fülle, so daß der Rasen davon bedeckt ist. Dazu wimmelt es von Moskitos und kleinen Stechmücken. Eben jetzt wird der Weg an manchen Stellen ausgebessert. Die vielen Arbeiter wissen sich kaum vor den Insektenschwärmen zu schützen. Sie tragen komische Masken, wir müssen unseren Tarantaß geschlossen halten, um vor den Insekten sicher zu sein.

In Marinsk und Altschinsk besuchten wir die Gefängnisse, und von hier aus werden wir das von Minutschinsk besuchen. In dieser Gegend wohnen viele Verbannte. Gestern kam auf einer Poststation ein ganz heruntergekommener Edelmann mit der Bitte, ihm zu helfen. Um irgend eines Vergehens willen ward er nach Sibirien verbannt. Jetzt ist er aus der Haft entlassen und kann sich in Sibirien aufhalten, wo er will. Seine Schwester sitzt in Irkutsk im Gefängnis. Er ist auf dem Wege dorthin. Nach ihrer Freilassung wollen sie zusammen leben und sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie stammen aus einer adligen Familie Litauens. Als wir ihm etwas Kleider und Geld gaben, brach er in einen Strom von Tränen aus.

Der Jenissei, an dem Krasnojarsk liegt, ist ein herrlicher, von Bergen rings umgebener Strom. Hier hat sich die Hand des Menschen noch nicht auf die Schönheit der Natur gelegt. Weitgedehnte Wälder füllen die gewaltigen Täler und bedecken die Hügel. Die unendliche Fülle wilder Blumen, der einzig schöne Sommerhimmel, der zuzeiten überwältigend herrlich mit Farben und Tinten in allen Regenbogentönen geschmückt ist, sind mein unaufhörliches Entzücken. Und dann wieder Gefängnisse, Verbrecher überall, zu Tausenden!

Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual!

Donnerstag, den 3. Juli. — Davidson, der mit uns gereist ist und die meisten Bücher bei sich hat, blieb zurück, weil an dem Tarantaß mit den Büchern ein Rad gebrochen war. Im nächsten Dorfe am Wege mußte ein stärkerer Tarantaß aufgetrieben werden. Da er aber offenbar zu schwer beladen war, so kauften wir für 25 Rubel noch einen zweiten und teilten die Fracht. Das gab auch Aufenthalt. Es hätte keinen Zweck gehabt, wenn Kargel und ich gewartet hätten, und da wir sehr begierig waren, unsere Arbeit in dem Gefängnis von Altschinsk zu beginnen, so fuhren wir am Abend voraus.

Am Sonntag rasteten wir den Tag über in einem Posthause. Wir hatten Gemeinschaft mit der ganzen Gemeinde Gottes im Brotbrechen. Die Nacht hindurch fuhren wir weiter.

Montag kamen wir hier an. Wir dachten, mit dem Dampfer auf dem Jenissei nach Minutschinsk zu fahren; aber Davidson war bei der Abfahrt des Dampfers noch nicht erschienen. Darum beschloß ich, ihn hier zu erwarten, während Kargel allein nach Minutschinsk ging, um dort nach einem verbannten Bruder zu sehen und außerdem das dortige Gefängnis zu besuchen.

Bald nachdem er fort war, kam Davidson an. Er hatte noch einen zweiten Radbruch gehabt. Er brauchte ein weiteres neues Rad und ward durch die Anfertigung desselben zwölf Stunden in einem Dorfe aufgehalten. Wir waren über unser Wiedersehen sehr erfreut; aber ich bin traurig, daß ich Minutschinsk aufgeben mußte.

Ich bin wieder allein. Davidson fuhr gestern abend weiter mit den Büchern, die auf die beiden Gefährte verteilt waren, und dem jungen Manne, den wir aus dem Gefängnis in Tomsk geholt haben. Außerdem hatte er eine Dame bei sich, die er am Ufer eines Flusses sitzen fand, wo sie auf jemand wartete, der sie übersetzen möchte. Sie war dort die größere Hälfte der Nacht über auf und ab gegangen. Es muß für sie furchtbar gewesen sein. Sie ist ihrem Gatten, einem Gefangenen, den ganzen Weg von St. Petersburg her gefolgt. Auf der furchtbaren Reise hat sie viel gelitten. Erst siebenundzwanzig Jahre ist sie alt, aber ihr Haar ist vollständig weiß geworden. Ihr Mann ist hier. Er wird frei gelassen mit der Anweisung, im hiesigen Distrikt in einem kleinen Weiler zehn Werst von der Stadt zu leben. Sie ist wirklich eine Dame; aber ihre Gesundheit ist nach den schrecklichen Erfahrungen völlig geschwächt. Sie wissen nicht, was sie anfangen sollen. Wir haben versucht, ihr Mut einzusprechen. Sicherlich ist ihnen ein besseres Los gefallen, als wenn sie weiter weg verbannt worden wären. Das Land ist gerade jetzt sehr hübsch. Im Winter ist es natürlich kalt. Es muß furchtbar hart sein, wenn man plötzlich mit roher Gewalt aus seinem Heim und seiner Umgebung gerissen und Tausende von Werst weit in ein einsames Land verbannt wird, wo man in einer Holz-Hütte leben soll. Davon haben wir in England gar keinen Begriff.

In jedem Orte, den wir durchfahren, leben die Verbannten in Scharen. Für gebildete und fein empfindende Menschen muß ein solches Leben schrecklich schwer sein.

Ich erwarte Kargels Rückkehr für Sonnabend. Dann hoffen wir am Sonntag die hiesigen Gefängnisse zu besuchen. Wir sprachen am Montag vor und erfuhren, Sonntag wäre der beste Tag, weil dann die Gefangenen zu Hause sein würden. Sonntag Abend hoffen wir nach Irkutsk abzureisen, sieben Tage schnelle Fahrt! Hinter Irkutsk haben wir dann noch eine weite Strecke. Die wichtigsten Gefängnisse liegen jenseits des Baikalsees.

Solch eine Reise werde ich gewiß nicht zum zweiten Male machen. (Er hat es doch getan!) Du wirst darum mein Verlangen verstehen, alles „heute“ zu tun, was sich nur eben tun läßt.

Während der heißen Stunden machen wir stets Rast und fahren von 4 Uhr nachmittags bis 11 Uhr vormittags. So ist es weniger ermüdend. Natürlich schlafen wir im Tarantaß. Das ist etwas ganz Neues. Zuerst fanden wir es sehr schwer, „einzunicken“, wegen der Stöße, des Rüttelns und Schaukelns. Aber jetzt sind wir daran gewöhnt und können gleich und gut schlafen.

Die frische Luft macht einen schon froh. Dazu sind die Bäume, die Hügel und Täler sehr schön, und die Feldblumen entzücken uns. Die Moskitos freilich sind fast unerträglich. Die Eingeborenen tragen eine Art von Netz über dem Gesicht, das aus Pferdehaar gefertigt und wie ein dichtes Sieb geflochten ist. Es wird wie eine Haube über Kopf und Schultern gezogen und gibt dem Träger ein furchtbares Aussehen.

Die Natur zeigt hier eben jetzt ihr freundlichstes Gesicht. Ich möchte wissen, wie es jetzt bei Euch ist, und wie der Garten daheim ausschaut, Rosen und Geranien, die Weinstöcke und Feigen! Ich möchte wissen, ob ich noch zur Zeit nach Hause komme, um dies Jahr etwas von den Früchten unseres Gartens zu kosten! Mein größter Wunsch ist, zu wissen, wie es Dir geht, mein liebes Weib, und was Du jetzt tust!

Laß mich Dir die Läden von Krasnojarsk vorführen! Einige Kaufleute sind enorm reich. Ihre Häuser sind sehr geräumig. Die Läden liegen im Erdgeschoß. Diese Läden sind bisweilen fast wie Ausstellungen. Sie verkaufen alle möglichen Waren in verschiedenen Abteilungen, genau wie bei uns: Spezereiwaren, Modeartikel, Galanteriewaren, Eisenwaren, — fünf oder sechs große Läden unter einem Dach und einem Besitzer. — Reisevorräte muß man kaufen. Denn auf den Poststationen ist nichts zu haben als Milch, Eier und Schwarzbrot. Der Samowar wird hereingebracht, und wir brauen unseren Tee selbst und tischen dabei auf, was wir haben: Sardinen, kalte Zunge und dergleichen. Bisweilen kann man die Leute auf der Poststation dazu bringen, eine Suppe für uns zu kochen. Gemüse gibt’s nicht, außer gelegentlich jungen Salat als besondere Delikatesse. Wir leben ohne Butter, denn diesen Luxus können wir weder für gute Worte noch für Geld haben. Reisen wir ohne Aufenthalt, so können wir etwa 200 Werst auf den Tag zurücklegen.

Samstag, den 5. Juli. — Kargel telegraphiert, daß er den Jenisseidampfer zur Rückfahrt versäumt hat und darum zu Lande zurück muß, eine Entfernung von 500 Werst. So muß ich auf seine Rückkunft warten.

Heute ging ich ins Gefängnis und stellte die Zahl der Gefangenen auf 486 fest. Morgen hoffe ich sie zu besuchen und mit Büchern zu versehen. Der erste Gehilfe des Direktors versteht Französisch. Ich werde mein Russisch zusammennehmen, und er hat freundlichst versprochen, meine Ansprache aus dem Französischen zu übersetzen. So hoffe ich, ohne meinen gewöhnlichen Übersetzer fertig zu werden. Dann bin ich zur Abreise bereit, sobald Kargel kommt. Mich verlangt, weiter zu kommen. Diese Tage der Verzögerung sind nicht leicht. Mir kam der Gedanke, daß der Feind seine Hand im Spiel hat, um uns von den Orten fernzuhalten, die in der größten Dunkelheit und Bedürftigkeit sind.

In diesem Hotel bin ich sehr gut verpflegt. Die Waschgelegenheit dagegen ist beschränkt auf dieser Reise. Auf jeder Poststation findet sich in einem verborgenen Eckchen ein kupfernes Becken, das etwa einen Liter faßt. Daraus tröpfelt einem die Flüssigkeit über die Hände, wenn man auf einen Draht drückt, der aus dem Boden hervorsteht. Darunter ist ein Messingbecken, um das von den Händen tropfende Wasser aufzufangen. Mit dieser Einrichtung muß man sich abfinden. In meinem Hotel bot mir der Kellner an, mir zur Morgentoilette Wasser über die Hände zu gießen. Ich machte ihm verständlich, das genüge mir nicht; und jetzt finde ich in meinem Zimmer eine Schüssel und einen Krug voll Wasser. Wäsche wird nicht geliefert. Ebenso mußte ich für Kargel und mich je ein Federkissen kaufen, das wir im Tarantaß und in den Betten benutzen. In den Gasthausbetten befindet sich nur eine arg harte Matratze und eine Wolldecke. Damit hat man sich mollig zu fühlen.

Morgen werde ich des Herrn Tod verkündigen, indem ich mit der ganzen Schar der Erlösten das Brot breche. Ich weiß, Du denkst an mich, wie ich an Dich.

Sonntag, den 6. Juli. — Heute war ich im Gefängnis. Der Beamte stand bereit, mein Französisch ins Russische zu übersetzen, als ein Gefangener ausrief:

„Das ist ja Dr. Baedeker!“

Alle wandten sich nach dem Kühnen um.

„Ich kenne Sie, Herr“, fuhr er deutsch fort. „Ich habe Sie schon öfter im Gefängnis reden hören. Bitte, lassen Sie mich übersetzen, dann können Sie Deutsch reden!“

Er durfte vorkommen und stellte sich neben mich. Er übersetzte sehr gut, nur war er etwas verlegen, zu den anderen Gefangenen zu reden.

In einer nachfolgenden Unterredung erfuhr ich, daß er ein Judenchrist war, der wegen Nichtbesitz eines Passes im Gefängnis ist. Er erklärt, derselbe sei ihm gestohlen worden. Die Behörden wollen ihn per Schub auf der Etappenstraße nach seiner Heimatprovinz senden. Er gab große Freude über das Wiedersehen mit mir zu erkennen und sagte, er sei ein Gläubiger, der arg zurückgegangen sei. Ich hoffe, er wird sich von Herzen zum Herrn bekehren und wieder angenommen werden.

Im hiesigen Gefängnis befindet sich ein Knabe von dreizehn Jahren, der Sohn eines Mörders. Sein Vater versuchte zu entwischen und tötete zwei Gefängniswärter, ward dann aber angeschossen und erlag der Wunde. Der Junge ist durch die anderen Gefangenen auf schlechte Wege gebracht worden. Er ist zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wegen Verschweigen eines Mordes, bei dem er Augenzeuge war.

Einige politische Gefangene sind auch hier. Einer ist ein kluger Mann, der mehrere Sprachen spricht. Er ist in der Lehre Tolstois aufgewachsen, aber ein Neues Testament nahm er dankbar an. Das Gefängnis ist recht sauber und durchaus nicht überfüllt. Die Beamten setzen mir in keiner Weise Widerstand entgegen.

Kargel hatte keine Schuld daran, daß er den Dampfer verpaßte. Das Boot stromauf kam mit zwölf Stunden Verspätung nach Minutschinsk. Dann mußte er noch nach einem ziemlich entfernten Dorfe fahren, um den armen, verbannten Bruder zu finden. Bei seiner Rückkehr war der Dampfer nach Krasnojarsk schon abgefahren. Dadurch hat er’s nicht leicht gehabt, hat 500 Werst im Postwagen machen müssen, der höchst unbequem ist. Ich hoffe nur, er wird nicht ganz ab sein, wenn er hier ankommt! Wir hatten einige schwere Gewitter mit starken Regengüssen. Die Wege müssen schlecht sein. Er steht, fürchte ich, saure Tage aus. Ich wünschte, er wäre hier; aber ich muß ihn in Gottes Hand stellen. Er weiß, daß wir nichts weiter begehren, als Seine treuen Haushalter zu sein. Sein Wille geschehe!

Hier sind viele Tartaren aus dem Kaukasus, dazu Armenier, Juden, Deutsche, auch ein Este, der mit seinem Weibe große Freude über ein estnisches Neues Testament bezeugte, das ich ihm gab. Von den Sibiriern sind recht wenige imstande, zu lesen; von den Frauen kaum eine. Was für ein unbeschriebenes Blatt muß ihr Leben sein! Sie scheinen sonst intelligente Leute.

Mittwoch, den 9. Juli. — Heute Morgen 2 Uhr kam Kargel nach einer ermüdenden Fahrt an. Er hat etwas geschlafen, und heute Abend werden wir nach Irkutsk abreisen. Wir werden etwa sieben Tage brauchen. Die Entfernung beträgt 1008 Werst, etwa 700 englische Meilen.

Heute Morgen wollen wir den Gouverneur besuchen, um ein Wort für den Judenchristen und den dreizehnjährigen Jungen einzulegen. Hier im Gefängnis ist eine Dame, die beim Besuche ihres Gatten, der gefangen saß, mit ihm die Kleider tauschte, um ihm das Entkommen zu ermöglichen. Jetzt sind beide in Haft. Was für traurige Geschichten hört man alle Tage. „Ein jeglicher sah auf seinen Weg!“

Das Wetter ist jetzt schön geworden. Davidson wird wohl in dieser Zeit Irkutsk erreicht haben. Vielleicht begegnen wir ihm auf seiner Rückfahrt, wenn er unsere Einkunft nicht abwartet.

Wir haben beim Gouverneur vorgesprochen, der sehr freundlich war. In den beiden erwähnten Fällen will er sein Möglichstes tun. Er gab mir außerdem seine Karte, um sofortige Pferdegestellung auf den Stationen zu sichern. Um 6 Uhr abends sollen Tarantaß und Troika bereit sein. Gott segne Dich, mein Herz! Möchte Seine Gegenwart vor uns her ziehen auf dem Wege!

Telegramm aus Irkutsk, den 17. Juli: Ebenezer!

Irkutsk, Donnerstag, den 17. Juli. — Es hätte Dir großes Vergnügen gemacht, uns gestern Abend nach unserer um 10 Uhr erfolgten Ankunft ein treffliches Kotelett mit Salat und Kartoffeln schmausen zu sehen. Das war ein Hochgenuß nach einer so anstrengenden Reise von einer Poststation zur anderen, ohne eine einzige warme Mahlzeit. Unser Tischzettel auf der Reise wies auf: morgens Tee, Eier und trockenes Schwarzbrot, um zwei Uhr ein Liter Milch mit Brot, und abends Tee, Brot und Sardinen. Wir waren dankbar, wenn die frischen Pferde bereit standen und konnten uns nicht entschließen, Zeit zu verlieren.

Die Natur ist immer frisch und neu. Das Land ist in manchen Gegenden wirklich sehr hübsch. Die Feldblumen wurden immer aufs neue bewundert. Oft wünschte ich, Du wärest bei mir, um alle die Schönheit ringsum mitgenießen zu können. Manche Blumen, die in europäischen Gärten eine Seltenheit sein würden, wachsen hier wild. Und dann die Hügel und die Wälder!

Wir kamen, Gott sei Dank, ganz wohl und gesund hier an. Heute Morgen waren Deine Briefe ein Festtag für mich. Mr. Davidson kehrt morgen nach Jekaterinburg zurück. Er ist mir beim Transport der Bücher sehr hilfreich gewesen. Sie haben ihm viel Angst und Unruhe gemacht. Jetzt habe ich sie gottlob alle hier, und wir können mit unserer Arbeit fortfahren. Der gute Kargel hat sich sehr hilfsbereit gezeigt beim Pferdewechsel auf den Stationen, bei Tage wie bei Nacht. Er machte sich auf jeder Haltestelle ganz leise aus dem Tarantaß, damit ich möglichst wenig gestört würde. Einige Stationen lagen 15 Werst auseinander, andere 30 Werst. Die Pferde legten in einer Stunde zehn bis zwölf Werst zurück, so daß er nie ordentlich zur Ruhe kam. Ich bin ihm für seine allseitige Hilfe sehr dankbar. So habe ich denn die lange Reise unter sehr günstigen Umständen zurückgelegt und bin am Ende wohlauf und in bester Verfassung für des Herrn weitere Befehle.

Siebzig Werst von hier, in Alexandrowskaja, steht ein großes Zentralgefängnis mit etwa 2300 Insassen. Wir hoffen, dort einen Besuch zu machen. Davidson will auf seiner Rückfahrt mit uns dorthin gehen, obgleich es ein wenig von seinem Wege abliegt.

Zwischen Krasnojarsk und hier fanden wir Gelegenheit, ein Etappengefängnis zu besuchen, zu 225 Mann zu reden und Bücher zu verteilen. Das war für Kargel und mich wie der Bach im Wüstensand. Auf der Reise hat man ja soviel mit sich selbst zu tun, mit Essen, Sorge für die Bequemlichkeit u.s.w. Zweimal haben wir unseren Wagen dem Stellmacher überantworten müssen. Radbrüche sind auf solchen Reisen etwas ganz Gewöhnliches. Und wir sind besser davongekommen, als die meisten Reisenden.

Irkutsk ist vor einigen Jahren niedergebrannt. Es hat seine frühere Ausdehnung nicht wieder erreicht. Es sind viele schöne Häuser und Läden hier, aber manche Gebäude liegen noch in Trümmern. Die sittlichen Zustände sollen nicht die besten sein. Was darf man auch erwarten, wo die Sünde wuchern darf, während das Evangelium gehindert wird?

Freitag, den 18. Juli. — Heute Morgen war ich beim Gouverneur, wir haben gerade Bücherpakete nach Tschita über den Baikalsee abgesandt, die dort unsere Ankunft erwarten sollen. Der Herr sei gepriesen! Seine Gnade währet ewiglich! Mit mir steht’s aufs Beste. Unser Gott hat Seine Augen zum Guten auf uns gerichtet. Er hat uns gesetzt, Seine Gnadenvorsätze auszuführen. Lob sei Ihm! Auf dem ganzen Wege, Meile um Meile im denkbar einsamsten Walde, haben wir nicht ein einziges wildes Tier, nicht ein übelgesinntes menschliches Wesen zu Gesicht bekommen. Die Nächte sind durchdringend kalt, die Tage recht heiß, aber Tag und Nacht hat Er uns geborgen unter dem Schatten Seiner Flügel. Er hat uns kein Gutes mangeln lassen. Ihm sei Lob in Ewigkeit!

Sonntag, den 20. Juli. — Wir sind in dem großen Gefängnis von Alexandrowskaja gewesen. Am Freitag Abend um 10 Uhr brachen wir hier auf und kamen gestern früh 8 Uhr dort an. Es waren 2500 Gefangene da. Sofort führten uns die Beamten gerade in den heißesten Kampf auf dem „Schlachtfelde Gottes“, wir hatten ebensoviel Freiheit wie nur immer auf den Straßen Englands, nein mehr. Die diensttuenden Beamten hatten alles für uns geordnet. So hatten wir eine Gefangenenversammlung unter freiem Himmel und verkündigten ihnen das Wort freimütig und ohne Rückhalt. Am Abend kamen 400—500 Mann von der Arbeit. Sie waren in einem Viereck aufmarschiert, und Kargel und ich standen auf dem Karren, der unsere Bücher beförderte, und redeten zu allen. Die Beamten hörten gleichfalls aufmerksam zu, und einige waren tief bewegt.

Der ganze Tag ging so hin. Der Direktor nahm uns zum Frühstück mit nach Hause. Als wir endlich fertig waren, fuhren wir zurück nach der Poststation, fuhren 11 Uhr abends ab nach Irkutsk und kamen wohlbehalten um 9 Uhr heute Morgen an. Es war ein glücklicher, ausgefüllter Tag, und wir fühlten uns danach köstlich müde.

Ich entdeckte einige erfreuliche Spuren früherer Wortverkündigung. Es war ein junger Mann aus Dorpat da, der mich dort einige Jahre vorher reden gehört hatte. Er war Student. Bei der Arbeit in einem chemischen Laboratorium hatte er sich ein Quantum Blausäure verschafft, womit dann ein anderer einen Mord begangen hatte. Dafür war er nach Sibirien verurteilt worden. Er hatte sechs Jahre Gefängnis und Verbannung bekommen. Vier Jahre war er schon in Haft. Als er uns sah, war seine Freude groß. Wunderbar, er und der Judenchrist, den ich in Krasnojarsk sah, hatten miteinander im Gefängnis gesessen. Da beide mich kannten, hatten sie miteinander von dem geredet, was sie durch meine Predigt an verschiedenen Orten zu hören bekommen hatten. Es ist sehr demütigend, zu sehen, wie das „Brot, das ins Meer geworfen ist, wiedergefunden wird nach langer Zeit“. Der Herr sei gepriesen für diese Zeichen Seiner Gnade!

Heute kam Euer Telegramm: Weston-Super-Mare drahtet Halleluja!

Unser Tag war recht besetzt mit Gefängnisbesuchen hier in Irkutsk, und wir sind noch nicht fertig. Morgen früh gehen wir wieder hin. Wir sahen heute zwei politische Gefangene, Frauen. Anscheinend waren es ruhige Leute. Einige „Sektierer“ waren im Gefängnis, deren Sache noch entschieden wird. Es sind Christen, die um der Wahrheit willen gebunden sind. Sie wurden verhaftet, weil sie gegen Heiligenbilder und Ikonen geredet haben. Gott sei ihren Anklägern gnädig!

Ein Mann weinte vor Freude, als wir ihm ein Neues Testament gaben. Er hatte sich eins von einem Mitgefangenen geborgt; aber jetzt ward sein großer Wunsch erfüllt: er besaß das Buch, das er so brennend begehrte. Traurig und quälend waren viele Geschichten, die wir hörten. Aber wer ungerecht leidet, hat doch den Sieg. Ein großer Teil der Gefangenen konnte nicht lesen. Viele von ihnen sind in Sünden verhärtet. Eine Baronin, die ihren Gatten ermordete und dann einen Lakaien heiratete, redete, als ob sie eine Christin sei. Es war nichts als totes Luthertum. Manche solcher Verbrecher bezeichnen sich selbst als politische, um sich Sympathien zu sichern. Es ist nicht immer leicht, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Den Jungen, den wir in Tomsk befreiten, haben wir seiner Mutter wiedergegeben. Gott in Seiner Güte verherrliche die Macht Seiner Gnade und lasse die Saat des Wortes reiche Frucht schaffen, die wir unter den Gefangenen ausstreuten! Wir sahen wieder einige Knaben als Gefangene. Einer war ein ausgelernter Taschendieb. Die Zeit, die sie mit den anderen Gefangenen in gemeinsamer Haft zubringen, bedeutet für sie einen gewissen Fortschritt auf der Bahn zum schlimmsten Verderben. Aber es sind für ihre Isolierung noch keine Vorkehrungen getroffen.

Endlich verließen wir Irkutsk. Der Gouverneur war so freundlich, mir einen „Ausweis“ zu geben, der uns Postpferde sichert, auf die wir sonst lange Stunden zu warten hätten, wie die anderen Reisenden tun müssen. Drei Poststationen weiter sind wir am Baikalsee. Unser Tarantaß wird auf dem Dampfer übergesetzt. Das Reisen im Tarantaß ist so übel nicht, wenn die Wege einigermaßen im stand sind. Natürlich kann man seine Kleider dabei nie ablegen. Mein Lederrock ist mir sehr angenehm. Darüber trage ich meinen dünnen Überrock, wird es kalt, so habe ich meinen Berliner Rock bei der Hand. Der Pelzrock ist noch gut verpackt. Ich erzählte Dir, daß die Bücher als Ballast unseres Wagens und als Unterlage unserer Sitze dienen. Die Mantelsäcke liegen vorn im Wagen, und oben auf diesem Gepäck haben wir uns häuslich eingerichtet, liegen und schlafen wir auf der Reise. Die sibirischen Postpferde laufen schnell; die Kutscher treiben sie an wie toll, nur mit Reden und Schreien.

Bis hierher ist uns wunderbar geholfen! Er sei gelobt!

Vom Baikalsee nach Stretensk (1000 Meilen) im Tarantaß.

Spät in der Nacht kamen wir am Baikalsee an. Um 5 Uhr gingen wir am nächsten Morgen an Bord und gelangten nach siebenstündiger Überfahrt ans andere Ufer. Es war nebelig; die Berge um den See blieben verhüllt, und es war wenig anderes zu sehen als die tiefen, dunkeln Gewässer.

An Bord trafen wir einen russischen Priester, der mit seiner Familie nach Kamtschatka ging. Sie kamen von St. Petersburg. Er wird als Missionar ausgesandt. Wir gaben ihm vierzig Neue Testamente, wofür er äußerst dankbar war. Er scheint ein wahrer Christ zu sein.

Zwei jüdische Kaufleute, die mit uns nach Irkutsk gefahren waren und dann vor uns den Baikal kreuzten, hatten einen schweren Unfall. Sie hatten ihren Tarantaß mit Waren vollgepackt. Auf dem Baikaldampfer legte sich der eine, der sehr ermüdet war, in den Tarantaß auf die Waren und schlief ein. Auf der Höhe des Sees begann der Dampfer so stark zu rollen, daß der schlafende Kaufmann aus seinem Wagen fiel und in den See geschleudert wurde. Ehe Hilfe zur Stelle sein konnte, war er ertrunken. Sein Begleiter, ein Kommis, hat nun die schmerzliche Pflicht, der Frau und den sieben Kindern die traurige Nachricht zu bringen. Er schien ein freundlicher Mann zu sein, und Kargel hatte eine ernste Unterredung mit ihm. Die Psalmen Davids nahm er bankbar an. „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen!“ Aber für uns gibt’s Leben auch im Tode! Ehre sei dem Lamm!

Telegramm aus Tschita, den 29. Juli: Ebenezer!

Tschita, Mittwoch, den 30. Juli. — Da sind wir wohl und munter. Gestern um 5 Uhr nachmittags kamen wir an, genau fünf Tage, nachdem wir Irkutsk verlassen hatten. Wir sind mit nur kurzen Unterbrechungen gereist. Hierher wurden Baron Rosca und seine Mitverbannten, die Dekabristen, verschickt. Die Bevölkerung ist 4000 Köpfe stark, meist Verbannte und ihre Nachkommen.

Hier beginnt nun wirklich die Gegend der Gefängnisse.

Das hiesige Gefängnis ist nur klein, aber wahrscheinlich werden wir morgen nach Nertschinsk gehen, wo sich die Silberminen befinden, in denen die Gefangenen in Scharen arbeiten.

Die Szenerie zwischen dem See und hier ist wirklich wunderschön, besonders am Selinga-Fluß. Das Blumenmeer, das wir sahen, würde Dich auch entzückt haben. Jeden Tag glaubten wir, neue Arten zu erspähen. Unter vielen anderen gab’s Edelweiß und noch andere Alpenblumen mit ihren tiefen Farbentönen. Es war mir eine Wonne, sie zu sehen, und ich ließ öfter den Kutscher halten, während ich seltene Blüten pflückte. Leider verwelkten sie bald.

Auf dem Wege hatten wir einige interessante Begegnungen. Vergangenen Sonntag rasteten wir in einem Burjätendorf. Der erste Diener auf der Poststation war ein bekehrter Burjät, und durch ihn fanden wir Einlaß in einigen Burjätenjurten. Er übersetzte bei unserem Gespräch mit ihnen. Ich sprach deutsch, Kargel übersetzte ins Russische und der Burjät ins Mongolische. Es war sehr nett dort. Auch verbanden wir uns mit Dir und der Gemeinde Gottes, indem wir durch das Brechen des Brotes den Tod des Herrn verkündigten. Dann fuhren wir ostwärts weiter. In Berchne Udinsk besuchten wir das große neue Gefängnis.

Gestern Abend sprachen wir bei Dr. Alexejeff vor, dessen Frau eine Engländerin ist. Sie haben uns für heute um 2 Uhr zu Mittag gebeten. Sie setzten mir einen englischen Kuchen vor, das war ein Schmaus! Eben waren wir beim Vizegouverneur und wurden sehr herzlich empfangen. Der Gouverneur ist abwesend. Er lud uns ein, ihn um 6 Uhr ins Gefängnis zu begleiten. Es sind nur wenige Gefangene hier. Morgen hoffen wir weiter zu reisen nach Nertschinsk. Da ist der wahre Mittelpunkt der Gefängnisse, und da werden wir unserer Bücherbürde ledig werden. Nertschinsk liegt 267 Werst von hier, und ich denke, wir werden zwei Tage unterwegs sein.

Tschita ist eine der höchstgelegenen Städte in Sibirien. Es liegt abseits in einem Tale, hoch in den Bergen, 4000 Fuß über dem Meer. Aller Lebensunterhalt muß von Osten oder Westen mit ungeheuren Kosten heraufgebracht werden. Getreide wächst hier nicht mehr.

Unser Hotel bietet eine sehr dürftige Unterkunft. In der Bequemlichkeit ist es weit zurück, und nur in den Preisen fortgeschritten. Aber so etwas nehmen wir mit guter Laune hin. Betten? — Gibt’s nicht! Wir haben eine wacklige, abgemagerte Matratze, die so eben über die harten Bretter hingelegt ist. Ich bin sehr dankbar für meine Luftmatratze und für die Bettücher und Handtücher, da nichts von Bettwäsche oder Kissen geliefert wird.

Die Burjäten ließen uns ihren Tee kosten. Sie kochen den Tee in Milch. Er sieht wie Suppe aus, ist fade und nicht besonders reinlich.

Nertschinsk, Sonntag, den 3. August. — Gestern Nachmittag 5 Uhr kamen wir hier an, bestellten uns im Hotel Essen und gingen sofort zum Gefängnis, um zu hören, wieviel Insassen es habe. Nach der Rückkehr aßen wir eine erfrischende warme Suppe und ein Kotelette, besuchten dann wieder das Gefängnis und kamen gut an. Es ist nicht groß, nur mit etwa 105 Mann belegt. Die Gebäude sind in sehr baufälligem Zustande. Sie sollen erneuert werden. Wir sind jetzt im Mittelpunkt des sibirischen Gefängnis-Systems. In einem Umkreise von vielleicht 500 oder 600 Werst liegen Akatui, Algatschi, Pakrowsky, Terentui, Alexandrowsky, Zawod und Kara. Das ist unser Programm für diese Woche, wir müssen eine große Menge Bücher nach diesen Gefängnissen mitnehmen, und es wird schwierig sein, genug Pferde aufzutreiben, um sie von Ort zu Ort zu befördern. Ein paar Tage lang werden wir eine ganze Karawane haben, einen Tarantaß und zwei gedeckte Karren mit den Büchern! Aber wir sind in guter Hut, denn Er hat uns gesandt, und Er ist mit uns, dessen Hilfe immer nahe ist zur Zeit der Not.

Heute wollen wir uns mit Dir und dem ganzen Hause Gottes verbinden im Gedächtnis des Todes des Herrn.

Ich bin recht dankbar für diesen Tag hier in Nertschinsk. Die Gegend, durch die wir kamen, ist herrlich, teilweise sehr wild; furchtbar starrende Felsen und eine Einsamkeit, in der man selten ein menschliches Wesen sieht. Die Blütenpracht ist entzückend, man ist wie in einem großen Garten. Blumen stehen in reichster Fülle überall, besonders reizende tiefblaue, goldgelbe, und wieder tiefrote und violette. In den Wäldern wohnt das Schweigen. Selten nur ist ein Vogel zu sehen oder zu hören, und kein Wild zeigt sich; aber Gott ist überall zu sehen in Seinen Wunderwerken. Wir sind jetzt auf dem östlichen Abhang des „Apfelbaumgebirges“, und die Wasserläufe strömen nach dem Stillen Ozean. Die Bevölkerung besteht aus Mongolen, Tungusen und Burjäten; auch wenige Chinesen sind darunter.

Alle Beamten, hohe und niedere, machen sich ein Vergnügen daraus, uns bei unserer Arbeit zu helfen. Wir haben in den Gefängnissen unumschränkte Freiheit, das Evangelium zu predigen. Die Priester zeigen sich nicht. In einem großen Gefängnis erschien der Priester bei unserer Ankunft und schlug vor, daß alle unsere Bücher in der Bibliothek aufgestellt würden! Darauf gingen wir nicht ein. Da machte er sich rar, und wir sahen ihn nicht wieder.

Wir hatten eine so gute Nachtruhe, daß wir uns für die neue Reise völlig frisch fühlen. Möchte der treue Herr Dein Herz im vollen Frieden erhalten! „Er ist unser Friede.“ Grüße alle Kinder Gottes!

Stretensk, Dienstag, den 5. August.— Hier sind wir an der Landestelle des Amurdampfers; aber wir haben noch die Gefängnisse im Bergwerksdistrikt und Kama zu besuchen, bevor wir zu Schiff gehen können. Wir hoffen, am 22. August unsere Reise bis zur Mündung des Flusses an der Ostküste dieses Erdteils anzutreten.

Den Sonntag brachten wir in Nertschinsk zu und kamen dann in unserem Tarantaß hierher, von unseren beiden Karren begleitet. Es ist für mich eine schwere Zeit, in der ich so ohne Nachricht von Dir bin. Es ist eine Probe für Glauben und Geduld. Ich darf gar nicht sagen, wie groß meine Sehnsucht ist, Dich, Harry und Emmy nur einmal einen Augenblick zu sehen.

Mittwoch, den 6. August. — Wir haben uns entschlossen, die Bergwerke zu besuchen, in unserem eigenen Wagen hinzufahren und dann hierher zurückzukommen. Die Stadt ist jetzt eben voller Geschäftigkeit, Reisende kommen jeden Tag und warten auf den Dampfer. Unser Hotel liegt dicht an der Landestelle. Morgen früh um 8 Uhr sollen die Pferde hier sein. Ich muß deshalb für die Reise rüsten. Unsere Bücher müssen im Tarantaß verpackt werden. Das ist keine Kleinigkeit. Denn wir müssen etwa 1000 Stück mitnehmen. Die Last muß nach jedem Gefängnisbesuch anders verteilt werden, und wir haben jetzt die Kisten zu versorgen, die von Irkutsk vorausgesandt wurden. Einige werden wir den Amur hinunter voraus schicken, und den Rest hoffen wir in den Gefängnissen und Bergwerken abzusetzen.

Telegramm aus Stretensk, den 16. August: Ebenezer!

Stretensk, Samstag, den 16. August. — Wohl und gesund sind wir heute früh von unserer Expedition ins Gebirge und in die Bergwerke unter die zur Zwangsarbeit verurteilten Verbrecher zurückgekehrt. Unser Tarantaß hat sich trefflich bewährt. Wir sind dankbar, daß wir ihn mitgenommen haben und darin die Bücher für die verschiedenen Stationen. In einem Postwagen hätten wir die Reise überhaupt nicht ausgehalten. Die Wege waren teilweise schlecht. Wir waren sehr dankbar, als wir auf der ersten Gefangenenstation unser Gefährt um einige Pakete erleichtern konnten. Diese Station erreichten wir nach einer Reise von 36 Stunden, bei der wir im Tarantaß schliefen.

Das erste Gefängnis ist Alexandrowskaja Zawod. Das zweite ist Algatschi. Das dritte ist Kutamara, wo ein Schmelzofen steht. Das vierte ist Kadaja, wo wir in ein Silberbergwerk einfuhren. Das fünfte ist Gorni Zerentui, das größte von allen. Das sechste ist Malzawskaja Rodnik; das siebente endlich Nertschinskaja Zawod.

Wir konnten gut arbeiten und hatten unbeschränkte Freiheit, zu predigen und mit den Männern zu reden. Einige von ihnen waren tief bewegt. In keinem dieser Gefängnisse waren je vorher Bibeln oder Testamente verteilt worden. Sie wurden sehr dankbar angenommen, und die Beamten waren sehr freundlich. Ihre Freundlichkeit hätte gar nicht größer sein können. Ich bin Gott so dankbar, daß wir diese Orte haben besuchen dürfen. Niemals ist jemand dort gewesen, der ein Interesse an den Gefangenen gezeigt hätte, von denen die meisten hartgesottene Verbrecher, Mörder u.s.w. sind.

Es ist ein trauriger Anblick, so viele Männer und Frauen zu sehen, die sich nicht selbst in Zucht halten können, so daß sie bewacht werden müssen, um sie von Gewalttaten gegen ihre Mitmenschen abzuhalten. Sie sind nicht in Ketten, einige wenige der allerschlimmsten ausgenommen. Ein Mann war an einen Schiebkarren geschmiedet; doch das war ein besonderer Fall. Einige Verbrecher arbeiten in den Silberminen; aber ihre Arbeit ist keineswegs härter als die eines gewöhnlichen Arbeiters. Sie haben achtstündige Arbeitszeit. Im Schmelzofen arbeiten sie zwölf Stunden. Ihre Behandlung ist weder hart noch grausam. Sie sind gut genährt und gekleidet, und nachdem sie sich eine Zeitlang gut betragen haben, bekommen sie Freiheit, im eigenen Hause zu wohnen und für sich selbst zu arbeiten. Sie haben dann täglich zum Namensaufruf zu erscheinen.

Die Bergwerke sind dicht an der Grenze der Mandschurei. Die Gegend ist sehr gebirgig und bis auf die Strafkolonien ganz unbewohnt. Wenn die Kolonisten ihre Strafzeit überstanden haben, so leben sie in dem Dorfe, welches dem Gefängnis zugeteilt ist. Da sieht man selten ein Lächeln auf einem Gesichte. Sie hörten sehr aufmerksam auf unsere Ansprachen. Verschiedene weinten. Manche gaben ihrer Dankbarkeit Ausdruck. Einige fielen auf ihr Angesicht und dankten Gott. Wir haben endlich einen Winkel auf Erden gefunden, wo das Evangelium noch nie in irgend einer Gestalt gehört worden ist. Es sind, Kara eingeschlossen, 10000 Männer und Weiber an diesen Orten. Einige von den Gefängnisgebäuden sind sehr schlecht; aber man ist dabei, neue zu errichten. Bei alledem ist das Gefängniswesen in diesen Gegenden jetzt in sehr guten Händen, wie es auch früher damit gestanden haben mag.

Die Gegend ist sehr wild. Hohe, kahle Berge, tiefe Täler und Schluchten, die sich weite Strecken in absoluter Einsamkeit hinziehen. Die Wiesen und Hügelabhänge sind mit den schönsten Blumen bedeckt. An einigen Abhängen wachsen massenhaft Päonien, wie wir sie in unserem Garten ziehen, und viele andere prächtige Blumen.

Die chinesische Grenze ist an manchen Punkten nur acht bis zehn Werst entfernt. Manche Gefangenen wagen einen Fluchtversuch. Aber sie werden gewöhnlich wieder eingefangen, und ihre Strafzeit wird verlängert; oder sie gehen auf dem Wege zu Grunde, weil keine lebende Seele da ist, die ihnen helfen könnte. Überschreiten sie die Grenze, so verhaften die Chinesen sie, prügeln sie und schicken sie den russischen Behörden zurück.

Der Direktor der Gefängnisse empfing uns sehr freundlich und erleichterte es uns, alles zu sehen. Der Gouverneur in Tschita hatte ihm von unserer Ankunft Kenntnis gegeben. Beim Betreten des Gefängnisses in Gorni Zerentui fand ich, daß zwei Mann als besondere Strafe Dunkelarrest erhalten hatten. Auf meine Bitte wurden sie gleich herausgelassen. Wir stiegen an den Schachtleitern in ein Silberbergwerk hinab und sahen die Erzadern im natürlichen Zustande. Die Beamten berichteten über die Art, wie die Gefangenen arbeiten. Jeder Mann bekommt ein bestimmtes Maß Arbeit, das er bei wirklichem Fleiß in sechs Stunden bewältigen kann. Ist er faul, so braucht er acht Stunden und länger. Nach allem, was ich gesehen habe, habe ich ein Recht, manche übelwollende Berichte über die sibirischen Gefängnisse für unglaubwürdig zu erklären. In einigen Tagen hoffen wir auch die politischen Gefangenen in Kara zu sehen.

Es ist mir immer wieder sehr schwer, daß ich der Freude und des Trostes Deiner Briefe beraubt bin. Ich denke beständig an Dich. Ebenso an Harry und Emmy, von der ich hoffe, sie wird befestigt werden in ihrem Vorsatz und brauchbar für den Herrn. Gott segne Dich und setze Dich mehr und mehr zum Segen, mein teures Weib!

Kargel ist in vielen Dingen sehr hilfreich. Ich bin bei ausgezeichneter Gesundheit geblieben, Gott sei Dank! und habe die ganze Zeit über an keinem Guten Mangel gehabt. Bei der Reise durch ein von Verbrechern bewohntes Land haben wir keinen feindlichen Blick gesehen, kein wildes Tier, kein Unfall ist uns begegnet. Nicht ein Haar auf dem Haupt ist uns gekrümmt worden. Unser Vater im Himmel sei gepriesen dafür!

Sonntag, den 17. August. — Gott schenkt uns Freude in der Gemeinschaft der Heiligen.

Donnerstag, den 21. August. — Wir sind in Kara gewesen, und das ist die Höhe der sibirischen Gefängnisse. Hier sind die schlimmsten Verbrecher, Männer und Weiber, die behaupten, sie hätten Heimat und Namen und ihre ganze Vergangenheit vergessen. Wie ist das möglich! Man bezeichnet sie auch wirklich mit einem Worte, das „Nichtswisser“ bedeutet oder „Einer, der alles vergessen hat“. Wir sahen auch die „Politischen“. In einem Gefängnis befanden sich 33 ehemalige Revolutionäre; in einem anderen acht Frauen. Es waren gebildete und kluge Leute. Eine der Damen war schon acht Jahre dort. Sie haben viele Bücher zum Lesen und dürfen schreiben. Sie kochen für sich und tun alle erforderliche Hausarbeit. Aber sie waren sehr nervös und erregbar; sie sind ja auch durch so viele Leiden gegangen. Wir hörten in Kara die ganze Geschichte der Dame. Sie ist mit der Plet geschlagen worden; aber sie ist auch ein verzweifelter Charakter.

Die Beamten haben ihre schwere Not mit den „Politischen“. Wir boten ihnen Neue Testamente an. Die Männer erklärten, sie hätten Bibeln; nur einer nahm ein Buch. Die Frauen nahmen alle dankbar Neue Testamente an, und wir hatten ein förderliches Gespräch mit ihnen.

Nach Uz Kara fuhren wir mit dem Dampfer und nach Nischni Kara (15 Werst) mit Postpferden. Die Arbeit in allen Gefängnissen macht große Freude. Die armen Geschöpfe sind so dankbar für das verkündigte Wort; ebenso manche Beamte. Sie sagen: Könnten unsere Gefangenen nur zwei oder dreimal im Jahre eine solche Ansprache hören! Das würde schon einen großen Unterschied gegen ihr jetziges Betragen bewirken. Ihre Priester tun praktisch nichts für sie. Sie sind sich selber und den Mächten des Bösen in ihnen und um sie her überlassen. Ein Mann in Uz Kara weinte bitterlich. Er bekannte, daß er seine Strafe verdiene. Seine Frau und seine Kinder wohnen in London. Er bat dringend, ich möchte sie bei meiner Rückkehr besuchen. Ein armer Deutscher flehte unter Tränen um ein deutsches Neues Testament. Wir konnten ihm keines geben, da alle Bücher in anderer als russischer Sprache bereits verteilt waren. Er konnte aber russisch lesen, und wir gaben ihm ein russisches Exemplar.

Ich verlange nach Briefen von Dir, liebe Frau. Aber ich muß Geduld üben. Hätte ich über die sibirische Reise genauer Bescheid gewußt, so hätte ich Dir verschiedene Adressen für Deine Briefe angeben können, statt daß ich mir die Hoffnung auf Briefe von Dir bis Japan abschnitt. Wir haben öfter unter Gebet die Frage erwogen, ob wir zu Lande nach Europa zurückkehren sollen. Wir sind aber zu dem Schluß gekommen, daß das fast unmöglich sein würde. Im September setzen bereits Winter und Eis ein. Der einzige Weg ist die Seefahrt über Japan. Ich möchte nie wieder für so lange Zeit und so weit von Dir weggehen. Aber ich bin doch nicht gleich dem Jona. Mein Gott ist bei mir und rüstet jeden Schritt auf dem Wege für mich zu, wie Er bis hierher getan hat. Mir ist wunderbar geholfen worden.

Wir haben unseren Tarantaß für 80 Rubel verkauft. Das erste Gebot lautete auf 75 Rubel, hier stehen viele Gefährte zum Verkauf. Sie werden von Juden aufgekauft, gereinigt, ausgebessert und bemalt, so daß sie wie neu aussehen, und dann wieder verkauft. Es scheint hart, so fühllos mit dem wackeren alten Kasten umzugehen; aber das ist eben sein Los. Er hat uns gute Dienste geleistet, hat nicht nur uns getragen, sondern auch manches hundert Bücher. Wir fühlen wirklich eine Anhänglichkeit an das Gefährt, in dem wir so oft unsere Knochen gespürt haben, in dem wir aber auch viel Freude und Trost gehabt haben, in dem viel Lobpreis Gottes und Gebet erklungen ist. Im Bergwerksdistrikt wären wir wohl gar nicht ohne unseren Wagen fertig geworden. Er war unser Haus, unser alles.

Von Stretensk auf dem Dampfer nach Sachalin.

(1800 Meilen.)

Pokrowskaja, an Bord, Dienstag, den 26. August.— Wir sind jetzt auf dem Schilka. Ein Telegramm von Kapitän Etholén in St. Petersburg verschafft uns freie Fahrt nach Nikolajewsk. Natürlich bezahlen wir die Verpflegung. Es ist trotzdem eine große Vergünstigung, denn wir werden 14 Tage zur Talfahrt brauchen. Ich lernte Kapitän Etholén in Helsingfors kennen. Er ist einer der Direktoren der Dampfschiffsgesellschaft. Es wurde uns sofort eine Kabine angewiesen, und wir werden mit aller Aufmerksamkeit behandelt. Es wird eine leichte, aber langwierige Reise sein. Wir haben unsere Kabine für uns allein, was uns die Möglichkeit zur Lektüre und zum Gebet, sowie zum Schreiben gibt.

Morgen werden wir den heraufkommenden Dampfer treffen, mit dem ich diesen Brief zu befördern hoffe. Der Schilka ist an einigen Stellen sehr seicht, und die Schiffahrt schwierig. Wir hoffen morgen den Amur zu erreichen, der mehr Wasser hat, da er den Argun mit aufnimmt, der aus dem Herzen der Mongolei kommt. Wir gingen gestern Nachmittag 6 Uhr an Bord. Die Verpflegung ist gut, und die regelmäßigen warmen Mahlzeiten sind ein großer Genuß nach unserer Lebensweise im Tarantaß. Der Samowar war damals zu allen Zeiten der beste Tröster, dazu Eier und Schwarzbrot; aber das bekommt man nach einiger Zeit satt. Immerhin, ich lerne beides: übrig haben und Mangel leiden, und der Herr füllt allen unseren Mangel reichlich aus. Ich schreibe in meiner Kabine, die Schreibmappe auf den Knieen. Der Dampfer zittert stark, und die Tinte fließt nicht recht. Herzliche Grüße!

Blajowjeschtschensk, Donnerstag, den 28. August. — Gestern Nachmittag sind wir hier angekommen. Wir mußten den Dampfer wechseln und schleppten gleich unser Hab und Gut auf das neben uns liegende Boot.

Nach der Landung gingen wir dann zu einem Dänen, an den uns der Gouverneur in Tschita eine Empfehlung gegeben hatte. Wir fanden einen Kaufmann, in dessen Hause Versammlungen gehalten werden, und sahen uns zu unserer großen Überraschung und Freude sehr bald in einem Kreise lieber Brüder. Die Leute hier sind Molokanen. Manche von ihnen sind bekehrt und getauft worden. Gleich ward eine Versammlung gehalten, und es ward eine große Erquickung für uns.

Heute wollen wir den Gouverneur aufsuchen, in das Gefängnis gehen, um zwei Uhr bei M. Paulsen, dem Dänen, essen, um 7 Uhr bei dem molokanischen Kaufmann zum Abendbrot sein und hernach eine Versammlung halten. Der Dampfer geht morgen früh um 10 Uhr.

Blajowjeschtschensk ist ein aufstrebender Ort, erst 1854 gegründet, aber heute schon mit mehr als 20000 Einwohnern. Eine Goldmine in der Nachbarschaft hat viel Volks angezogen. Der Name der Stadt bedeutet „Auferstehung“. Der erste, den ich gestern anredete, der Agent der Dampfschiffsgesellschaft, sprach englisch! Der Amur ist ein schöner Strom. Er bildet die Grenze zwischen Rußland und der Mandschurei. Vier Tage lang habe ich China zur Rechten und Rußland zur Linken gehabt und viele Gebete für China und ebenso für Rußland emporgesandt. Jenseits des Stromes liegt Aigun, eine Mongolenstadt.

Die Gegend an beiden Ufern des Amur ist ganz reizend. Aber beide Länder sind recht dünn bevölkert. Wir sahen an einer Stelle aus hohen Felsen Steinöl ausfließen. Die Vegetation ist anders als die frühere: Eichen mit sehr schönen, hübsch geschnittenen Blättern und sibirische Apfelbäume mit Früchten so klein wie Haselnüsse.

Meine Gedanken sind viel bei Emmy, die bald auf des Herrn Erntefeld ausziehen und in China für Ihn Garben schneiden wird. Möchte der Herr unser Opfer gnädig annehmen und unser liebes Kind segnen!

Das Land ist sehr schön, und das Volk genießt größere Freiheit als in Rußland. Der Boden birgt große Schätze, die noch unberührt sind. Die Chinesen machen sich auf allerlei Weise nützlich und sind als Arbeiter geschätzt. Der mächtige Amur ist sehr fischreich, und die Gegend an manchen Stellen von wilder Großartigkeit; aber Menschen sind unendlich selten und weit verstreut.

Nach der Abfahrt von Blajowjeschtschensk kreuzten wir den Strom und landeten in der Chinesenstadt Aigun, wo wir Gelegenheit hatten, echt chinesisches Leben zu sehen. Die Leute starrten uns an. Mein Bart erregte ihre Aufmerksamkeit und Bewunderung. Wir schauten in einige Häuser hinein und sahen einen Tempel an. Als einige Männer meinen Bart anstaunten, fragte einer nach meinem Alter. Ich nannte es und fragte nach dem seinen. Zu meinem Erstaunen sagte er: Zwanzig Jahre! Er sah ganz alt und verwittert aus und war Opiumraucher. Die Bevölkerung scheint im allgemeinen gutgeartet und zufrieden.

In Chabarowsk, der Regierungshauptstadt, suchte ich den Gouverneur auf, an den ich Empfehlungsbriefe hatte. Dann besuchten wir die Gefängnisse und füllten so unseren Aufenthalt aus. Wir mußten hier wieder den Dampfer wechseln. Die meisten Mitreisenden wenden sich jetzt südlich nach Wladiwostok, wir fahren nach Norden, immer noch auf dem Amur, der sich hier wie ein Meeresarm verbreitert und in Nikolajewsk, 400 Meilen weiter, mündet.

Telegramm aus Nikolajewsk, 5. September:

Ebenezer!

Nikolajewsk, Freitag, den 5. September. — Der Herr hat uns gestern Nachmittag auf dem Amurdampfer Alexei gesund und wohlbehalten hierhergebracht. Wir genossen an Bord alle Aufmerksamkeit und Behaglichkeit, dank dem freundlichen Telegramm Kapitän Etholéns. Jetzt haben wir eine lange, schwere Wartezeit vor uns. Der Dampfer Baikal geht erst am 18. September nach Sachalin. Wir kommen infolgedessen später nach Tokio und sind soviel länger ohne Nachricht von Hause. Was mich das kostet, darf ich gar nicht sagen. Bei der Ankunft waren wir ganz unschlüssig, was wir tun sollten. Es ist weder ein Hotel noch eine Pension in der Stadt. Der Polizeimeister und der Agent, an den ich Empfehlungsbriefe hatte, hielten sich zurück. Aber ein amerikanischer Kaufmann war so freundlich, uns zu Gaste zu bitten. Morgen früh gehen wir zu ihm. Hier geht dreimal im Monat die Post. Die Bücherkisten, die mir von Odessa aus geschickt worden sind, kommen gerade zu rechter Zeit, um die Gefängnisse aus Sachalin zu versorgen. Ich bin sehr dankbar, daß ich diese Reise habe machen dürfen, und daß Du mich hast ziehen lassen in diese Arbeit für den Herrn. Du wirst gewiß auch Deinen vollen Teil von der Beute empfangen!

Nikolajewsk, Sonntag, den 7. September. — Hier ist das große Rußland zu Ende. Sibirien ist ein schönes Land und könnte es an Fruchtbarkeit jedem anderen gleichtun. Es fehlt nur die Bevölkerung, um die weiten Felder zu beackern, die prächtigen Wiesen zu bebauen, die dichten Wälder mit ihren Tausenden von Quadratmeilen zu fällen und in der Erde nach edlen Metallen zu graben. Der Tag mag wohl nach Gottes Vorsehung noch kommen, wo die Millionen des übervölkerten Europa ebenso ostwärts wandern wie jetzt nach Westen.

Die Reise vom Ural zum Stillen Ozean durch den asiatischen Kontinent muß für den Touristen oder Gelehrten ihren eigenen Reiz haben. Wir machten jeden Schritt auf der Reise mit einem ernsten Vorsatz und belastet mit heiliger Verantwortlichkeit. Denn auf dem ganzen Wege gibt es Verbannte und Gefangene, Seelen, die den ersten Anspruch haben auf das Evangelium von der Freiheit für die Gebundenen. Unser Interesse wuchs und vertiefte sich, je weiter wir kamen. Aber es erreichte die größte Stärke in dem Bergwerksgebiet von Nertschinsk und Kara unter den Verbrechern in Zwangsarbeit und unter den politischen Gefangenen und Verbannten. Ich habe das unschätzbare Vorrecht gehabt, auf dieser Reise etwa 12000 Exemplare des Wortes Gottes zu verteilen und Sein Evangelium mehr als 40000 Gefangenen zu verkündigen.

An Bord des Dampfers vor Yokohama. - Gott hat uns in der Tat wunderbar geführt und versorgt. Donnerstag, den 11. September verließen wir Nikolajewsk und fuhren über den Tartarensund nach Sachalin. Am 13. September 5 Uhr früh kamen wir an. Da der Dampfer Kohlen einnahm, so hatten wir Zeit genug für das Gefängnis in Alexandrowskaja. Hier hat der Gouverneur der Insel seinen Wohnsitz. Dann brachte uns ein kleiner Dampfer nach Port Dué. Wir verteilten einige hundert Bibeln unter die Gefangenen und verkündigten ihnen das Evangelium. Die übrig bleibenden Bücher gaben wir den Beamten in Verwahr. Sie versprachen, dieselben den neu ankommenden Gefangenen zu übergeben. So kamen wir wider alles Erwarten nach Sachalin. Der Ausbruch der Cholera in Wladiwostok hatte eine längere Unterbrechung der sehr unregelmäßigen sommerlichen Verbindungen zwischen Nikolajewsk und der Insel herbeigeführt. Wir hatten dort genügend Zeit zu unserer Arbeit und fuhren dann nachts nach Hakodate in Japan. Für diesen doppelten Beweis der liebenden Führung und Fürsorge unseres himmlischen Vaters ebenso wie für alle die beständigen, offenbaren Beweise Seiner Vorsehung auf unserer Reise preisen wir Seinen herrlichen Namen! Halleluja!

Telegramm aus Tokio, den 23. September:

Hier müssen wir mit den Briefauszügen abbrechen. Nicht weil das Interesse erlahmte, sondern weil die Arbeit an den weiterhin besuchten Orten sich mehr in den gewohnten Bahnen bewegt. Wir sind bis jetzt dem Evangelisten, geistlich betrachtet, in pfadlose Wildnis gefolgt. Er säte und erntete dort auf jungfräulichem Boden.

Von Tokio ging er nach Yokohama. Kaum hatte er den Fuß in die Stadt gesetzt, so erkannte ihn jemand, der ihn in New York reden gehört hatte und belegte ihn wie einen alten Freund mit Beschlag. Er aß ferner mit dem russischen Konsul Fürsten Lebanoff. Ein Spanier und ein Amerikaner waren außerdem geladen, und da die Gattin des Konsuls eine Griechin war, so gab es eine internationale Tischgesellschaft.

Über den Stillen Ozean fuhr er nach Shanghai, wo er zwei Tage blieb. Dann nach Hongkong, von wo er einen flüchtigen Besuch in Kanton machte; darauf nach Saigon und Singapur. Hier hielt er in der Stadthalle mehrere öffentliche Ansprachen, redete unter freiem Himmel durch Dolmetscher zu den Chinesen und besuchte natürlich auch die Gefängnisse, wo er gleichfalls durch den Dolmetscher redete. Vierzehn Tage blieb er in beständiger eifriger Arbeit für den Herrn in Singapur. Dann setzte er seine Heimreise fort und erreichte über Tolombo und Port Said England Anfang Dezember.

LIEBE UND DIENST
Du kannst nicht dienen, wenn du nicht liebst!
Und wenn du auch gleich dein Bestes gibst.
Und wenn du dich mühtest vom frühen Morgen
bis spät am Abend mit Schaffen und Sorgen,
all dein Dienst wird doch wertlos sein,
legst du nicht göttliche Liebe hinein.
Wenn du nicht voller Lieb und Erbarmen
kannst umfassen die Elenden, Armen.
Ist dir an ihren Seelen gelegen,
dann darfst du sie warten, versorgen und pflegen,
dann wird die Liebe, der göttliche Schein,
durchleuchten dein Dienen, dein ganzes Sein.
Und dann, du wirst sehen, ganz ungesucht,
darfst dem Meister du bringen unzählige Frucht. -

In Finnland und Skandinavien.

Über das Wirken Dr. Baedekers in Finnland berichten, heißt von den Anfängen der Arbeit der Baronesse Mathilde von Wrede erzählen, deren Bild die Leser in diesem Buche finden. Sie hatte die Ehre, den Doktor zum ersten Male durch die Tore eines finnischen Gefängnisses zu führen. Dieser erste Besuch fand in Helsingfors am 3. Juni 1887 statt. Bei seinen späteren Besuchen blieb die junge Baroneß seine treue Gehilfin und Übersetzerin. Ihr Einfluß in den Gefängnissen ist immer noch von großem Segen; denn sie hat ihre Gaben und ihr Leben diesem Dienst geweiht.

Oft übersetzten Universitätsprofessoren für den Doktor. Einst standen während der Übersetzung des Professors die Gefangenen achtungsvoll lauschend in Reihen, aber auf ihren Zügen lag ein starrer, steinerner Ausdruck. Sie blieben offenbar ganz unbewegt. Bei seinem nächsten Besuch an demselben Orte wurde der Doktor von der Baroneß begleitet. Er war mit seiner Ansprache noch nicht weit gekommen, so zeigten ihm die feuchten Augen der Hörer und das unwillkürliche Zucken ihrer Züge, daß „die scharfen Pfeile Gottes drangen in die Herzen der Feinde des Königs“ (Ps. 45, 6).

„Wie war denn das?“, fragte er nachher verwundert einen der anwesenden Beamten, „meine frühere Ansprache haben sie gleichgültig, ja grollend, angehört. Heute hat das Wort ihr Gewissen und ihr Herz getroffen!“

Die Antwort des Gefängnisbeamten war sehr bezeichnend:

„Ja, mein Herr, der Unterschied lag in der Übersetzung. Sobald Sie sagten: ,Meine lieben Freunde!’ oder ,Meine Brüder!’, übersetzte Ihr gelehrter Professor unabänderlich: ,Ihr Leute!’, ,Ihr Gefangenen!’. Die junge Dame aber übersetzte genau so ins Finnische, wie Sie es deutsch ausgedrückt hatten: ,Meine lieben Freunde!’ und: ,Meine Brüder!’ — Der Schlüssel zu ihren Herzen war menschliche Teilnahme und Liebe. Daran sind sie nicht gewöhnt.“

Baroneß von Wrede ist die Tochter eines früheren Generalgouverneurs von Finnland. Schon als Mädchen übergab sie ihr Herz und Leben ihrem Herrn und empfing Seinen Geist. Mit 19 Jahren begann sie in den Gefängnissen Finnlands an den Seelen zu arbeiten. Die hohe Stellung ihres Vaters verschaffte ihr Zutritt zu Orten, an denen man gewöhnliche Menschenkinder kurzweg abgewiesen hätte. Jahrelang ist ihr segensreicher Einfluß unter den gefangenen Verbrechern Finnlands außerordentlich gewesen. In den ersten Jahren des Jungfrauenalters schien sie das Opfer einer rapiden Entkräftung zu sein, und die Doktoren gaben wenig Hoffnung auf Erhaltung ihres Lebens. Ihr Vater verging fast vor Kummer.

„O Mathilde!“ rief er, „was kann ich wohl tun, um dich zu retten? Willst du nicht versuchen, wieder besser zu werden? Willst du dich aufraffen und dir’s vorsetzen, zu gesunden, wenn ich dir ein Haus, eine Anstalt für deine Gefangenenmission verspreche?!“

„Ja, lieber Vater“, und ihre Augen glänzten hell bei dieser Aussicht, „gewiß will ich das, mit Gottes Hilfe will ich wieder gesund werden!“

Sie erholte sich sehr rasch, bekam das Haus für ihre Gefangenen und dazu einen beträchtlichen Landbesitz. Denn ihr überglücklicher Vater vermachte ihr eins seiner Güter in Finnland. Bis auf den heutigen Tag dient es zur Aufnahme entlassener Gefangener, welche Zeichen wirklicher Reue und eines ehrlichen Wunsches nach einem neuen Anfang geben. Einer ihrer Brüder, der mit ihr gleichen Sinnes ist, führt die Aufsicht über dies menschenfreundliche und wahrhaft christliche Unternehmen.

Einst hörte die Baroneß, als sie auf ihrer gewöhnlichen Besuchsreise in einem Gefängnisse vorsprach, daß ein besonders gewalttätiger und wilder Verbrecher in seiner Zelle auf Urteil und Strafe warte; er hatte nicht weniger als 18 Morde auf dem Gewissen, und mehrere davon zeugten von seltener Roheit.

„Bitte, zeigen Sie ihn mir!“, bat sie den Direktor.

Der Direktor lächelte mitleidig auf sie herab.

„Mein liebes Kind, ich denke nicht daran.“

„Aber ich muß ihn sehen. Gott kann selbst solche Menschen, wie er ist, retten! Wo ist seine Zelle?“

Die Zelle war nicht schwer zu finden, denn mehrere bewaffnete Männer standen vor der schweren Tür Wache.

„Öffnen Sie, und lassen Sie mich hinein!“, bat sie.

„Ich darf Sie wirklich nicht Ihr Leben aufs Spiel setzen lassen, und die Sache ist viel zu unsicher. Er ist fast wahnsinnig!“, sagte der geängstigte Direktor.

Aber die junge Dame erklärte, sie wolle alle Verantwortung auf sich nehmen, und bestand darauf, Zutritt zu der Zelle zu erhalten. — So mußte man ihr nach viel Zögern und Widerspruch endlich willfahren.

„Bitte, daß niemand an das Guckloch in der Tür kommt, oder uns unterbricht, während ich drinnen bin!“, sagte sie bei dem Eintritt zu dem kleinen Trupp erstaunter Beamten, der auf dem Korridor stand. Der Wärter drehte den Schlüssel und zog den Riegel zurück, öffnete ein wenig die Tür, und die junge Heldin glitt hinein.

Ein leises Kettengerassel lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Gesuchten, der sich der Länge nach auf sein hartes Lager gestreckt hatte. Es war ein gewaltiger, kolossal gebauter Riese von Mann. Schnell ging sie auf ihn zu und beugte sich leicht über ihn.

„Bist du wach?“, fragte sie.

Der Mörder fuhr plötzlich wie elektrisiert in die Höhe. Er schnellte beinahe mit dem ganzen Leibe in die Luft, und die schweren Eisen klirrten laut, als er auf die Bank zurückfiel.

„Ich komme, nach dir zu sehen“, sagte sie freundlich.

Es erfolgte keine Antwort.

„Willst du nicht mit mir reden?“

„Wer sind Sie?“, fragte er trotzig.

„Ich meine es gut, ich möchte dir etwas Gutes erweisen und dir helfen.“

„Wer hat Sie hergeschickt?“

„Ich komme aus eigenem Antrieb, um deinetwillen.“

„Ich könnte Sie töten! Mit einem einzigen Schlag! Hinaus aus meiner Zelle!“ schrie er heiser, und wieder rasselten die Ketten des leidenschaftlich erregten Menschen.

„Du wirst mich doch nicht töten!“, antwortete sie mit einem kleinen, silbernen Lachen, „Was hättest du davon? Ich meine es gut mit dir, nicht böse. Ich will mit dir vom Heiland reden.“

„Hinaus!“ sage ich, „ich will nichts hören.“ Wieder das Kettengerassel, und der rohe Mensch legte die Hände auf die Ohren.

„Dann werde ich zu Hause für dich beten und dich bald wieder besuchen. Wir haben alle Vergebung nötig, und wenn ich bete, will ich Gott bitten, dir und mir zu vergeben. Gott befohlen!“

Der Gefangene gab keine Erwiderung, und sie verließ die Zelle so ruhig, wie sie eingetreten war. Dann besuchte sie den Gefangenen immer wieder und bemühte sich auf alle Weise, an sein verhärtetes und ertötetes Gewissen zu kommen.

„Ich möchte wohl wissen, wer Sie eigentlich sind?“, fragte er einmal, als seine Neugier stärker wurde als seine Wildheit.

„Ich bin die Tochter des Barons von Wrede“, antwortete sie.

Der Gefangene starrte sie an.

„Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß so ein kümmerliches Frauenzimmer wie Sie die Tochter von dem nobeln, hübschen Mann ist!“, rief er aus.

„Ich bin’s aber doch“, sagte sie. „Es können nicht alle so groß und hübsch sein, wie mein Vater und du!“

Dieses scherzhafte Kompliment brach seinen Widerstand völlig. Ein oder zwei Minuten verharrte er in Schweigen.

„Es hat gar keinen Zweck, daß Sie mit mir reden“, fing er wieder an. „Mit mir kann niemand etwas anfangen, mein Herz ist hart wie Stein!“

„Wie freue ich mich, daß du das sagst!“, antwortete sie strahlend.

„Was soll das heißen?“, fragte er ärgerlich.

„Ich freue mich, daß dein Herz hart wie Stein ist“, erklärte sie ihm. „Ich habe schon Blumen, ja bisweilen gar Bäume, aus den Steinen wachsen sehen und du auch. Ein kleines Samenkorn fällt in eine Höhlung, wurzelt ein und wächst, und der Stein wird schön geschmückt. So, denke ich, wird ein Wort, das der Herr mir für dich geben wird, in deinem steinernen Herzen Wurzeln schlagen. Ich bete schon dafür.“

So geschah es denn auch; ihr Gebet ward erhört. Der grausame, widerspenstige Mörder ward ein neuer Mensch. Gott schenkte ihr diese Seele. Seine Wildheit wich von ihm, voll tiefer Reue warf er seine furchtbaren Verbrechen auf Den, der gesagt hat: Wer zu Mir kommt, den werde Ich nicht hinausstoßen. - -

Zur Ergänzung setze ich das folgende aus einem Briefe des Doktors nach England hierher.

„Ich habe der Baroneß von Wrede schriftlich den Vorschlag gemacht, mit ihr eine neue Reise durch die finnischen Gefängnisse anzutreten. Habe ich Dir schon erzählt, wie im Gefängnis zu Abo, wo ich zu etwa 400 Mann, darunter vielen auf Lebenszeit Verurteilten sprach, der Direktor ganz überwältigt war und mir vor allen Gefangenen mit Tränen in den Augen dankte, und ich ihn dann wieder vor all den Leuten, Beamten und Wärtern umarmte und küßte? Gott sei gelobt für Seine unaussprechliche Gabe und für die freie Verkündigung, beides, vor Direktoren und Gefangenen.“

In Finnland zeigte man stets ein begeistertes Interesse für Dr. Baedeker und seine Gnadenbotschaft. In den Tagen, da das Land unter dem schweren Druck der Gewaltherrschaft seufzte und sich wand — Tage, die hoffentlich für immer vorüber sind, brachte unser Evangelist einige herzbewegliche Berichte von den traurigen Zuständen des Landes nach Hause. Die Frauen machten es sich zur Gewohnheit, in allen Versammlungen, auch in den seinen, um der Leiden ihres Vaterlandes willen tiefe Trauerkleidung zu tragen. Alle jungen Leute wurden zu sechsjährigem Militärdienst nach Rußland geschickt (gewöhnlich dauert derselbe in Rußland wohl zwei Jahre); zugleich sollten sie russisch sprechen lernen. Ich höre noch das bewegliche Gebet des Doktors, als er uns in unserer kleinen Gebetsversammlung in seinem Salon zum Thron der Gnade führte: „Du Gott des 72. Psalms, errette den Armen, der da schreiet, und den Elenden, der keinen Helfer hat; sei gnädig den Geringen und Armen, erlöse ihre Seele aus dem Trug und Frevel, denn ihr Blut ist teuer geachtet vor Dir.“

Ein Brief des Doktors aus Reval enthält den Ausdruck: „Ich schmachte nach den Gefängnissen in Finnland.“ Es war in ihm ein unstillbarer Herzenshunger nach Menschenseelen. Was für ein Bild entwirft er in folgendem Briefe aus St. Petersburg: „Heute Nacht bin ich von Finnland hier angekommen. Ich hatte die Freude, zu vielen Gefangenen reden zu können. Zuerst in Helsingfors, dann in Tavastehus, Abo und Wilmanstrand. Es war ein herzbewegender Anblick, diese 300—400 Menschen, meist Lebenslängliche, wie sie mit eifrigen Gesichtern alle aufs lebhafteste gefesselt waren von dem, was zu ihnen gesagt wurde. Baroneß von Wrede übersetzte für mich. Sie ist die einzige Persönlichkeit, die Zutritt zu den Gefängnissen hat. Ich sehe es als eine große Gnade des Herrn an, daß sie mich in diese Kerker brachte. Ich werde den Anblick nicht leicht vergessen: starke, schöne Menschen mit klugen Gesichtern, aber mit schweren Ketten gebunden!“

Dr. Baedekers Besuche waren in der Universität Helsingfors stets willkommen. Seine Ansprachen an Professoren und Studenten wurden mit vielem Segen gehört. Aber über seine Arbeit unter den Studenten könnte man ein ganzes Kapitel schreiben, hier muß das Folgende genügen:

„Helsingfors. — Bei unserer Ankunft war die Zeit sofort besetzt, und wir haben jeden Tag gesegnete Versammlungen gehabt. Gestern sprach ich englisch, ein Bruder übersetzte ins Schwedische, ein anderer ins Finnische. Der Saal war voll, und die Aufmerksamkeit hielt zwei und eine halbe Stunde vor. Mehrere Professoren der Universität sind erweckt und nehmen das in sie gepflanzte Wort mit Sanftmut auf. Gott sei gepriesen! Die liebe Baroneß von Wrede begleitete mich heute morgen. Sie überschätzt offenbar ihre Kraft. Aber sie ist so strahlend glücklich bei ihrer Arbeit. Um nichts in der Welt würde sie sich auch nur ein wenig schonen. An sich selber denken kann sie einfach nicht. Es ist gut, in Seiner Hut zu stehen, zu Seinem Dienst bereit!“

Die geistliche Luft in Finnland und in Schweden war sehr nach seinem Sinn. In beiden Ländern hatte er engverbundene Freunde unter dem Adel. Es war immer eine große Angelegenheit, wer die Ehre und das Vorrecht haben sollte, ihn bei seinen Besuchen einzuladen. Es war eine besondere Erquickung für ihn, mit diesen Brüdern und Schwestern im Herrn Gemeinschaft zu haben, die trotz ihrer adeligen Geburt und ihres hohen Ranges, dieser beiden fast unüberwindlichen Schranken bei dem Eintritt in die enge Pforte, nun reich waren im Glauben und Erben des himmlischen Reiches.

Eine kurze Schilderung aus der Arbeit in Stockholm:

„Heute Morgen hatte ich eine Versammlung im Salon mit einer der Hofdamen. Dann besuchte ich die Kronprinzeß, die mich sehr freundlich empfing und warmes Interesse für die Evangelisationsarbeit in Rußland zeigte. Sie versprach, für mich zu beten. Jetzt bin ich beim Baron G. und habe der Baroneß von F. schreiben müssen, daß ich nicht hinkommen kann. Es ist eine lange Bahnfahrt und meine Zeit gottlob sehr besetzt. Graf S. hat mir verschiedene Briefe an mehrere Gouverneure mitgegeben. Es wird mir nur schwer werden, von den Orten meiner Arbeit wieder wegzukommen. Ich habe Einladungen von Baron S., nach dem Landsitz seines Sohnes zu gehen, und von Baron U. und jetzt auch von Baron von H., zu ihnen zu kommen. Ich werde Weisheit von oben brauchen zum ,Ja’ und ,Nein‘. Ich weiß, Du betest für mich, meine liebe Gattin, und viele andere mit Dir. Das ist mir ein großer Trost. Obwohl der Herr mir bisher die Türen aufgetan hat, kann ich mich nur mit Zittern freuen. Ich brauche von Tag zu Tag und von Ort zu Ort Seine Führung. Gestern gab der Herr Sein Wort mit vieler Kraft, und einige Seelen kamen zu Ihm.

Einer steht zur Rechten Gottes, der beständig für uns eintritt mit Seinem teuren Blut, das für alle vergossen ist. Seine Arme brauchen nicht mit Steinen unterstützt zu werden; denn Er wird nicht müde. Wir armen Erdenkinder sind so vergeßlich und so bald ganz matt.“

Noch ein Auszug aus einem anderen Stockholmer Brief: „Heute Abend fahre ich mit dem Dampfer ,Tornea‘ nach Finnland. Ich bin voll Dankbarkeit für die Zeit, die mir der Herr hier geschenkt hat. Ich hatte ein Gespräch mit Prinzeß E., und zu meiner großen Überraschung ließ auch die Königin, die sich langsam von einer Krankheit erholt, mich bitten. Ich hatte die Ehre, eine halbe Stunde mit ihr zu reden, vielen Seelen ist geholfen worden, und sie sind frei geworden zum Dienst. Der Herr hat den Weg gebahnt und das Wort gegeben, und ich kann für die herrliche Zeit in Stockholm nicht dankbar genug sein.“

Dr. Baedekers Arbeit glich in einem Stück sicher der Arbeit seines Meisters: er war nie außer Dienst. Wie der Erzhirte ging er dem einen verlorenen Schaf nach, um es auf jeden Fall zurückzubringen.

Eines Tages fuhr er in Schweden auf der Bahn. Ihm gegenüber im Wagen saß eine junge schwedische Dame. Er bot ihr einen Traktat an. Sie nahm ihn freundlich dankend, bemerkte aber zugleich, das Blatt habe kein Interesse für sie. „Warum denn nicht?“, fragte er.

„Gerade heraus — ich bin eine Ungläubige.“

„Das tut mir leid zu hören. Ich denke aber doch, Sie werden das kleine Schriftchen lesen und darüber nachdenken. Vielleicht wird Gott in Seiner großen Gnade Ihnen die Augen öffnen.“

Das schien ihr eine Herausforderung zu einem Kampfe der Geister, und da sie für Verteidigung und Angriff gleich gut gerüstet war, nahm sie stracks den Handschuh auf. Aber sie kannte ihr Gegenüber nicht. Die Waffen seiner Ritterschaft waren nicht fleischlich, sondern geistlich. Ihr Gespräch blieb nicht auf der gewöhnlichen Höhenlage des Denkens und des Lebens. Sie war überrascht, und unwiderstehlich erwärmte sich ihr Herz gegen diesen Fremden, der es so sichtlich gut meinte, so interessiert war für ihr wahres Wohl, so vertraut mit den Dingen Gottes, an Dessen bloßer Existenz sie schon zweifelhaft geworden war, so besorgt um ihr Seelenheil.

„Ich glaube, daß der Herr Sie noch einmal zu sich ziehen wird“, sagte der Doktor. „Er sucht Sein verirrtes Kind, und Er wird Sie am Ende finden.“

„Ich bin nicht besonders zuversichtlich wegen meiner Bekehrung“, antwortete sie lachend. „Da sind noch manche Fragen, die ich erst beantwortet haben müßte.“

„Wollen Sie mir eins versprechen?“, bat er.

„Was denn?“

„Wenn Gott Sie von Ihrer Sünde überführt und zu Jesu bringt, wollen Sie mir das mitteilen?“

„Das will ich gern tun, wenn Sie es wünschen! Es wird nicht so schnell gehen. An wen und wohin soll ich schreiben?“

„Hier ist meine Karte! Ich werde so lange beten, bis Ihr Brief eintrifft.“

Der Brief kam erst nach acht Jahren; aber er kam, und ward pünktlich in dem Hause des Doktors in Weston-Super-Mare abgegeben. Die Dame war in späteren Jahren bei Dr. Baedeker und seiner Frau zu Gast. Sie hat jahrelang eifrig und hervorragend unter den jungen Mädchen in Schweden gearbeitet. Es blieb der eine bittere Kummer ihres Lebens, daß sie in früheren Jahren so furchtbar fanatisch gewesen war in der Verbreitung ihrer verderblichen Zweifelsgedanken. Das ist Alma Nesbeths Geschichte.

Über seine Arbeit in Norwegen erlaubt der Raum nur den allerkürzesten Bericht. Im Alter von 76 Jahren schreibt der Doktor aus Christiania:

„Du würdest Dich freuen, wenn Du die Massen in den Sälen sähest, wo ich die wunderbare Geschichte von Jesu und Seiner Liebe erzählen darf. Die Gefängnisse sind mir auch geöffnet worden. Der Oberwärter und der Gefängnisgeistliche sind beide wahrhaft gläubig. Wir taten zuerst, was uns der Heilige Geist gebietet (2. Kor. 13, 12): Grüßet einander mit dem heiligen Kuß, und unsere Herzen waren entbrannt für die armen Gefangenen.

Meine Tage eilen dahin, aber die lieben Norweger kennen die Kunst, die kostbaren Stunden auszunutzen, und mein Gott hat es mir noch nie an Kraft fehlen lassen. Morgen hoffe ich nach der letzten Versammlung im großen Saale, der einige Tausend Menschen faßt, mit dem Nachtzug nach Göteborg zu fahren und mich dort bis Montag früh aufzuhalten. Dann gehe ich nach Jönköping, wo man auf große Versammlungen rechnet, da viel Gläubige dort sind. Bis Freitag hoffe ich dort zu bleiben. Am Samstag und Sonntag werde ich in Sköfde erwartet; am 20. kehre ich nach Stockholm zurück, und am 21. gehe ich mit dem Dampfer nach Finnland. Die Lichter auf dem siebenarmigen Leuchter waren so angeordnet, daß sie all ihr Licht auf den Träger des Lichtes warfen, ,der mitten unter ihnen wandelt.’ ,Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen gib Ehre!’“

Am Kaspischen Meer.

Mr. Bryce zeigt uns ein Stück Holz, das er unter dem jungfräulichen Schnee auf den oberen Abhängen des Ararat entdeckt und mit feinem Eispickel losgehauen hat. Er behauptet, mit einem Wink zur Seite, es liege hier für ein echtes Überbleibsel der Sintflut eine größere Wahrscheinlichkeit vor, als für manche Reliquien, die an anderen Orten mit größter Verehrung aufbewahrt werden.

„Ich bin bereit, es der Untersuchung der Wißbegierigen zu unterwerfen“, erklärt er. „Es wird auf alle Fälle schwer sein, zu beweisen, daß es kein Tannenholz (1. Mose 6, 14) ist.“

Frau Baedeker besitzt ebenfalls ein Andenken vom Ararat, das ihr Gemahl bei der Rückkehr von einem seiner vielen Besuche in Transkaukasien mitbrachte. Es ist ein Felsstück, und es gibt keinen begründeten Zweifel daran, daß es während der Flut unter Wasser gestanden hat. Es ist also ebenso wie Mr. Bryces Holzstück eine ehrwürdige Erinnerung an ein großes Ereignis oder wenigstens an einen interessanten Ort.

Wir haben über die Evangelisationsreisen des Doktors in der Umgebung des Ararat regelmäßige Berichte in seinen Briefen. Es war ihm eine Wonne, in Transkaukasien für Christum zu arbeiten. Das Land war nicht leicht zu erreichen. Man brauchte auf dem direktesten Wege von St. Petersburg eine Woche. Die Bewohner sprechen viele Sprachen. Es ist darin immer noch das Babel des Menschengeschlechts. Verkehrswege gab es eigentlich nicht in diesen rauhen, wilden Bergen, die ihr Haupt in das Gebiet des ewigen Schnees recken. Noch vor kurzem haben Reisende geklagt, es sei unmöglich, zur Winterszeit nachts ein warmes und sauberes Obdach zu erhalten. Wilde Tiere gibt’s im Überfluß in diesen beinahe unzugänglichen Einöden: Wölfe, Luchse, Herden von Wildschweinen, Leoparden, Wildkatzen. Sie scheinen jedoch Dr. Baedeker nie beunruhigt zu haben. Aber, was viel gefährlicher werden konnte, die Bergstraßen (oder besser -pfade) wurden von kurdischen, persischen und tartarischen Räubern unsicher gemacht. Im Jahre 1900 zog ein bekehrter georgischer Mönch im Dienste der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft von Tiflis aus, um die Bergdörfer zu besuchen. Er ist nie wieder zurückgekehrt. Man denkt, daß er in einem einsamen Passe ermordet liegt. Noch im vergangenen Jahre (1906) ist festgestellt worden, daß die Straßenräuber über die Eisenbahnbeamten an der Hauptlinie ein Schreckensregiment führten, und daß in Eriwan (Hauptstadt Armeniens) nur die mittleren Teile der Stadt als sicher betrachtet werden konnten, und auch das nur bei Tage!

Aber das alles war ohne Einfluß auf unseren furchtlosen Apostel. Waren dort nicht teure Verbannte zu besuchen und zu ermuntern? Und mußte er dort nicht die herzgewinnend einfältigen und anhänglichen Gemeinschaften der armenischen Christen mit dem Worte Gottes nähren und in ihrem Glauben stärken?

Begleiten wir Dr. Baedeker auf einer seiner vielen Reisen in dies historische Land!

Nach einer arbeits- und ereignisreichen Fahrt von Nischni-Nowgorod die prächtige Wolga hinab, auf der er in den Städten am Ufer die Gefängnisse besuchte, kam der Doktor mit seinem begleitenden Übersetzer Grafen Scherbini in Astrachan im Wolgadelta an, das in dem ungeheuren Sumpfgelände liegt, welches die Nordküste des Kaspischen Meeres umsäumt. Hier schifften sie sich nach Baku ein, eine Reise, die über fast 500 Meilen führt.

Die Mündungen der Wolga, die sich ins Kaspische Meer ergießt, sind stark verschlammt, und das erschwert die Schifffahrt bedeutend. Ein kleines Segelboot von geringer Tragkraft befördert Passagiere und Fracht über die Untiefen und durch die Sandbänke auf den Dampfer nach Baku, der vor der Barre liegt. Zu seiner Freude entdeckte der Doktor, daß der Kapitän und mehrere Offiziere Finnländer waren und außer ihrer Muttersprache russisch, schwedisch und englisch sprechen konnten. Es waren höchst angenehme Schiffsgefährten.

Die erste Nacht war stürmisch, und die See sehr rauh. Die Passagiere waren froh, daß sie in Petrofsk ankamen und dort einen Tag im Schutze des Landes liegen bleiben konnten. Der Graf, der nur mäßig seefest war, bat den Doktor, die Billets fahren zu lassen und die übrige Reise zu Lande zu machen. Der Doktor war nicht geneigt, fünfzig Rubel wegzuwerfen und eine dreitägige Wagenfahrt zu unternehmen, und so blieben die beiden auf dem Schiffe. Am nächsten Morgen flaute der Wind etwas ab, und der Kapitän machte einen neuen Versuch, weiter zu kommen. Obgleich die See noch hoch ging, hatten sie eine sehr angenehme Fahrt und kamen bem schönsten Sommerwetter in Baku an.

Das traurige Geschick der Frauen und Kinder an Bord rührte, wie immer, dem Doktor das Herz. Bei dem schweren Wetter brachen die Wogen beständig über das Schiff, und ihre Lage war jammervoll. Er bestellte für alle eine ordentliche Mahlzeit mit heißer Brotsuppe und anderen Speisen. Als sie dieselbe genossen hatten und die Farbe auf ihre bleichen Wangen zurückgekehrt war, erzählte er ihnen dann von der Liebe des Herrn Jesu.

Seine armenischen Freunde in Baku empfingen ihn stets mit besonderen Beweisen der Zuneigung.

Zuerst ging er mit dem Grafen in ein Hotel. Aber die Armenier wollten nichts davon hören, daß sie dort blieben. Sie mußten kommen und bei einem von ihnen als Gäste logieren. Lange Gewohnheit hatte es dem Doktor leicht gemacht, sich in die Eigenart eines armenischen oder jedes anderen Haushalts zu fügen. Bei dem Grafen war das nicht ganz ebenso, aber er machte recht gute Fortschritte.

„Sie zeigten mir viel Liebe und Dankbarkeit“, sagte Dr. Baedeker bei der Beschreibung seines Besuches. „Als ich das Haus betrat, kam die liebe Hausfrau mir an der Tür entgegen, goß mir aus einem Becken Wasser über die Hände und gab mir ein Handtuch.“

„Unser Haus gehört dem Herrn“, sagten seine armenischen Wirte. „Sehen Sie es also als Ihr Absteigequartier an, so oft Sie nach Baku kommen.“

„Die Gastfreundschaft dieser lieben Menschen kennt keine Grenzen“, sagte der Doktor später. „Ich fühlte mich sehr beschämt, wir mögen sie über das Wort belehren; aber sie sind Täter des Worts, und lassen uns weit dahinten.“

Dann kamen die Versammlungen. Die armenische Gemeinde in der Stadt war gerade ohne Prediger, weil der Pastor erkrankt und abwesend war. So hatte er freie Bahn. Er begann am Tage der Ankunft mit einer Versammlung um 4 Uhr und dann einer „schönen, warmen“ Gebetsversammlung um 7 Uhr. Bei dieser zweiten Versammlung ereignete sich ein ungewöhnlicher Zwischenfall, eine äußere Bezeugung der Herzensfreude über den Besuch ihres geistlichen Vaters. Eine Dame hatte sich vorgenommen, ihn durch eine Fußwaschung zu ehren. Aber er protestierte und weigerte sich, das über sich ergehen zu lassen; so wurden Becken und Handtuch zögernd entfernt.

Bei einer anderen Versammlung saßen zwei Damen und ein Herr in der ersten Reihe, die ihn nach Schluß englisch ansprachen. Sie hatten ihn vor Jahren in St. Petersburg predigen hören.

„Das ist hübsch“, sagte der Doktor mit seinem unwiderstehlichen Lächeln, „aber nicht wirklich von Nutzen, bis Sie den Herrn gefunden haben.“

Baku, die Ölstadt, ist ein aufstrebender Ort, von allen Nationen bevölkert, aber von ganz asiatischem Charakter — überall Türken, Tartaren, Perser und Armenier, die ihre abgeschabten Kleider mit einer Art adeligen Selbstbewußtseins tragen. Die Straßen sind voll von Fruchtverkäufern und allen möglichen Händlern. Es herrscht ein hastiges Rennen und Jagen, und es ist höchst belustigend, wie die Menschen aufeinander losstürzen. Dr. Baedeker nennt sie eine sehr bewegliche Menschenrasse. So oft sie fallen, sind sie bald wieder auf den Füßen. Die Häuser sind im Viereck gebaut, in der Mitte ein Garten, und ringsum Zimmer und Anbauten.

„In England“, sagte er seinem Gastfreunde, „sind unsere Häuser in den Garten gebaut; aber Ihr Garten ist im Hause!“

Die Armenier sind die Kaufleute Bakus, und manche von ihnen sind sehr reich. Er fand hier jungfräulichen Boden für das Evangelium und rechnete damit, daß durch sie die Tartaren am wirksamsten zu erreichen und zu bekehren seien. Die Frauen werden in zu großer Abhängigkeit gehalten.

Als er einige Bibelstunden für Frauen einrichtete, kamen sie in großen Scharen. Sie sandten Grüße an Frau Baedeker und baten den Doktor, er solle seine Gattin auffordern, zu ihnen zu kommen und sie zu unterrichten. Er war bei sich selbst nicht sicher, ob seine Frau mit einigen ihrer häuslichen Zustände und Einrichtungen Geduld gehabt hätte, falls sie gekommen wäre. Er sagte ihnen das aber nicht. Nach ihrer Meinung war alles, wie es sein sollte; und der Doktor fügte sich darein, als wäre er’s von Kind auf gewohnt, zum großen Entzücken seiner Gastfreunde.

Es gibt in Baku keine Bäume. An staubigen Tagen werden die Straßen nicht mit Wasser, sondern mit Öl gesprengt. Man hat kein Wasser, um die Straßen und Kanäle rein zu schwemmen, und alle Seuchen richten infolgedessen große Verwüstungen an. Der Doktor bewunderte die „schönen Esel“, welche die Straßen entlang trotten, und die schweigsamen, schwerfälligen Kamele; ferner die Masse von Früchten, die feilgeboten werden: Granatäpfel, bei denen die Schale rauh und unansehnlich ist, während das Innere herrlich schmeckt, und köstliche Trauben, und dabei alles äußerst billig.

Die Kleidung der Frauen verdient eine kurze Beschreibung. Über den Mund wird ein breites Band getragen und mit einer breiten Silberkette um den Nacken befestigt. Dazu wird ein seidenes Tuch über den Kopf geworfen und verbirgt die Stirn, so daß es tatsächlich unmöglich ist, das Gesicht zu sehen. Die Kleider haben gewöhnlich Pelzbesatz. In den Versammlungen sitzen sie hinter einer hölzernen Scheidewand, mit gekreuzten Beinen, wie die Männer: oder in einem anderen Zimmer, wo sie ungesehen zuhören können.

In der Umgegend von Baku gibt es eine große Anzahl Molokanen. Das sind die Quäker Rußlands. Der Ausdruck bedeutet wörtlich „Milch-Mann“. Die Regierung hat um ihrer religiösen Anschauungen willen schwere Zwangsmaßregeln gegen sie ergriffen. Sie kennen weder Taufe noch Abendmahl, noch haben sie ein geordnetes geistliches Amt. Ihre Lebensweise ist einfach und ihr Charakter untadelhaft. Manche sind recht wohlhabend. Sie freuten sich über Dr. Baedekers Besuche. Bei einer mit ihnen abgehaltenen Versammlung wurde Dr. Baedeker mitten in seiner Ansprache von einem Polizeioffizier unterbrochen. Derselbe verlangte Schluß der Versammlung und forderte den Doktor und den Grafen Scherbini auf, ihm zu folgen. Sie gingen, wie sie angewiesen wurden, zum Polizeibureau; aber Dr. Baedeker sandte dem Gouverneur von Baku eine Mitteilung, die ihre sofortige Freilassung bewirkte. Darauf kehrten sie in die geängstigte Molokanenversammlung zurück und setzten die Ansprache fort.

Von Baku nach Schuscha über die Fahrstraße ist’s eine lange und ermüdende Reise. Schuscha liegt unter dem schneebedeckten Ararat, dem „Vater der Berge“. Er türmt sich über dem Hochplateau, auf welchem er liegt, noch fast 4500m empor. Auf dem Gipfel des kleinen Ararat (dem kleineren des Doppelberges) treffen die Grenzen dreier Reiche zusammen: Rußlands, Persiens und der Türkei. Die Räuber, welche die armenischen Berge unsicher machen, entschlüpfen, wenn der Arm der Gerechtigkeit sie in einem Lande sucht, einfach über die Grenze in ein anderes. Das russische Gebiet gilt ihnen dabei als das „sicherste“.

Dr. Baedeker schloß sich mit einem Tarantaß und einer Troika einem russischen Regierungsbeamten auf der Reise an und fand in ihm einen rücksichtsvollen Reisegefährten. Graf Scherbini war nach Tiflis gegangen, um einige Freunde zu besuchen. — Eine Nacht mußten sie auf der Landstraße in einer der kahlen Poststationen am Wege zubringen, wo die Pferde gewechselt werden. Sie schliefen auf dem Boden. Der Russe hatte ein Bett mitgenommen und trat freundlicherweise dem Doktor seinen schweren kaukasischen Mantel ab, den er um sich schlagen konnte. Müdigkeit und Erschöpfung lockten den Schlaf bald herbei. Am nächsten Tage begegneten sie einigen Tartarenkarawanen, die zum Winter von den Bergen in die Ebenen hinabstiegen. Im Frühling kehren sie dann in die kühleren Breiten zurück. Ganz patriarchalisch muteten die Züge von Rindern, Pferden, Eseln und Schafen an. Weiber und Kinder saßen auf dem Rücken der Pferde und Esel. Selbst die Kühe hatten ihre wohlbemessene Last zu tragen, und die Hühner, die auf dem Rücken der Tiere hockten, schienen an ihrem Ritt ebensoviel Gefallen zu finden als die Menschen. Der Doktor dachte an die Hirtenszenen aus dem Leben der Erzväter im ersten Buch Mose — Abraham und Lot, Laban und Jakob — als sie inmitten der geduldigen Herden ihres Weges zogen.

Schuscha liegt auf der Verbindungsstraße von Tiflis nach Persien. Der Weg geht nach Süden über die ausgedehnte, 50 oder mehr (engl.) Meilen sich hinziehende Hochebene, welche die beiden kaukasischen Bergketten scheidet. Die nächste Eisenbahnstation ist das etwa 75 Meilen entfernte Ewlach an der Strecke Baku—Tiflis. Die Stadt wird von Armeniern, Tartaren, Persern, Türken und einigen Russen bewohnt. Die Einwohnerzahl beträgt etwa 40000. Hier hat früher der verbannte Graf Zaremba treu für den Herrn gearbeitet. Es finden sich immer noch Früchte seines gesegneten Dienstes. Unter den Armeniern sind manche ernste Christen. Dr. Baedeker ward von ihnen als ein Bote Gottes begrüßt.

„Ich habe großen Eingang bei diesem Volke. Sie nehmen das Wort mit Begierde auf, wie das dürre Land den Tau.“

Ein armenischer Bruder am Ort, der deutsch, russisch, armenisch und türkisch sprach, war meist sein Übersetzer, der seinen Dienst ohne Entgelt und gern aus Liebe zum Evangelium anbot. Da aber doch einige Russen den Versammlungen beiwohnten, so war die Hilfe eines zweiten Übersetzers ins Russische notwendig.

Ebenso fand Dr. Baedeker in Schemacha eine weit offene Tür. Diese Bergstadt war im Jahre 1902 der Schauplatz eines verhängnisvollen Erdbebens und liegt nahe bei Jelisawetpol. Die Reisen in diesen Gegenden, die über die hohen Bergpässe gehen und teils zu Pferde, teils in der russischen Troika mit Postpferden ausgeführt werden, sind nicht ohne Beschwerden und Gefahr. Aber Gott hat ihn stets beschützt. Wenn die armenischen Christen Kunde von seiner Ankunft erhielten, kamen sie ihm entgegen, einige zu Wagen und viele zu Fuß, und er zog wie im Triumph in den Ort ein. Die Erfolge seiner Evangelisationsversammlungen in diesen Städten waren außerordentlich. Die Leute kamen in Haufen, zu Hunderten zum Licht und Leben. Als in einem Bergdorf bei Schemacha der Doktor am Schluß seiner Ansprache diejenigen, welche zu Gott bekehrt und Jünger Jesu zu werden wünschten, zum Aufstehen aufforderte, erhob sich die ganze Versammlung und starrte erstaunt einander und dann den Doktor an. Auf einmal brach eine Stimme das verblüffte Schweigen:

„Ja gewiß, Doktor, darum schicken wir ja nach Ihnen, darum sind wir ja gerade hergekommen!“

Frau R. T. Morgan sandte von der Reise, welche sie nebst ihrem Gatten mit Dr. Baedeker machte, eine Reihe äußerst interessanter Schilderungen aus dem Kaukasus nach England. Ich freue mich, ihren Bericht über den Besuch in Baku und Tiflis hier anführen zu können.

„Baku, die Ölstadt, ein Wald von Bohrtürmen!

„Was für ein trauriger Eindruck! Naphtha überall!

In den Löchern der schlechten Straßen bildet sie kleine Lachen. Sie schillert auf der Oberfläche der Seewasserbehälter und Buchten. Ein kleines Mädchen kommt des Weges mit einem Eimer, den sie mit der Flüssigkeit füllt, und da wieder ein zerlumpter Mann, der zwei Eimer voll trägt. Die Armen versuchen wohl, durch den Verkauf sich ein paar Groschen zu verdienen.

Die Luft scheint ebenso wie der Boden mit Paraffin gesättigt zu sein. Viele Meilen ringsum ist nichts als Wüste. Jeder Grashalm scheint einen harten Kampf ums Dasein zu führen. Aber doch kommen Menschen und bauen sich an, nehmen ein hartes Leben auf sich und trotzen dem Klima, um Geld zu gewinnen.

Fast jede europäische Nation hat ihren Konsul in Baku. Wir blieben in Baku eine Woche lang und hielten jeden Tag Versammlungen. Am Sonntag sprachen Dr. Baedeker und mein Mann viermal zu verschiedenen Zuhörern: Morgens und abends zu den Armeniern, und nachmittags zu Russen und Deutschen. Der rote Faden in ihren Worten war der Gedanke, daß weder die Taufe noch das Abendmahl noch das Halten von bestimmten Gebräuchen noch irgend ein Stand einen Sünder selig machen könne. Nur lebendiger Glaube an Jesum und völlige Entscheidung gegen die Welt für den Herrn mit einfältigem Herzen können ein wirklich christliches Leben zustande bringen, und uns geschickt machen, des Meisters Willen zu tun.

Wir verließen Baku Freitag Abend nach einer Abschiedsversammlung, in der Dr. Baedeker an seinen ersten Besuch vor 15 Jahren erinnerte. Einige der Anwesenden waren Früchte seiner ersten Arbeit. Tränen standen in ihren Augen, als sie von ihrem geistlichen Vater Abschied nahmen. War es das letzte Mal? Würden sie ihn wiedersehen?

Zwei Frauen weinten bitterlich, als sie für die Bekehrung ihrer Familien beteten. Eine von ihnen hatte die Freude, zu sehen, wie ihr erwachsener Sohn versprach, hinfort mit Gott zu wandeln. Die andere sagte am Schluß der Versammlung, während noch Tränen auf ihren Wangen glänzten: ,Einst habe ich meine Kinder in die Welt hineingetrieben, weil ich selbst weltlich war. Nun bin ich bekehrt, und da ist es meine Pflicht, für sie zu beten.’

Nach der traurigen Umgebung von Baku bedeutete Tiflis, die Hauptstadt des Kaukasus, mit seiner malerischen Lage am Flusse Kura eine erfreuliche Abwechslung. Man sagt wohl, der Kaukasus übertreffe an Schönheit die Alpen. Andere erklären, er sei zwar großartig wild und reich an Gletschern, aber arm an Flüssen, Wasserfällen und Seen. Seine schneebedeckten Riesengipfel, der Kasbek und der Elbrus, beanspruchen beide den Ruhm, daß Prometheus dort angeschmiedet worden sei. Hier ist die Felsenheimat der klassischen Sage.

Forschungsreisende haben in dieser Gegend keine leichte Arbeit. Zu dem Mangel gebahnter Wege kommt die Schranke der Sprache. Fern von dem Einfluß des modernen Weltverkehrs leben hier die Überreste alter Völker, von denen manche vor langen Jahrhunderten in diesen Schluchten Schutz vor der Hand ihrer Bedränger gesucht haben. Einige sind, wie die Einwohner der Berge von Daghestan, in viele Stämme zerspalten, von denen jeder auf ein Tal, ja ein einzelnes Dorf beschränkt und unfähig ist, seine Nachbarn zu verstehen. Die Behauptung, daß im Kaukasus zwanzig verschiedene Sprachen gesprochen werden, geht sicher nicht zu weit. Rußland hat sechzig Kriegsjahre daran wenden müssen, um diese Bergvölker zu unterwerfen, die zum größeren Teile Mohammedaner sind. Es finden sich hübsche Typen unter ihnen; so besonders die Tscherkessen. Ebenso die Grusinier, die nach ihrer Überlieferung älter sind als die Ägypter. Tiflis war vom fünften Jahrhundert an die Hauptstadt ihres Reiches.

Wir wurden hier ebenso wie in Baku von Freunden verschiedener Nationalität herzlich bewillkommnet und freundlich bewirtet. Ein Bruder, der Geschäftsmann in der Stadt und von Geburt ein Deutscher ist, ist zu 18 Jahren Verbannung verurteilt worden, zuerst nach dem einen Ort, weil er unter den Russen Propaganda gemacht habe, und dann nach einem anderen, weil er Geld unter die Stundisten verteilte, das ihm zu diesem Zwecke gesandt war. ,Aber der letzte Platz war der beste’, setzte er hinzu. ,Ich fand viele Freunde und willige Ohren für das Evangelium.’

Die Versammlungen fanden in der russischen Baptistenkirche und im schwedischen Missionshause statt. In dem letzteren brach eine Frau, die ahnungslos mit ihrer Tochter hineingekommen war, unter der starken Erkenntnis ihrer Sünde ganz zusammen und gelobte, ihr Herz Gott auszuliefern.

,Wie liebe ich diese teuren Tartaren, Perser, Armenier, Tscherkessen, Grusinier und alle anderen!’, konnte Dr. Baedeker wohl sagen. Er ging gern durch die orientalischen Bazare, um Menschen zu studieren.

,O, diese Herzen durch die Macht des Evangeliums zu rühren! In ihren Seelen die schweigenden Saiten der Liebe Gottes in Schwingungen zu versetzen, die ihr Leben umgestalten müssen! Was für ein Vorrecht für den, der dazu imstande ist!’ Das war der Grundton seiner Gespräche, die gewöhnlich mit dem Satze schlossen: ,Wenn ich ein junger Mann wäre, würde ich mich gleich ans Studium des Grusinischen setzen.’

Mehr als einmal wurden wir über unseren Freund gefragt: Wird er für seine Arbeit bezahlt? Und unsere Antwort: Nein, er tut es um Christi willen! begegnete meist einem erstaunten Blick und hernach der Bemerkung: Dann muß er ein wahrhaft guter Mensch sein!

„In einem Gefängnis am Ufer des Kaspischen Meeres begegnete uns der Priester, welcher Geistlicher des Gefängnisses war, und begrüßte Dr. Baedeker sehr warm, den er schon bei früheren Besuchen kennengelernt hatte. Er war offenbar lebhaft interessiert und ging zwei oder drei Stunden lang mit uns durch das Gefängnis, lauschte auf die Ansprachen, sah die Verteilung der Bücher, und seine Augen glänzten, waren aber auch bisweilen feucht von verhaltenen Tränen. Er erzählte Dr. Baedeker, wenn er selber einem Gefangenen ein Buch gebe, so gedenke er der holdseligen Worte, die er von dem Doktor gehört habe. Die Priester der griechischen Kirche predigen nicht, haben auch, wenn überhaupt, selten Gelegenheit, eine Predigt zu hören. Das erklärt das Entzücken, mit dem dieser, der den Herrn lieb hatte, lauschte auf die einfache Darlegung des Evangeliums Christi als der Kraft Gottes, selig zu machen alle, die daran glauben.“ -

Dr. Baedekers schlimmste Anfechtung im Kaukasus war das Fieber. Es lähmte bedauerlich seine Energie, obschon es seine unerschrockene Seele nicht bezwingen konnte. Es ist ergreifend zu lesen, wie er häufig aus dem Schlaf geweckt und von seinem Krankenlager geholt wurde, um eine Versammlung zu leiten, die eifrig und ängstlich auf seine Ankunft harrte; wie er dann wieder ins Bett ging, um einige Stunden fiebergestörter Ruhe zu erhaschen, bis die Zeit der nächsten Versammlung herankam. Diese Fieberanfälle brachten ihn arg herunter. Wie verlangte er in dieser Zeit, einen kurzen Blick nach England und in sein Heim tun zu dürfen!

Mit einem Auszuge aus einem Briefe, den er in diesen Tagen schrieb, soll dies Kapitel schließen.

„Batum. — Der Feind hatte mir diese Woche über soviel zu sagen. Zuerst die Schwierigkeiten und Verzögerungen auf der Reise. Dann die Sperre des Weges nach Eriwan und Kars. Dann bei der Rückkehr nach Tiflis das Fieber! Es dünkt mich, daß die Macht und der Einfluß des Bösen Fortschritte machen im Widerstand gegen das Evangelium. Diese Nacht sah ich im Gesicht alle die schauerlichen Schliche des Feindes, wie er dem Evangelium Hindernisse in den Weg legt, daß es die Ohren und Herzen der Sünder nicht erreichen kann; wie er dem Volke die Täuschung beibringt, daß Finsternis Licht sei und Licht Finsternis. Wenn ich überhaupt predige, muß ich wider die Sünde predigen!

Ich habe in der letzten Zeit Deine Briefe mit Schmerzen vermißt. Die Bergpfade sind vom Schnee gesperrt. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie einsam ich mich bisweilen fühle, ohne einen Menschen, zu dem ich reden, mit dem ich beten könnte, und der mir ein wenig Teilnahme zeigt. Oft sehne ich mich furchtbar, bei Dir zu sein. O, wie Du mir fehlst! Ich merke jetzt, was für ein schlechter Missionar ich bin. Vielleicht war ich zu alt, um eine solche Mission unter den Gefangenen zu übernehmen. Es ist ein so ungeheures Arbeitsfeld, und ich stehe erst am Rande. Ich will tun, was ich kann, solange mir Gott das Leben läßt, und den Rest anderen überlassen. Ich werfe alles auf den liebenden Vater, der alles weiß und der auch Seinen schwachen Diener kennt, den Er nicht verlassen darf. Die heutigen Texte ermuntern und helfen sehr.

Die Mohammedaner rufen von ihren Minarets zum Gebet. Die Namenchristen sind nur bedacht auf Geschäft und Geld.“ —

„Andere aber sind zerschlagen.“

In Wien legte im Jahre 1892 Georg Müller im Alter von 86 Jahren Dr. Baedeker, dem vergleichsweise jungen Achtundsechztgjährigen, die Hände auf und „sonderte ihn aus zum besonderen Dienst unter den verbannten Brüdern, indem er ihn der Liebe unseres himmlischen Vaters befahl“.

Wahrlich ein Vorwurf für den Pinsel eines Malers!

Es ist fraglos, daß jemand nötig war, um sich der Verbannten zu erbarmen und ihnen zu helfen. Die heilige orthodoxe Kirche Rußlands hatte entschieden, daß mit den Stunditen und anderen „Sektierern“ strenge verfahren werden müsse.

Im August 1891 berief Pobjedonostzeff eine große Versammlung orthodoxer Kirchenmänner aus allen 41 Bischofssprengeln Rußlands nach Moskau, um die brennende Frage zu beraten, wie man am besten der Verbreitung der Sektierern im Reiche begegnen könne. Es kam große Besorgnis über die schnellen Fortschritte der baptistischen, stundistischen und „Paschkoffistischen“ Irrlehre zum Ausdruck. Es wurden den Delegierten Aufstellungen vorgelegt zum Beweise, daß 21 von den 41 Sprengeln stark „angesteckt“ seien, und daß „die Kraft der Ansteckung“ zu groß sei, als daß die Geistlichkeit noch imstande wäre, sie zurückzudämmen. Einer der Delegierten erklärte, unter dem Druck der Verfolgung seien einige Protestanten zur Herde zurückgekehrt. Das seien aber leider gerade die Persönlichkeiten, welche die protestantischen Gemeinden froh seien los zu werden.

„Was haben wir zu tun“, fragte er, „um diese ernstgesinnten und Gott fürchtenden Leute zurückzugewinnen, die von uns gegangen sind und nichts von uns wissen wollen?“

Die Antwort Pobjedonostzeffs auf diese eindringliche Frage, — diese Antwort ist in den schließlich von der Konferenz angenommenen Resolutionen niedergelegt, — war der Entschluß, härtere Gewaltmaßregeln anzuwenden.

„Das rapide Wachstum dieser Sekten ist eine ernste Gefahr für den Staat. Allen Sektierern soll verboten werden, ihre Wohnorte zu verlassen. ... Alle Verbrechen gegen den Glauben sollen nicht vom weltlichen, sondern vom geistlichen Gericht abgeurteilt werden. Ihre Pässe sollen besonders bezeichnet werden, so daß sie weder angestellt noch beherbergt werden können, und das Wohnen in Rußland ihnen unmöglich gemacht wird. Sie sollen gesetzlich unfähig werden, Geld- oder Handelsgeschäfte zu treiben, oder wirkliches Eigentum zu erwerben. Ihre Kinder sollen ihrer Gewalt entrückt und im orthodoxen Glauben erzogen werden.“

Das waren einige der praktischen Maßregeln zur Unterdrückung, die man ergriff. Die folgenden Proben aus Pobjedonostzeffs Strafgesetzbuch geben eine lebendige und quälende Vorstellung von den Leiden dieser treuen und geduldigen Kinder Gottes, deren die Welt nicht wert war:

Artikel 187. — Vergehen: Austritt aus der Kirche zu einer anderen Religionsgemeinschaft. — Strafe: Verlust der bürgerlichen und persönlichen Rechte. Verbannung. In milderen Fällen anderthalb Jahre Besserungsanstalt.

Artikel 189. — Vergehen: Predigt oder Abfassung religiöser Bücher, um andere zu verführen. — Strafe: Beim ersten Male Verlust gewisser persönlicher Rechte und Gefängnis von acht bis sechzehn Monaten. Beim zweiten Male Festungsgefängnis von 32 bis 48 Monaten. Beim dritten Male Verbannung.

Artikel 196. — Vergehen: Verbreitung ketzerischer oder sektiererischer Lehren, oder Beihilfe dazu. — Strafe: Verbannung nach Sibirien, Transkaukasien oder anderen entlegenen Teilen des Reiches.

Wir haben einen selbstgeschriebenen Bericht zweier Christen, über welche die schwere Hand der Orthodoxie kam. Bei ihrer Verhaftung „wurden sie zu einem Polizeibureau geschleppt und ihnen die Kleider abgenommen. In einer Ecke lag ein Haufen abgelegter Gefangenenkleider. Ein Beamter wies mit dem Finger darauf und befahl ihnen, die passenden Kleider auszusuchen und anzuziehen. Alles war schauerlich schmutzig, ganz verfilzt von Schweiß und Ungeziefer und einfach scheußlich.“

Auf dem Marsche „wurden nach der ermüdenden Tagereise die fußkranken Gefangenen in kleine ungelüftete Räume zusammengepfercht. Es fehlten darin alle Einrichtungen, um der Bequemlichkeit oder dem Anstand Rechnung zu tragen. In einem Raum von zwanzig mal fünfzehn Fuß mußten nicht weniger als sechzig Menschen die erstickend heißen Stunden einer Sommernacht zubringen.“

„Wir bringen sie zum rechten Glauben, oder wir peinigen sie aus dem Lande“, sagte der „große und mächtige Fürst James Stuart“ von den Nonkonformisten seines Reiches. In Rußland setzte ein Erzbischof der Griechischen Kirche eine Anzahl Flugblätter in Umlauf, die in ähnlicher Weise mit Drohen und Morden schnauben. Eins hatte den Titel: „Die Stundistenbrut.“ Wir führen einige Verse daraus an; denn es ist wohlgemerkt ein Gedicht:

Laßt der Kirche Donner rollen!
Zucke, Bannstrahl der Konzile!
Trefft mit schwerern Fluche gut
Der Stundisten schlimme Brut!

Wie sie teuflisch finster dräuen!
Jeder Christ muß bang sie scheuen.
Im dunkeln Loch und Winkel ruht
Gott hassend der Stundisten Brut!

Ist das nicht recht ansprechend? Was für menschenfreundliche, edle, schätzbare Gefühle!

In den „dunkeln Löchern und Winkeln“ suchte Dr. Baedeker wie ein dienstbarer Engel Gottes diese armen, gehetzten, in Ketten gelegten Menschenkinder auf, um Öl und Wein der Teilnahme und Hilfe in ihre Wunden zu träufeln.

„Diese duldenden Heiligen werden gewöhnlich unter den anderen Gefangenen transportiert, oft in Ketten, bis sie ihren Bestimmungsort erreichen. Dann haben sie Freiheit, sich in einem Distrikt, der ihnen angewiesen wird, niederzulassen und zwar unter strenger polizeilicher Aufsicht. An manchen Plätzen, wohin man sie verschickt, ist es fast unmöglich, eine Existenz zu finden. In einer Tartarenstadt in einem fernen Winkel Transkaukasiens fand ich eine Anzahl verbannter Brüder in völlig hilflosem Zustand. Ein Glücklicher, der mit der Feder gut Bescheid wußte, hatte auf einem Bureau eine Stellung gefunden, die ihm 5 Rubel (12 Mark) monatlich einbrachte. Er wohnte mit einer Familie von sieben Köpfen in einem Zimmer, das eine andere Familie noch mit ihnen teilte. Die Unterstützung, die ich ihm in die Hand drücken konnte, lockte einen Strom dankbarer Tränen hervor.

Die Zahl der Verbannten, welche in den Kaukasus gesandt wurden, ist letzthin sehr gewachsen. Meist sind es Stundisten, Molokanen und Baptisten, Männer und Frauen, die, durch Gottes Wort belehrt, sich nicht mehr dem Bilderdienst beugen, oder von den Priestern Absolution empfangen wollen. In Transkaukasien werden sie in Freiheit gesetzt, und manchmal wird ihnen auch Land zur Urbarmachung zugewiesen. Gewöhnlich bauen sie sich eine Erdhütte, die mit Rasen und Zweigen bedeckt ist.

So behandelt Rußland seine besten Bürger; und diese Verfolgten sind wahre Helden im schweigenden Dulden.

In Tiflis gingen wir in eines der großen Gefängnisse, die ich früher besucht habe. Es sind fast lauter neue Gefangene darin; die letztjährigen sind weiter verschickt. Drei Brüder wurden in Ketten eingebracht. Einer von ihnen erkannte mich und weinte bitterlich. Sie haben Haus, Weib und Kinder in der Umgegend von Moskau. Es ist eine Grausamkeit! Das sind doch die ausgezeichnetsten Untertanen des Zaren. Wir wurden gewarnt, uns nicht zu viel mit ihnen abzugeben. Aber ein Händedruck und eine brüderliche Umarmung waren für die teuren Verbannten eine rechte Erquickung.

Wir (sein Dolmetscher und er) besuchten die Gefangenen in Baku, Jelisawetpol und Tiflis und hatten wieder die Freude, eine Anzahl Brüder trösten zu dürfen, die mit ihren Familien auf dem Wege in die Verbannung waren. In Tiflis trafen wir sieben Brüder mit Familie, zusammen siebenundzwanzig Seelen, im Gefängnis. Unter ihnen war auch eine Großmutter, die uns erzählte, dies sei das elfte Gefängnis, durch welches sie geschleppt würden. Sie sollten nach Jelisawetpol, um dort zu erfahren, wo sie die nächsten fünf oder mehr Jahre unter den schwierigsten Umständen und dazu unter strenger Polizeiaufsicht zuzubringen hätten. Die Zahl der Polizisten ist Legion, und ihr Eifer wird durch die ausgesetzten Belohnungen angestachelt. Eine Schwester, deren Gatte beinahe drei Jahre in der Verbannung gewesen war, erhielt um fünf Uhr morgens einen Besuch der Polizei! Ein lautes Pochen an der Tür begehrte Einlaß, und herein traten fünfzehn Polizisten. Der kommandierende Offizier entschuldigte sich bei ihr, während die anderen Kleiderschränke und Speisekammer sorgfältig durchsuchten. Natürlich wurde nichts Belastendes gefunden. In derselben Nacht wurden noch andere Personen aus demselben Grunde in der Ruhe gestört. Alle Papiere, Rechnungen, Briefe u.s.w. wurden fortgenommen, um für lange Zeit nicht zurückgestellt zu werden. Solche Haussuchungen sind in den meisten Fällen die Einleitung zu Verhaftungen.

In Jelisawetpol fand ich bei einer anderen Gelegenheit in einem Gefängnisse eine Anzahl Duchoborzen. Diese Sekte sucht im Gehorsam gegen Gottes Wort zu leben, meint allerdings auch, durch diesen Gehorsam Erlösung zu finden. Es war ein schöner Menschenschlag, stramm und fröhlich mitten im Leiden. Aber sie finden vor den Behörden keine Gnade und werden wahrscheinlich lebenslang nach Sachalin verbannt werden. Sie hörten eifrig meiner Ansprache zu und waren sehr dankbar für die Neuen Testamente.

In Gerüsi, einem abgelegenen Orte im Bergversteck, fanden wir viele Brüder, die in diese trostlose Öde verbannt waren. Die Reise dorthin ist besonders bei Nacht sehr gefährlich, teils durch den Weg, der meist an sehr tiefen Abgründen entlang läuft, teils der drohenden Raubanfälle wegen, die häufig stattfinden.

Man konnte den Gedanken nicht abweisen, wie anders es uns zumute sein würde, wenn wir als Verbannte über diese wilden und gefährlichen Bergpfade verschickt würden. Die Freude der Brüder bei unserem Anblick und die unsere, sie besuchen zu dürfen, war ein wirkliches Fest des Herzens: kurz, aber süß. Die Brüder hier kommen hin und her in den Häusern zusammen, um gemeinsam zu singen und zu beten.

St. Petersburg. — Vom Kaukasus kommen sehr betrübende Nachrichten. Einige Brüder, die auf fünf Jahre verbannt waren und schon mit Freuden ihre Befreiung vor sich sahen, haben Befehl bekommen, weitere fünf Jahre zu bleiben, ,weil die ihnen zunächst auferlegte Verbannung sie nicht geändert zu haben scheine!’

Moskau. — In Baku hatte ich wieder die Ehre, von einem Polizeibeamten sorgfältig überwacht zu werden. Solche Überwachung übt einen sehr niederdrückenden Einfluß auf die Stimmung aus, und ich habe darin die Gefühle unserer verbannten Brüder verstehen lernen. Um ihretwillen war ich gezwungen, in meinen Bewegungen vorsichtig zu sein. Es wird mir nun überhaupt nicht mehr möglich sein, mich so frei und unbeachtet wie früher zu bewegen. Selbst meine Besuche bei den Gefangenen geschahen unter besonderer Überwachung, und ein Beamter begleitete mich auf den Reisen, bis ich sicher über die Grenze seines Gouvernements war. Ich erholte mich ordentlich, als ich ihm entrückt war, und nun zehn Tage lang fröhlich unter den deutschen Kolonisten in Südrußland das Evangelium verkündigen durfte.“ -

Die kirchlichen und bürgerlichen Behörden waren nicht die einzigen Verfolger der Stundisten. Der Pöbel erhob sich gegen sie, und des Menschen Feinde waren seine eigenen Hausgenossen. (Matth. 10, 36.) Dem Doktor erzählte einer seiner Schützlinge, der den Weg des Lebens durch einen Diener des Vizegouverneurs der Provinz kennengelernt hatte, seine ergreifende Geschichte, die als ein Beispiel für viele hier stehen mag. Er war nach Rumänien geflohen, aber er hatte schwere Zeiten durchgemacht, bevor es ihm gelang, zu entkommen. Seine Frau, die in ihrem neugewonnenen Glauben sehr entschieden war, zerstörte die Ikonen (Heiligenbilder), mit denen ihr Haus geschmückt war. Als das Dorf von dieser Entweihung hörte, stürmten die Nachbarn, begleitet von ihren eigenen Verwandten, das Haus, und mißhandelten das Paar so schwer, daß sie bewußtlos liegen blieben. Damit begann eine monatelange Leidenszeit. Sein Bruder, der Dorfältester war und ein großes Ansehen besaß, belegte seinen Besitz, seinen Viehstand, ja sogar seine Kleider mit Beschlag. Fenster und Türen seiner Wohnung wurden zerstört, sein Landbesitz eingezogen und einem Pächter übergeben, der die Pacht an die Kirchenkasse bezahlen mußte. Als er sich an die höhere Behörde wendete, erklärte diese Behörde ihm, er möge sich scheren und „die Cholera kriegen!“

Nach einigen Monaten, als die Hungersnot seine Familie bedrohte, erschien er vor dem Gemeinderat und bat um einen Paß, um den Distrikt zu verlassen. Als Antwort ergriff man ihn, band ihm Hände und Füße zusammen und hängte ihn so an einen Balken der Decke. Dann quälte man ihn mit Nadeln und heißen Eisen, bis man wegen seines Geschreis die Stricke durchschnitt, so daß er am Boden auf den Kopf schlug. Diese Mißhandlung erzeugte eine Krankheit, die er nur wie durch ein Wunder überlebte.

Als er sich erholt hatte, zwang ihn die hartnäckige Bosheit seiner Nachbarn, an Sonn- und Festtagen schon in der Frühe das Dorf zu verlassen und den Tag hinter den Hecken versteckt zuzubringen. Dann kam ein Besuch dreier Priester, die ihn ausfragten. Da der Besuch nicht sehr befriedigend verlief, obgleich unser Freund so wenig wie möglich sprach, so ward er in das Ortsgefängnis gesteckt. Am nächsten Tage kamen zwei Gendarmen, und unter Anführung des Ältesten, seines Bruders, führte man ihn in die Dorfschmiede. Dort befahl man ihm, seinen Glauben zu verfluchen. Als er sich weigerte, wurde seine Hand in den Schraubstock gepreßt und dieser scharf angezogen. Dann brannte man seine Hand mit einem heißen Eisen. ... Sie wies später zwölf Narben auf. Schweigend schaute er in seiner Qual dem Bruder ins Angesicht; doch der sagte: „Du hast den Teufel im Leibe, aber ich will ihn dir schon austreiben!“ Dann wandte man das heiße Eisen auf verschiedenen Teilen seines Körpers an, und als man der Quälerei müde war, wurde er ins Gefängnis zurückgeführt.

Unterdes erfuhr er, daß er zur Verschickung nach Sibirien verurteilt worden sei. Da beschloß er, einen verzweifelten Fluchtversuch zu machen.

Mitten in der Nacht zerbrach er ein Fenster des Gefängnisses, und es gelang ihm, sich zu befreien. Pfeilschnell rannte er nach Hause, weckte sein Weib auf, und sie flohen, das jüngste Kind mit sich nehmend. Sie verbargen sich am Tage und wanderten bei Nacht, bis sie durch Gottes Güte nach Jelisawetgrad kamen, wo sie einige Brüder in Christo kannten. Diese halfen ihnen und geleiteten sie zu anderen Freunden, bis sie Odessa erreichten. Von dort entkamen sie nach Rumänien, auf verhältnismäßig sicheren Boden. Dieser Bruder fand, wie viele andere, an Dr. Baedeker einen treuen Freund.

Das genügt, um die Dienste zu schildern, die der Doktor der Christenheit und seinem Herrn auf diesem Gebiete leistete. Wie dankbar dürfen wir sein, daß das eiserne Joch jetzt einigermaßen von dem Halse der Kinder Gottes in Rußland genommen ist!

Glückselig ist der Mann, der den Herrn zu seiner Zuversicht macht. (Psalm 40,4)

Dr. Baedeker und Graf Tolstoi.

Das rege Interesse, welches die Arbeit Dr. Baedekers in Rußland begleitete, spiegelt sich auch in der gleichzeitigen russischen Literatur. Wir greifen als Beispiel Tolstois Roman „Auferstehung“ heraus, ein Buch, das russisches Gefängnisleben aufs genaueste beschreibt. Es ist eine ekelhafte und empörende Schilderung.

In diesem Roman finden sich zwei Personen, „Kiesewetter“ und der „Engländer“, die offenbar ein und dasselbe Urbild haben — Dr. Baedeker.

Kiesewetter ist ein fremder Prediger, der seit etwa acht Jahren in den prächtigen Ballsälen und Salons des Adels von St. Petersburg über Erlösung Reden zu halten pflegt. Tolstoi beschreibt ihn als „den Deutschen“, obgleich seine Ansprache englisch gehalten wird, — ein bezeichnendes Zusammentreffen. Die andere Figur, der „Engländer“, ist ein irrlichtelierender Reisender, der Neue Testamente verteilt und in den widerlichen Zellen sibirischer Gefängnisse evangelisiert.

Graf Tolstoi behandelt diese beiden Personen entschieden mit Abneigung; aus welchem Grunde, ist nicht ersichtlich.

Ein Diener betrat das Gemach, in dem die Gräfin mit dem Fürsten, ihrem Neffen, im Gespräch saß, und überreichte ihr auf silberner Platte ein Billet.

„Von Aline“, sagte die Gräfin, „jetzt wirst du Kiesewetter hören können!“

„Wer ist Kiesewetter?“, fragte der Fürst.

„Kiesewetter? Komm heute Abend, und du wirst ihn kennenlernen. Er redet so, daß die verhärteten Verbrecher auf die Knie sinken, weinen und Buße tun.“

Damit ist die Identität der Person klargestellt. Es handelt sich um einen Evangelisten, der gewohnt ist, vor Aristokraten und verhärteten Verbrechern zu reden. Man wird mit der Behauptung nicht fehl gehen, daß Dr. Baedeker der einzige englisch sprechende Deutsche gewesen ist, der an so weltverschiedenen Orten arbeitete: in den Palästen und in den Gefängnissen Rußlands.

Man sollte meinen, daß ein Prediger, der über seinen Erfolg unter den allerniedrigsten und verzweifeltsten Massen das oben ihm gespendete Lob verdient, einer besseren schriftstellerischen Behandlung, als spöttischer Verzerrung wert gewesen wäre. Aber Tolstoi wünschte seine philanthropischen Ideen in den Vordergrund zu stellen, und da bleibt denn im Roman kein Raum für die Anerkennung irgend eines anderen Evangeliums.

„Aline hat ein wundervolles Haus, ein Magdalenenheim“, fuhr die Gräfin fort, „ich bin einmal da gewesen. Die Insassen sind schrecklich widerlich, ich habe mich nachher immerfort gewaschen. Aber Aline geht darin auf mit Leib und Seele. ... Wenn dein Frauenzimmer Kiesewetter hören könnte, würde sie sich bekehren. Bitte, bleib zu Hause heute Abend, du wirst ihn hören. Er ist ein ganz wunderbarer Mann. Wir haben hernach Gebetsstunde.“

„Das interessiert mich nicht, liebe Tante“, erwiderte der Fürst.

Dieser junge Mann, Fürst Nehludoff, tritt in dem Roman als Sozialreformer auf. Aber die göttliche Botschaft, die verhärtete Verbrecher auf die Knie bringt, Magdalenen überwindet und bekehrt, und adelige Damen ihr Leben voll selbstsüchtiger Üppigkeit aufgeben läßt, um sich „mit Leib und Seele“ der Rettungsarbeit an ihren „schrecklich widerlichen“, gefallenen Schwestern zu weihen, diese Botschaft „interessiert ihn nicht“. Fürst Nehludoff rümpft die Nase über allzu eifrige Frömmigkeit.

Interessant ist auch Graf Tolstois Schilderung von einer der aristokratischen Evangelisationsversammlungen, die ihm als bloße fashionable Narrheit erscheinen. Diese Versammlung wird im Roman am Abend nach dem Diner im großen Ballsaal des gräflichen Palais gehalten.

Die hochlehnigen, geschnitzten Stühle wurden in Reihen gestellt. Auf einem kleinen Tisch stand eine Karaffe und ein Glas, daneben ein Armstuhl für den Prediger.

Elegante Equipagen hielten am Haupteingange. Der große, schön geschmückte Raum füllte sich. Da saßen Damen in Seide und Samt, mit falschen Haaren, die Figur mit Spitzen umhüllt und ausgestopft; dazwischen Herren in Uniformen und im Abendanzug, und etliche fünf Leute niederen Schlages: zwei Diener, ein Händler, ein Lakai und ein Kutscher.

Kiesewetter sprach englisch, und eine magere junge Dame mit einem Kneifer übersetzte schnell und geschickt ins Russische.

Die Ansprache, die der Schriftsteller verzerrt wiedergibt, geht uns hier noch nicht an. Einen Zug ausgenommen. Der Prediger in diesem fürstlichen Palaste nimmt offenbar bei seiner Schilderung von der Sünde kein Blatt vor den Mund; ebensowenig in der Verurteilung selbstgerechter, üppiger, parfümierter Sünder; genau wie sein Meister. Die Botschaft an diese blaublütigen Vertreter des Überflusses und der Macht lautet: „Fliehet vor dem kommenden Verderben!“

Man sollte meinen, das würde Tolstois Beifall finden. Weit gefehlt! Kiesewetters Botschaft paßt ihm ebensowenig als die des Engländers an die sibirischen Gefangenen: „Sagt ihnen, daß der Herr sich ihrer erbarmen will!“

Seufzer durchzitterten den Raum. Die Gräfin hatte die Ellenbogen auf ein eingelegtes Tischchen gestützt und das Haupt in die Hände gelegt. ... Ein Senatorstöchterlein, nach der neuesten Mode gekleidet, lag auf den Knieen, das Gesicht in den Händen verborgen.

Man kann nur sehr bedauern, daß der Schriftsteller absichtlich darauf aus ist, diese Szene ins häßlich Lächerliche zu ziehen. Es steht geschrieben: „Die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, werden leuchten wie die Sterne immer und ewiglich.“ —

Wir gehen über zu der anderen Person, dem „Engländer“, der am Schlusse des Werkes erscheint. Er reist zum Vergnügen in Sibirien, besucht die Gefängnisse, redet zu den Sträflingen und verteilt Bibeln.

Als der Roman geschrieben wurde (1894), hatte der Doktor eben seine zweite große Reise zum Besuch der Gefängnisse Ostsibiriens vollendet und war über Singapur und Suez nach Europa zurückgekehrt. Dr. Baedeker war der einzige Engländer, der die umfassende, unbeschränkte Erlaubnis hatte, die russischen Gefängnisse in Europa und Sibirien zu besuchen; und ich denke, es ist nicht wahrscheinlich, daß ein anderer Fremder gleichzeitig ein solches Vorrecht genoß. Tatsächlich hat er nach Ausweis seiner Korrespondenz seine Reisen in Sibirien auf Antrieb des Leiters des Gefängniswesens in St. Petersburg unternommen. Seit Dr. Baedeker sich zurückgezogen hatte, sind die Besuche in den Gefängnissen von seinen treuen Mithelfern in der Arbeit, Baron Nikolai und Mr. Kargel, fortgesetzt worden. In dem Engländer scheinen verschmolzen ein Evangelist aus Menschenliebe, der Gutes tun will, und ein Zeitungsberichterstatter, der auf „guten Stoff“ lauert. Er macht sich beständig Notizen im Blick auf spätere Veröffentlichung.

„Wir wollen ihm das Gefängnis im besten Lichte zeigen“, sagte der General, der Gouverneur des Distrikts. „Ich habe darüber geschrieben, aber sie haben nicht darauf geachtet. Besser, es kommt in die fremde Presse!“

Dieser Engländer ist aber auch ein Schaulustiger. Er hat sich in der sibirischen Stadt die Kathedrale angesehen und die Faktorei; nun will er sich das Gefängnis nicht entgehen lassen. Es ist in seinen Augen auch eine Sehenswürdigkeit.

Sein Diner an der Tafel des Generals ist ihm offenbar ein Genuß, „die harmonische Umgebung, die delikaten Gerichte, die Eleganz und der Überfluß des Hauses“. Die Gattin des Generals, die „sich sehr gerade hielt und die Ellenbogen fest gegen die Taille preßte“, war ihm als Gesellschaft gerade recht. Er wußte viel von Indien zu berichten. Nach der Tafel bat er die Wirtin, die Gesellschaft mit etwas Musik zu erfreuen, und am Arme des früheren Departementsdirektors rauschte sie zu dem großen Piano, einem prächtigen Instrument, und beide exekutierten recht annehmbar Beethovens fünfte Symphonie.

Sehr hübsch geschildert! Aber das ist Dr. Baedeker nicht. Er war kein müßiger Gaffer. Weit entfernt! Aus Konstantinopel schrieb er einst nach Hause: „Gestern besuchte ich die große Sophien-Moschee; aber Du weißt, ich bin zu Besichtigungen verdorben. Es macht mich viel müder, als wenn ich einen ganzen Tag predigen müßte. Gewiß, das Bauwerk ist großartig und einzig. Die ungeheure Kuppel, die Schnitzereien und Mosaikarbeiten sind wundervoll und prächtig, heute soll der Sultan sie besuchen; aber ich fühle kein Verlangen, dahin zu gehen, wo für meinen Herrn kein Raum ist.“

Tolstoi hat mit all seinem Genie nichts Größeres als diesen letzten Satz geschrieben, und der war wohlgemerkt nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. —

„Wieviel Gefangene sind in den Zellen? Wieviel Männer? Wieviel Frauen? Wieviel Kinder? Sind Kranke da? Und Verbannte?“, fragte der Engländer den Inspektor.

Das sind in der Tat Dr. Baedekers ständige Fragen. Aber was ihn dazu veranlaßte, war sicher nicht niedrige Neugier oder „der Blick auf spätere Veröffentlichung“. Diese Fragen stellte er gewöhnlich bei einem einleitenden Besuch in den Gefängnissen, um festzustellen, wieviel Bücher er nachher brauchen würde. Er wußte aus Erfahrung, daß er die Mitnahme einer unnötig großen Last von schweren Büchern, ebenso wie den Kummer und die Unzuträglichkeit, zu wenig zu haben, am leichtesten vermeiden würde, wenn er sich zuerst nach der Belegziffer des Gefängnisses erkundigte. Wie einleuchtend ist die Sache, wenn sie klargestellt wird!

Am größten wird die Verwirrung bei Tolstois Wiedergabe der Predigt des Doktors. Man darf ihm immerhin seine abweichende innere Stellung zugute halten. Er vergreift sich in der Schilderung, weil er kein Verständnis hat. Der „Engländer“ redet die Leute durch den Dolmetscher an:

„Sagen Sie ihnen, daß Christus sie geliebt hat, sich ihrer erbarmt hat und für sie gestorben ist. Wenn sie daran glauben, werden sie errettet werden.“ Während er sprach, standen die Gefangenen alle schweigend da, die Hände an der Hosennaht.

Hätte der teure Redner diesen Bericht über seine Ansprache zu revidieren gehabt, er hätte ihn sicher nicht unverändert gelassen. Wie er dasteht, ist es nur ein totes Glaubensbekenntnis, ein Bericht über längst vergangene Geschichten. Dr. Baedekers Botschaft war etwas Lebendiges, voll Macht und voll Liebe und zur Entscheidung drängend.

„Sagen Sie ihnen, daß Jesus sie jetzt lieb hat und sich ihrer heute erbarmen will; daß Er einst für sie gestorben ist, aber jetzt lebt und ihnen hilft und sie segnet. Wenn sie daran glauben, werden sie ganz sicher gerettet werden. Der Glaube an Ihn wird sie zu neuen Menschen machen.“

Eine geringfügige Veränderung, aber dann wird eine sehr andere Botschaft daraus, als die Tolstois. Eine ziemlich einfache Behandlung durch einen erfahrenen Uhrmacher bringt eben den ganzen Unterschied zwischen einer nutzlosen Last in der Tasche und einem verläßlich gehenden Chronometer zuwege. Tolstois Uhr ist nichts wert. Der Graf war offenbar nicht imstande, den eigentlichen Gehalt der evangelischen Wahrheit zu fassen.

Dagegen ist eine Schilderung der Bibelverteilung in den Zellen gut getroffen. Es ist eine lebendige und ergreifende Szene.

Der Engländer zog eine Anzahl gebundener Testamente aus seiner Handtasche, und viele starke Hände mit harten, geschwärzten Nägeln streckten sich ihm aus den schmutzigen Hemdärmeln entgegen und drängten einander zur Seite.

Ebenso ging es im zweiten Saale. Die gleiche verdorbene Luft, dasselbe Heiligenbild zwischen den Fenstern, dieselbe Röhre links von der Tür. Die Gefangenen lagen alle Seite an Seite dicht gedrängt auf den Bettstellen; sie sprangen ebenso in die Höhe und standen aufrecht, die Hände an der Hosennaht - bis auf drei, die krank waren.

„Sagen Sie ihnen“, sagte der Engländer zu dem Dolmetscher, „daß alles in diesem Buche steht. Kann jemand von ihnen lesen?“

Graf Tolstois „Engländer“ ist erschöpft, lange bevor die Zellen alle besucht sind.

Die niederschlagenden Eindrücke und vor allem die erstickende Atmosphäre brachen auch seine Energie!

Wiederum befindet sich Tolstoi in hoffnungslosem Widerspruch mit den Tatsachen. Indes auch darin müssen wir mit dem Schriftsteller Nachsicht haben. Er rechnet mit den Möglichkeiten einer Durchschnittsnatur. In der Tat, ein gewöhnliches Menschenkind würde mit dem Besuch eines halben Dutzends dieser stinkenden, höllischen Löcher genug haben. Es würde „seine Energie brechen“.

Aber was hielt Dr. Baedeker mehr denn fünfzehn Jahre unablässig bei dieser Arbeit fest? Was ließ ihn von Tiflis schreiben:

„Die Gefängnisse besuchen und den armen Seelen dienen, die in der schauerlichen Gewalt der Sünde und Finsternis sind, ist wahrlich für mich besser, denn von Engeln gespeist werden!“

Oder folgender Bericht über seine Liebesarbeit an einem Weihnachtstage:

„Mein Begleiter und Übersetzer lag am Fieber danieder. So ging ich allein hin und stolperte durch ein Gefängnis voller Menschen mit der geringen Unterstützung, die ich durch einen deutschen Gefangenen fand.“

Warum nahm er nicht die Krankheit seines Begleiters zum Vorwand und blieb an dem Tage zu Hause? Die Antwort steht Jeremia 20, 9. Wer die Bibel liest, sehe sich den Vers an. Wer es nicht tut, wird Dr. Baedeker nie verstehen, so wenig Graf Tolstoi ihn verstand.

R. T. Morgan, dessen Rundreise durch die Gefängnisse Südrußlands mit Dr. Baedeker im Jahre 1901 wir schon erwähnt haben, schildert höchst lebendig die unauslöschliche Begeisterung und unermüdliche Beharrlichkeit des Doktors bei seinen Gefängnisbesuchen.

„Man stelle sich die Arbeit vor, die der Gang durch ein langgestrecktes Gebäude macht; mehrere Ansprachen, bisweilen bei großer Hitze, dabei die Seele voll hochgespannter Teilnahme, die erregt werden muß durch das zerstörte Leben und das verdüsterte Gemüt der niedergedrückten und oft ganz hoffnungslosen Gefangenen, ferner die beständige Prüfung aller, die lesen zu können behaupten. Ich bin mehr als einmal müde geworden, wenn ich ihn begleitete. Aber die Liebe zu den Elenden, die Kraft des Evangeliums und die Freude im Herrn sind seine Stärke.“

Wir haben auch keinen Grund, nach der Schilderung Tolstois die Erfolge der Verteilung in den Gefängnissen gering anzuschlagen. Denn der Roman schließt mit langen Auszügen aus einem Evangelium, das der „Engländer“ überreicht, und mit ernsten moralischen Betrachtungen, die ausgezeichnet sind, soweit sie, wenn auch unendlich abgeschwächt, aus diesem Evangelium stammen.

Es ist so leicht für einen Tolstoi, zu sagen, was die Menschen tun sollten, und wie sie sein sollten; aber Dr. Baedeker zeigte statt dessen selbst den Gesunkensten und Verlassensten die Kraft Gottes, die bereit ist, sie zur Hoffnung, zu neuer Würde und Freude emporzuheben, die Kraft des lebendigen, liebenden Sohnes Gottes. Paulus trifft den Kern der Sache, wenn er sagt: Wenn ein Gesetz gegeben wäre, das da könnte lebendig machen, so käme die Gerechtigkeit wahrhaftig aus dem Gesetze (Gal. 3, 21). Aber das Gesetz hat noch nie und wird nie auch die Kraft verleihen, ihm zu gehorchen. Es war auch nicht nur eine schöne Theorie, die der Doktor vortrug, sondern eine Tatsache, in zahllosen Fällen erprobt, daß Er auch den Elendesten zu erretten vermag. Dr. Baedeker trieb nicht seinen Spott mit den Gefangenen, noch auch hörten sie ihm zu „unbeweglich, die Hände an der Hosennaht“. Unser Buch zeigt, wie die armen, dürstenden Seelen verlangend von dem Wasser des Lebens tranken. Ganz werden wir die Wirkung seiner Arbeit erst im Licht der Ewigkeit erkennen.

Der Doktor erzählte wohl von einer Unterhaltung, die er in Moskau mit dem Grafen Tolstoi hatte, und aus welcher der Graf etwas über den evangelischen Glauben hätte lernen können.

Der berühmte Schriftsteller empfing Dr. Baedeker schäbig gekleidet in seinem kahlen und kümmerlich möblierten Gemach. Die beiden nahmen Platz und redeten zusammen von England und von russischen Dingen.

„Was ist Ihr Ziel in Rußland?“, fragte der Graf.

„Das Evangelium Christi in den Gefängnissen zu predigen“, antwortete der Doktor.

„Es sollte überhaupt keine Gefängnisse geben“, rief Tolstoi aus.

„Solange es Sünde in der Welt gibt, wird es auch Gefängnisse geben“, war die ruhige Antwort des Evangelisten.

„Es sollte auch keine Sünde in der Welt geben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich meine, wenn die Leute richtig belehrt würden, würde es keine Sünde geben!“, sagte Tolstoi mit feuriger Betonung.

Als Antwort führte Dr. Baedeker Lukas 11, 21 u. 22 an: „Wenn ein starker Gewappneter seinen Palast bewahret, so bleibt das Seine mit Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seinen Harnisch, darauf er sich verließ, und teilet den Raub aus.“

„Das ist ein Gleichnis von der Menschenseele und des Teufels Macht über sie“, sagte der Doktor. „Da steht die wahre Ursache der Sünde.“

„Woher ist das?“, fragte der Graf mit großem Interesse.

„Aus der heiligen Schrift“, war die Erwiderung. „Es ist einer stärker als wir — der Böse — gegen den wir uns mit unserer natürlichen Entschlossenheit und unseren Moralgesetzen vergebens wappnen. Meine Botschaft an die Gefangenen Rußlands und die Sünder allerwegen lautet, daß es einen noch Stärkeren gibt, der imstande ist, die Gefangenen und Sklaven Satans recht frei zu machen und sie in heilige und geliebte Kinder des ewigen Gottes zu verwandeln.“

Aus der irdischen zur himmlischen Heimat.

Der Raum verlangt für dies Kapitel äußerste Kürze. — Wer an einem lieblichen Sommertage die Seepromenade in Weston-super-Mare entlang wandert und hinausschaut über den Ozean, hinüber über das kleine Inselchen Steep Holme, das draußen fünf Meilen vor der Küste liegt, als der einzige feste Punkt über dem Wasser bis hin nach Neuyork, der soll Dr. Baedekers gedenken. Sein Haus schmiegte sich an die reizenden Hügelhänge unter dem Walde zwischen dem großen Steinbruch und einer langen Kirche mit rotem Dach, die man beide von der Promenade deutlich sehen kann. Durch die lauschigen Baumwipfel des Groveparks hat man aus den Fenstern des Hauses entzückende Ausblicke auf die Bucht und auf das große Vorgebirge jenseits, Brean Down, dazu weiter hinüber auf die weitgedehnte Bucht von Bridgwater. Auf dem Strand, dicht vor der Estrade, war der Doktor an den Abenden der Sommersonntage eine bekannte Figur. Er verkündete dann großen Massen von Sonntagsspaziergängern die erhabene, alte Botschaft, deren Macht zur Errettung auch des größten Sünders er so oft erprobt hatte. Gewöhnlich stand er in Gesellschaft gleichgesinnter Brüder bei dem mittleren Hafendamm — allerdings war damals noch kein Damm vorhanden — an der Stelle der Bucht, wo an Wochentagen die Menschenmassen sich einen guten Tag machten, wie es an der See Sitte ist.

Des Doktors Haus hieß Wart-Eck. Er und seine Frau brachten ihr geweihtes Leben damit zu, „zu warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung“, und wohnten so recht passend in „Wart-Eck“!

Die drei englischen Gesellschaften, an deren Arbeiten er sich mit Eifer beteiligte, so oft er sich in England aufhielt, waren die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft, die Evangelische Allianz und die Protestantische Allianz. Die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft leistete Dr. Baedeker eine sehr wertvolle Hilfe, indem sie ihm Jahr für Jahr viele tausend Neue Testamente und andere Bibelteile zur Verteilung in den Gefängnissen zu sehr ermäßigten Preisen lieferte. Der Doktor erkannte denn auch seine Verpflichtung gegen die Gesellschaft stets dankbar an, vertrat ihre Sache eifrig in mancher Versammlung daheim und draußen, und stärkte zweifellos auch manchem ihrer Agenten die Hand an den Orten, die er besuchte. Ein Blick auf seine Briefe nach Hause zeigt an vielen Stellen seine fast peinliche Sparsamkeit in den Ausgaben für die Reise, das Hotel und andere persönliche Bedürfnisse. Das geschah, um nur seine Mittel möglichst vollständig für den Ankauf der nötigen Exemplare des Wortes Gottes zu den vorteilhaften Preisen der Bibelgesellschaft frei zu halten. — Die Evangelische Allianz hatte sich ebenfalls seines kräftigen Eintretens zu erfreuen, besonders in der alljährlichen Gebetswoche, für die er in Weston-super-Mare einige Jahre lang die Vorbereitungen in der Hand hatte. Wie leicht und unwiderstehlich leitete er uns zum Throne Gottes, wenn er aufstand und in Anbetung und Lobpreis ausbrach! — Die protestantische Allianz und die Reformationsgesellschaft kamen allmonatlich zu einer Gebetsversammlung in seinem Salon zusammen. Er war gewöhnlich abwesend im Dienste seines Herrn, aber wir vergaßen nie, in diesen Versammlungen für unseren teuren Wirt zu beten.

In Weston wohnte Dr. Baedeker regelmäßig den Sonntagsversammlungen in der Evangeliumshalle in Waterloo-Street bei. Er beteiligte sich mit der größten Herzlichkeit an der einfachen, brüderlichen Gemeinschaft und dem Gottesdienst dieser entschiedenen Gläubigen. Seine Sympathien reichten weit und waren stark, und seine ehrwürdige Gestalt war bekannt und gern gesehen in allen Versammlungen seiner Mitchristen, denen er in der Stadt beizuwohnen vermochte.

Seinen Freunden in Weston steht er besonders schön in der Erinnerung, wenn er mit offenbarer Freude und Begeisterung den bekannten Vers sang, der so bezeichnend ist für sein eigenes Leben:

Kranke Herzen gilt’s zu trösten,
Denn die Tage eilen schnell.

Der letzte Brief aus der Fremde in meiner Sammlung erzählt von Versammlungen in Dresden, in dem „lieben Böhmen“, zuerst in Prag, der Marterstadt des Huß, in Wien und in Budapest. Er ist offenbar mit zitternder Hand geschrieben, aber aus einem Herzen geflossen, das ebenso groß und warm schlägt, wie je. Er schließt bezeichnenderweise:

„Grüße von Herzen alle Heiligen!

Es rinnt das Stundenglas der Zeit,
Es dämmert auf die Ewigkeit.“

Ich schreibe diese Worte ab in düsterem Zwielicht, in dem ich meine eigene Schrift kaum unterscheiden kann. Wie verschieden davon ist seine Lage! Er steht nun im vollen Glanz der Herrlichkeit seines Herrn. Der Tag ist angebrochen, die Schatten sind für immer geschwunden. Auf einer Konferenz in Clifton bei Bristol wurde er heimgerufen. Eine Erkältung entwickelte sich zur Lungenentzündung, und nach einer Krankheit von wenigen Tagen verschied er in Freude und Triumph, während dieser wenigen Tage war ein Wort beständig auf seinen Lippen:

Ich werde den König sehen in Seiner Schöne!

Auf Erden hatte er vertraulich mit Fürsten und Adeligen verkehrt und das Evangelium in den Privatzimmern von Monarchen verkündigt. Nun stand er auf der Schwelle zu seiner herrlichsten Begegnung. Das Sterbezimmer war die Vorhalle des Himmels. Wer mit leisen Schritten hier eintrat, wurde in Ehrfurcht und Erregung versetzt durch unsichtbare Einflüsse und ewige Mächte. Es war ein erhabener Heimgang! Sein Tod war so groß wie sein Leben.

Es war ganz besonders angemessen, daß nach Gottes Vorsehung Lord Radstock in England war und an der Beerdigung teilnehmen konnte. Der Lord erinnerte in seinen Ansprachen bei dieser Gelegenheit an die eigenartigen Umstände, unter denen die Bekehrung des Doktors und seine Einführung in sein großes Lebenswerk vor sich ging. Es war nicht minder angemessen, daß der einzige Kranz, der nach Frau Baedekers Bitte auf dem frisch geschlossenen Grabe liegen durfte, ein Liebeszeichen der Herzenstrauer seiner dankbaren Freunde in Rußland war, das mit Eilbeförderung von London gekommen war, eben recht zu seinem Begräbnis.

Seine irdischen Überreste harren auf den herrlichen Auferstehungsmorgen an dem freundlichen Abhange des Westoner Hügels nach Süden zu. Er hatte den Sonnenschein stets lieb. Darüber erheben sich die waldgekrönten Höhen. Drunten in der Ferne flutet und ebbt die See in der Bucht unaufhörlich auf den Strand. Jenseits erstrecken sich Vorgebirge und Hügel, die Mendips und die Quantocks, — ein friedlich schönes Bild. Sein Grab liegt nahe bei dem seines alten, hochgeschätzten Freundes, des achten Grafen von Cavan. Es ist etwa zehn Minuten von dem geliebten Wart-Eck entfernt, in dem er mit Unterbrechungen so manches Jahr wohnte und wartete auf die selige Hoffnung, und wohin auf seinen Reisen in der Ferne unter den seltsamsten Bildern in den fernsten Winkeln Europas und Asiens sich sein Herz so voll Sehnsucht wandte.

Auf seinen Grabstein hat seine Gattin folgende Inschrift gesetzt:

Friedrich Wilhelm Baedeker, Dr. phil.
Er ging, den König zu sehen in Seiner Schöne,
errettet durch das teure Blut Jesu,
am 9. Oktober 1906,
83 Jahre alt.

Er redet noch, wiewohl er gestorben ist.

Zum Schluß hören wir den Diener Gottes, der jetzt in die unmittelbare Gegenwart seines Meisters entrückt ist, noch einmal aus einigen seiner durchdringenden, von heiligem Feuer durchglühten Sätze. Er redet noch, wiewohl er gestorben ist.

1. Überfluß daheim und Mangel draußen.

Saratow, Rußland. — Tausende auf der kleinen Insel in der Nordsee, die Großbritannien heißt, haben „das Fette gegessen und das Süße getrunken,“ haben alle sich geweidet an der Fülle, die Christo ist, ohne daß diese Fülle geringer ward. Aber haben wir auch einmal einen Blick auf die Weltkarte getan? Haben wir ein Recht, die Gottesgabe des Evangeliums für uns mit Beschlag zu belegen und die Völker darben zu lassen?

Das Licht soll scheinen in der Finsternis. Wenn die Brüder in England wüßten, was ich weiß, sie würden ausgehen an die Enden der Erde, um Licht an „den dunkeln Ort“ zu tragen.

Sewastopol. — Karten sind etwas sehr Nützliches. Man sollte sie in den Versammlungen der Heiligen aufstellen, um ihnen unsere unbezahlte Schuld an die Nationen der Erde immer wieder vorzuhalten.

Von den Ufern des Ural. — Diese Nationen und Stämme sind wie Schafe, die keinen Hirten haben. Wo ist die Gemeinde Gottes diese achtzehnhundert Jahre gewesen? Wie ist es möglich, daß zu Hause Brüder und Schwestern einen Sonntag nach dem anderen sich weiden, und haben nichts, um es denen zu senden, denen nichts bereitet ist? Wie wünschte ich, daß die gläubigen jungen Männer und Frauen Britanniens nur einen Blick tun könnten in dies völlige Übersehensein der asiatischen Völker!

War Paulus der einzige Schuldner der Griechen und Ungriechen? Beruhigen wir uns jetzt etwa nur selber, indem wir seinen brennenden Eifer bestaunen? Ein paar liebevolle Worte würden hier viel mehr wert sein, würden mehr wirken, als manche ausgezeichnete Ansprache daheim in unseren behaglichen Sälen. Wieviel bist du meinem Herrn schuldig?

Ich werde alt, und meine Zeit eilt dahin; aber wenn ich über das weite Erntefeld blicke, ist mir’s, als ob dreifaches Leben in mir aufquelle, das wetteifernd dargebracht werden möchte im heiligen Dienst meines Herrn.

Fragt Gott mehr nach einem hochgebildeten Engländer, als nach einem dieser Asiaten? Das teure Brot des Lebens, das in England an einem einzigen Sonntag unter die Füße getreten wird, würde ein ganzes heidnisches Volk vom Verschmachten erretten. Die Sünde ist mächtig geworden; wo ist aber die Gnade Gottes noch viel mächtiger geworden? Ist unser Evangelium zu einem schönen Lehrgefüge abgeschliffen worden, daran die Heiligen daheim sich ergötzen, während Sünder ohne ein Warnwort zur Hölle fahren?

Odessa. — Beim Gedanken an alles Gute daheim kommt mir immer wieder die Frage: Cui bono? (Wem nützt es?) Was wird mit der öden, furchtbaren Wildnis? Essen die Hündlein von den Brosamlein, die von des Herrn Tische fallen? Just bin ich durch ein Land gereist, das in Ungerechtigkeit versunken ist; es ist kaum ein Zeuge für die Wahrheit darin. ... Es liegen hier viele englische Dampfer, die Weizen laden; aber niemand scheint sich um die Seelen der Seeleute aus ihnen zu kümmern.

Orenburg. — England braucht mich nicht. Es sind schon zuviel Prediger und Lehrer dort. Das lebendige Wasser fließt nicht weiter, und darum wird’s abständig. Hier sind weite Felder von Völkern, denen noch kein Evangelium erschienen ist. In geringer Entfernung von hier liegt auf der sibirischen Seite ein Bazar, der große Warenzufuhr hat. Da kommen Kaufleute aus Buchara, Tartaren, Kalmücken, Kirgisen mit ihren Warenballen, die Kamele gepackt zum Abmarsch. Wer über die Uralbrücke geht, kommt von Europa nach Asien, und die weite sibirische Steppe streckt sich vor einem bis an den Horizont. Die Zeit eilt reißend schnell. Möchten doch mehr Männer bereit und willig werden, Evangelistenarbeit an Orten wie diesem zu tun, anstatt in England bei religiösen Erörterungen Haare zu spalten, wodurch doch niemand gebessert wird! Es wird immer mehr mein Anliegen, auch denen Teile zu senden, die nichts bereitet haben.

Zürich. — Mehr und mehr komme ich zu der Überzeugung, daß in England zuviel Christen an einem Ort zusammen sind, und daß sehr viele von ihnen besser täten, dem Herrn in anderen Ländern zu dienen.

Prag. — Eben bin ich aus der letzten Versammlung zurück. Es war ein ausgefüllter und fruchtbarer Tag; Seelen sind zum ewigen Leben geboren worden. Die lieben, lieben Czechen! Es ist eine große Freude, wenn man hungernde Seelen sättigen darf.

Berlin. — Es sind hier viele, viele offene Türen für das herrliche Evangelium. Du wirst mich nicht falsch verstehen, wenn ich sage, man hat es anscheinend hier oft verschwendet, indem man es Leuten predigte, die es seit vielen Jahren kannten, und es den hungrigen, bedürftigen Seelen vorenthielt. Ich bin dankbar für jeden Arbeiter auf den vielen Erntefeldern. Gott sei gepriesen für jede Seele, die vom Herrn gewonnen wird — alt oder jung, reich oder arm. Ich bin dankbar für jedes Gedenken im Gebet, für jedes Zeichen der Teilnahme bei den Gliedern des Leibes Christi. Aber doch ist das Gebet um mehr Arbeiter in die Ernte uns vom Herrn der Ernte aufgelegt. Ist nicht die ganze Gemeinde Gottes gesandt in die Welt, ebenso wie der Herr selbst gesandt ward in die Welt? (Joh. 17, 18 und 20, 21.)

O, laßt noch tausend Zungen klingen,
Des großen Heilands Lob zu singen!

Was wird’s werden, wenn Gott einmal Rechnung macht über die unbezahlten Schulden der Christenheit!

Bukarest. — Was für ein Segen, daß es am Leibe Christi arme und leidende Glieder so gut gibt als starke und reiche! Wie hochmütig, trocken und unfruchtbar würden wir sein ohne die Bedürftigen, die unsere Teilnahme und Hilfe nötig haben! „Die Glieder des Leibes, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten.“ Heute gehe ich zur Königin von Rumänien und hoffe, sie wird mir die Erlaubnis verschaffen, die Gefängnisse und Baracken zu besuchen. Bukarest ist eine sehr weltliche, lustige Stadt ... aber es sind auch Klumpen lauteren Goldes da und kostbare Edelsteine, die nur ausgesucht werden müssen. Auch eine Anzahl bedauernswerter armenischer Flüchtlinge ist hier, die der Teilnahme bedürfen. Wir hatten eine recht schöne dreitägige Konferenz in Constanza mit Brüdern verschiedener Rationen und Denominationen. Da war „Wasser, daß man darin schwimmen konnte“! Er ist gut!

O, daß die verschiedenartigen Gaben des Leibes Christi in wirksamen Fluß gebracht würden! Es herrscht kein Mangel, aber Stillstand. Man verschwendet zuviel, indem man’s an sich selber wendet. „Er ist darum für alle gestorben, auf daß, die da leben, hinfort nicht ihnen selbst leben, sondern Ihm.“ Es gibt kirchliche Selbstsucht und nationale Selbstsucht so gut wie persönliche und Familienselbstsucht. Das große „Nicht“ muß dem allem gegenüber gelten!

Helsingfors. — Das Drommeten des Königs ist im Lager. Mein Leib gehört dem Herrn zu Seinem Dienst! Er gibt Stärke die Fülle. Gestern Abend und heute Morgen gab die Trompete einen klaren Ton. ... Ich schaue aus nach dem Herrn, um eine wirkliche Erntezeit für Ihn. Die 153 Fische für die Auferstehung sind noch nicht binnen. Sie müssen da sein, bevor das Netz ans Land gezogen wird, und der Meister sich niedersetzt mit Seinen Jüngern.

Gestern Abend redete ich im chemischen Laboratorium der Universität deutsch; heute Morgen im Methodistensaal schwedisch mit Übersetzung; um 5 Uhr heute Nachmittag bei Miß Sahlberg englisch mit Übersetzung ins Schwedische; heute Abend deutsch mit Übersetzung ins Schwedische in einem großen Saale, in dem wir an einem Sonntag zusammen waren. Für morgen bin ich gebeten, ein Heim für arme, gefallene Mädchen und nachher die deutsche Mädchenschule zu besuchen. Viele der Universitätsstudenten haben sich bei den Versammlungen für Christum entschieden.

Eben war eine sehr stark besuchte Versammlung. Der Herr gab das Wort mit Macht. Es traf rechts und links; aber die heilende Hand des Herrn war ebenso spürbar. Heute Abend rede ich noch einmal im Laboratorium der Universität.

Wir wollen unser Mitleid ja nicht zurückhalten. „Gebt ihr ihnen zu essen!“ ist uns geboten.

Hattingen. — Es ist für mich immer eine Glaubensprobe, an einem neuen, mir fremden Ort zu beginnen; aber der Herr ist so gut, daß ich mich nicht fürchten darf.

Sewastopol. — Ach, daß ich Wasser genug hätte in meinem Haupte, und meine Augen Tränenquellen wären, daß ich weinen möchte über diese armen Verbrecher in Ketten und ohne Ketten! Man kann so wenig für sie tun; und doch, ein Lichtstrahl mag in manches verdüsterte Leben geworfen werden. Wüßten wir mehr von den Gefangenen, wir würden mehr für sie beten und ebenso für die Gefängnisbeamten. Viele der letzteren haben mich mit Wärme aufgenommen. Ich habe die Freude gehabt, von der großen Errettung und vom Herrn zu ihnen reden zu dürfen, und wir sind als Brüder geschieden. Der Herr mache das Zeugnis fruchtbar für die Ewigkeit!

2. Notwendigkeit der Sündenerkenntnis.

Abo, Finnland. — Unsere Versammlungen sind reich gesegnet gewesen. Gestern Abend redete ich über die Sünde und zeigte die Notwendigkeit eines Sündenträgers. Ich meine, wenn völligere Erkenntnis der Sünde da wäre, würde man nicht soviel über Ansichten und Meinungen herumstreiten, sondern würde Rettung suchen vor dem kommenden Verderben. Die Sünde nimmt so täuschende Verkleidungen an, daß die Leute nur wenig von ihr wissen. Aber sie ist unter jeder Maske furchtbar, ja teuflisch. Man kann so leicht nachplappern: „Sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie an Gott haben sollten.“ Scheint es nicht Hohn, daß Leute, welche durch die arge Tyrannei der Sünde in Fesseln geschlagen sind, dastehen mit einem kostbaren, schönen Gesangbuch in der Hand und singen: Wir sind arme Sünder; es ist nichts Gesundes an uns! Wie können sie das Buch in der Hand halten? Wie können sie aufrecht stehen? Wie können sie die Worte anstimmen, zu denen gar noch eine gefällige Melodie gesetzt ist? — Unsere religiösen Formen sind etwas furchtbar Verwerfliches, wenn keine Kraft mehr darin ist.

Abo ist eine schöne Stadt und sieht besonders jetzt in seinem weißen Winterkleid, im prächtigen Sonnenschein, ganz reizend aus. Doch sagt man, der Sommer erst sei die rechte Zeit, um alle Schönheiten des Landes zu sehen. Wie es damit auch sei, ich kann nicht die Gegend bewundern, wenn Satan Menschenseelen so fest in den Klauen hält, weil sie Den nicht kennen, der fähig und bereit ist, sie zu erretten. O wie groß ist unsere Schuld! — Um 10.30 Uhr heute Morgen habe ich eine englisch-schwedische Versammlung; heute Abend 6.30 Uhr eine englisch-finnische. Gott segne Dich, meine Liebe, und erhalte Dir ein gesalbtes Angesicht und ein freudevolles Herz, weil Du Dich selber verleugnen darfst um Seines Namens und des herrlichen Evangeliums willen!

Cassel. — Sünder muß man bei ihrem rechten Namen nennen, oder sie werden nie Christen werden.

Budapest. — Es ist tief schmerzlich, daß in den Gebeten der Kinder Gottes und ihrer Evangelisationsarbeit so wenig der Gedanke lebt an die weiten Länderstrecken mit vielen Millionen Heiden, die den Christennamen tragen, aber in der Gewalt der Finsternis sind.

Auszug aus einer Ansprache des Doktors in England. — An der österreichischen Grenze, in Wiliczka, befindet sich ein tiefes Salzbergwerk, in dem eine Anzahl von Männern und Weibern beschäftigt ist. Sie arbeiten dort das ganze Jahr über. Ja, sie leben mit ihren Familien tatsächlich in dem Salzbergwerk. Es gibt dort ein unterirdisches Dorf. Kinder werden im Salzbergwerk geboren und gehen zur Schule. Es gibt sogar eine Kirche. Die einzige Sonne, die sie kennen, ist ein künstliches Licht. Wenn jemand von dorther auf die Erdoberfläche gebracht wird, das strahlende Licht der wirklichen Sonne sieht und ihre Wärme fühlt, so kehrt er natürlich nur sehr zögernd in seine frühere Finsternis zurück. Aber es gibt hier Leute, die in viel schwärzerer Finsternis leben, und auf die niemals das Licht des Evangeliums Christi scheint. Was soll mit ihnen geschehen? Sollen wir es zulassen, daß sie als Sklaven in ihrer schauerlichen Grube bleiben? Sicherlich ist die schwärzeste Finsternis nicht so finster, daß nicht die Strahlen der Gnade Gottes sie erhellen könnten!

3. Unsere einzige Hoffnung.

Wesel. — Gestern Abend sehr besuchte Versammlung. Mein Thema war: „Die Erlösung durch Sein Blut.“

Riga. — Gestern Abend war der Saal gestopft voll, und der Herr gab das Wort unter Beweisung des Geistes und der Kraft. Es wird ein Tag sein, den mancher nicht leicht vergißt. Allen Ruhm dem Lamme!

Auf dem Schwarzen Meer. — Wir steuern an der Küste der Krim entlang und haben bereits in Nalta und Feodosia gehalten. Am letzteren Orte landeten Fürst G. und Gemahlin mit ihrer Dienerschaft. Ich hatte gestern Abend mit dem Fürsten eine lange und hoffentlich gesegnete Unterhaltung. Er ist ein anziehender, einsichtiger Mann, und ich hatte Gelegenheit, ihm die Wahrheit vorzulegen. ... Der Herr trägt dies Schiff in Seiner Hand. ... Es sind viele Türken, Armenier, Tartaren und Deutsche an Bord; so habe ich kostbare Gelegenheiten, ein Wort für den Herrn zu sagen.

Ein Armenier bewies sich freundlich gegen einen armen Menschen seines Volkes, der ohne Fahrkarte war und vom Schiff entfernt werden sollte. Er bezahlte die Fahrt für ihn. Das war für mich eine Gelegenheit, mit ihm zu reden. Ich erzählte ihm, was Jesus für uns getan hat. Sein Herz schlug mir warm entgegen, und ich glaube, er ist ein Christ. Natürlich sind, wenn man zu einem einzelnen redet, stets mancherlei Lauscher dabei. An Bord dieser Dampfer bietet der stete Wechsel der Passagiere ein wundervolles Feld der Evangelisation. „Wirf dein Brot aufs Wasser, und du wirst es finden.“

Reval, Estland. — Die Griechen, die Lutheraner und Römischen haben Gottes ewigen Grenzstein verrückt; sie setzen Zeremonien und Sakramente an die Stelle des Blutes.

Auszug aus einer Ansprache des Doktors in England. — Einst traf ich einen Tartaren, einen Mohammedaner, der die übliche Frage an mich richtete:

„Was denkst du vom Propheten Mohammed?“

„Ich habe eine viel wichtigere Frage für dich!“, war meine Erwiderung.

„Viel wichtiger!?“, rief er aus. „Und die wäre?“

„Was denkst du über die Sünde?“

„O, wir sind alle Sünder“, antwortete er. Er hätte ein Engländer sein können, so glatt kam ihm das vom Munde.

„Dann bist du wohl auch ein Sünder?“, fragte ich.

„Ja, gewiß.“

„Kann ein Sünder den anderen retten?“

„Nein.“

„Wenn er aber ein Prophet ist?“

„Nein.“

„Gut; was haben wir denn zu tun, da wir alle Sünder sind?“

Auf die Frage hatte er keine Antwort. Da erzählte ich ihm von dem Einen, der von keiner Sünde wußte, und der für uns zur Sünde gemacht ist. Der Tartar beugte sein Haupt, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte nie vordem vom Evangelium vernommen. Er war einer aus diesen Millionen Menschen, schönen Menschen, prächtigen Gestalten, mit einem Schritt wie Riesen oder Könige, aber gebunden von der Sünde, und ohne einen, der ihnen erzählt von Dem, dessen Blut sie freimachen kann.

Es gibt keine Macht auf Erden, welche Sünder von der satanischen Macht befreien könnte, die sie mit tödlichem Griff umklammert hält, als die Macht des Herrn Jesu Christi, der für uns gestorben und auferstanden ist. Ich sehne mich, wieder hinauszugehen, und den Völkern in jenen dunkeln, dunkeln Landen diese wundervolle Liebe zu bezeugen — die Liebe Gottes in Christo Jesu. Diese Geschichte ist es wert, daß man sie erzählt. Und sie hören’s gerne! Ach, wenn sie nur davon wüßten, sie würden nicht solche Sünder bleiben, wie sie jetzt sind. ...

Die Leute dort haben mich umarmt und geküßt, so froh waren sie über die Kunde, die ich ihnen bringen konnte. Wenn man einen wirklichen Sünder vor sich hat, braucht’s weder viel Beredsamkeit noch eine lange Predigt.

An Bord des Dampfers auf einem sibirischen Strome. — Der Anblick von 5000 Kettengefangenen mag uns Tränen des Mitleids entlocken. Aber nützen solche Tränen? „Nichts als Jesu Blut“ nützt wirklich. Es hieße Kraft und Energie ganz umsonst verschwenden, wollte man etwas für diese „Wracks der Menschheit“ tun, ohne zu ihnen zu reden von „Christo und zwar dem Gekreuzigten“. Wie eifrig sie zuhörten! Keine selbstgerechten Entschuldigungen, kein Spott; alle sich bewußt, in gleicher Verdammnis zu sein.

Helsingfors. Was die Leute hier, brauchen, ist dies: einen lebendigen Christus!

4. Autorität und Würde der Heiligen Schrift.

Meine Tage sind völlig besetzt durch fröhlichen, seligen Dienst. Ich brauche Tag für Tag des Meisters Gegenwart und Segen, und bei jeder Gelegenheit eine Botschaft von Ihm selbst. Heute soll ich zur Kronprinzeß kommen und ihr eine Botschaft vom König der Könige bringen.

Die Botschaft allein genügt nicht, wenn der Bote nicht von Gott ermächtigt und besonders gesandt ist. Ich brauche die Gemeinschaft der Heiligen bei dieser Arbeit; und ich vertraue, daß viele dazu geführt werden, eine neue Salbung mit dem Heiligen Geist für mich zu erbitten.

Dr. Baedeker in Deutschland.

Die Leser der deutschen Ausgabe dieses Buches haben ein berechtigtes Interesse an einem kurzen Bericht über Dr. Baedekers besondere Beziehungen zu Deutschland. Zerstreute Angaben darüber finden sich hin und her in den vorstehenden Kapiteln. Es sei daran erinnert, daß seine erste evangelisatorische Tätigkeit seinem Vaterlande galt, daß neben Basel und Zürich München, Dresden und der Westen Deutschlands ihm Stätten der Arbeit für den Herrn wurden. (Vgl. Kap. 3 und 7.) Aus jenen Tagen schon stammen manche der Freundschaftsbande, die ihn lebenslang mit deutschen Christen aus allen Lagern vereinten. Man konnte nicht ungerührt bleiben von seinem brennenden Eifer für den Herrn und von der geheiligten Freundschaftsfähigkeit dieses Mannes. In Basel machte er einst einen Versuch mit der Straßenpredigt, wie sie ihm von England vertraut war. Er wurde mit Hohn und Steinwürfen empfangen. Mitten in dem Tumult stellte sich plötzlich eine hohe Gestalt schützend an seine Seite. Es war der jetzige ehrwürdige Inspektor Rappard von der Chrischona. Dieser eine Helfer machte anderen Mut. Bald umringte eine Schar von Christen den unerschrockenen Zeugen. Er hat den Versuch auch noch in Gernsbach in Baden wiederholt. Dort unterstützte ihn Frhr. v. Gemmingen, der dafür auf Anzeige des Pfarrers mit einer Geldstrafe belegt wurde. Dr. Baedeker hat dann eingesehen, daß diese Art der Arbeit für deutsche Verhältnisse nicht passe. Immerhin hatte ihm sein Heldenmut Freunde fürs Leben gewonnen, und Dr. Baedeker hat seine Brüder Rappard und Gemmingen oft an diese Szenen erinnert.

Je mehr Dr. Baedekers Tätigkeit und sein Eifer für den Herrn in Deutschland bekannt wurden, um so größer wurde der Kreis derer, die, oft bei abweichenden Glaubensansichten, ihm mit Liebe anhingen und viel von ihm empfingen. Der Doktor rechnete sich seit seiner Bekehrung zu den sogenannten Open brethren (Offene Brüder). Seine Anschauungen namentlich über Kirche, Sakramente und Ämter hatten hier ihren Wurzelpunkt. Er war auch persönlich für die Großtaufe und hatte gerade dadurch großen Eingang bei den fast durchweg baptistisch gesinnten russischen Stundisten. Aber er war kein Fanatiker und fern von aller dogmatischen Spitzfindigkeit. Er war ein „Reichsmensch“, und als solcher von vornherein ein überzeugter Vertreter des Allianzgedankens. Dadurch und auch durch seine Tätigkeit und Lebensführung trat bei ihm je länger je mehr jede Einseitigkeit völlig zurück. Er war ein Mann der Bibel, ein Jünger Jesu. Er stand über den Parteien. Nichts ist kennzeichnender für ihn, als die unter dem Volke Gottes weithin bekannt gewordene Antwort, die er einem in seinen besonderen Anschauungen festgefahrenen Bruder gab. „Wie schade“, meinte jener, „daß wir nicht zusammengehören!“ „O wir sind zusammen“, rief er mit überströmender Herzlichkeit aus, „und keine Macht der Erde kann uns trennen!“

Eben durch diese Stellung war Dr. Baedeker für Deutschland von besonderem Segen. Die Mauern und Zäune auch zwischen denen, die dem Einen Herrn angehören wollen, sind unter uns noch recht hoch und fest. Es ist gewiß gut, wenn man sich vor allzu schnellem Aburteil über das geschichtlich Gewordene hütet. Gott wirkt auch in der Geschichte, und nicht bloß zulassend. Aber es ist nicht minder gut, wenn ein lebendiger Zeuge durch Wort und Wandel beweist, daß alle Schranken die Gemeinschaft der Liebe und des Dienstes nicht zu hindern brauchen. Das hat Dr. Baedeker tun dürfen, vor allem in seinen höchsten Jahren. „Nicht nur seinem im Alter taub gewordenen äußeren Ohr, sondern auch dem inneren Gehör gingen die kleinen Streitigkeiten der Christen nicht ein“, hat man treffend von ihm gesagt. So konnte er vielen ein Vater in Christo werden, wobei er unterstützt wurde von seinem vorzüglichen Physiognomiengedächtnis, das ihn binnen kurzem sich mit jedem wieder zurechtfinden ließ.

Es braucht nicht verschwiegen zu werden, daß ihn seine Betonung des Wunsches Jesu „alle eins“ (Joh. 17, 21) bisweilen etwas ungeduldig machte gegenüber solchen, welche die gottgewollte oder zugelassene Verschiedenheit der Gaben und Aufgaben hervorhoben. Aber er trug niemals nach. Ein Bruder, der ihm bei einer solchen Gelegenheit fest entgegengetreten war, bekam bei einem späteren Zusammentreffen auf die Frage: „Nun, Herr Doktor, sind Sie mir noch böse?“ die Antwort: „Nein, wie sollte ich wohl!“ und wurde sogleich in ein warmherziges Gespräch über die herrliche Zukunft des Reiches Gottes hineingezogen.

Vermöge dieser Begabung für praktische Allianz war Dr. Baedeker eine hervorragende Segenswirkung bei den Versammlungen für Gläubige zugeteilt, die nun seit Jahrzehnten zur Belebung und Einigung der Kinder Gottes in Deutschland gedient haben. So war er schon vor der Begründung Blankenburgs lebhaft beteiligt an allerlei Konferenzen, und ist in Tersteegensruh, Neukirchen und anderen Orts stets ein gern gesehener Gast gewesen. Wichtig wurde vor allem seine Mithilfe bei den gesegneten Herbstversammlungen, die seit 1875 zu Gernsbach in Baden, später in Baden-Baden und Lichtenthal gehalten wurden. Diese Versammlungen waren nach dem Urteil verschiedener Gottesmänner in vielem vorbildlich und haben jedenfalls für Blankenburg große Bedeutung gehabt. Dr. Baedeker empfing hier die Schulung für seinen wichtigsten Dienst in dieser Arbeit, den er dann in Blankenburg leisten durfte. Er hatte schon vor 1886 Frl. v. Weling kennen gelernt, die dann im genannten Jahre die Begründerin der Blankenburger Versammlungen wurde. Bald verband die beiden eine treue Freundschaft im Herrn. Dr. Baedeker unterstützte Frl. v. Weling nicht nur bei der äußeren, besonders der finanziellen Begründung des Allianzhauses, er wurde auch einer der Väter der Konferenz durch sein gesalbtes Wort und seine geheiligte Persönlichkeit. Es wird berichtet, er habe auf 21 Konferenzen nur dreimal gefehlt, zweimal, weil er durch eine Reise nach Sibirien verhindert war, und einmal, weil ihm die zunehmende Taubheit und Altersschwäche den gewohnten Dienst auf der Konferenz unmöglich machte.

Derselbe bestand vor allem in der Leitung der morgens stattfindenden Gebetsversammlungen. Mit ganzer Hingebung und auf Grund langer eigener Übung in Gebet und Fürbitte konnte er hier vor den Thron Gottes führen. „Wenn auch“, lautet ein Zeugnis, „in den letzten Jahren hie und da Stimmen laut wurden, seine Taubheit sei ein Hindernis, so mußten dieselben vor seinem feinen Takt und seiner großen Liebe immer wieder schweigen.“ Über die verschiedenen Zettel und Anliegen, die er bei diesen Versammlungen auf seinem Pulte fand, freute er sich stets von neuem. „Man spürte es ihm an, wie die Mannigfaltigkeit der Bitten ihm die Macht, die Liebe und die unermüdliche Geduld Gottes groß machte, der für jeden Herzensschrei Antwort hat und keinen vergißt.“ —

Aber auch seine Ansprachen waren recht gesegnet. Er liebte es, zu illustrieren, und brauchte dafür nur in den reichen Schatz seiner Erfahrung zu greifen. Vor allem half er, der seinerzeit mit Pearsall Smith, dem Propheten der Oxforder Heiligungsbewegung, durch Deutschland gezogen war, die große Wahrheit von der völligen Erlösung in Christo nach 1.Korinther 1, 30 auf den Leuchter stellen. Seine Persönlichkeit und sein Leben zeugten dabei in ergreifender Weise mit.

Doch nicht nur in den offiziellen Versammlungen, bei allen Zusammenkünften der Konferenz bildete Dr. Baedeker ein belebendes Element. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten war gewöhnlich er es, der ohne weitere Ankündigung irgend ein allgemein bekanntes Lied anstimmte, das bald die ganze Versammlung mit fortriß und die Stimmung höher hob. Wie oft ist bei solchen Gelegenheiten sein deutsches Lieblingslied erklungen: Ach, mein Herr Jesu, wenn ich Dich nicht hätte! Ungezwungen bewegte er sich allenthalben unter den Gästen, und wo „Vater Baedekers“ behende Gestalt erschien, wurde er freudig begrüßt. Er, der so verschiedenen Nationen gehörte, war wie eine Darstellung des ökumenischen Charakters der Konferenz. Er war es auch, der die Geschwister aus dem Osten, die vornehmen Adeligen St. Petersburgs und der Ostseeprovinzen wie die Mennoniten Südrußlands auf die Konferenz zog und durch seine Anwesenheit ihnen ein heimisches Gefühl gab.

Hier in Blankenburg kamen die Demut, die Freundlichkeit und der Glaube Dr. Baedekers auch darin zur Wirkung, daß sie ihm die Herzen öffneten und ihn zum Freunde und Vertrauten vieler Reichgottesarbeiter machten. Oft genug vermochte der erfahrene Mann die allzu stürmischen Wogen im Gemüte eines unerfahrenen Jüngers Christi zu glätten und seinen Eifer in die rechte Bahn zu leiten. Gerade dabei aber widerstand er tapfer der Versuchung, sich selbst auf den Stuhl zu setzen. Es blieb „kein Faden Ehre an ihm haften“. Sorgfältig und eifersüchtig wachte er darüber, daß sie Dem gegeben würde, dem allein sie gebührt.

Bei dem alles beherrschenden Missionsinteresse Dr. Baedekers kam es wohl vor, daß die Leitung der Konferenz ihm widerstehen mußte, wenn er am liebsten alle Versammlungen zu Missionsversammlungen gemacht hätte. Das ging natürlich nicht. Aber der Mann mit dem alles umfassenden Herzen konnte es nur schwer begreifen, daß es nicht für alle Christen das Herrlichste auf Erden sei, dem Werke Gottes draußen nachzusinnen und nachzugehen. Fast kindlich war jedoch auch die Art, wie er sich fügte, wenn es anders kam, als er gedacht.

In den Versammlungen, in denen er, — sei’s in Blankenburg oder anderswo, von seiner Arbeit berichten durfte, war dann aber auch sein Eifer hinreißend. Er bekam leuchtende Augen, wenn er von dem großen, weiten Erntefeld sprach und dabei mit seinem Rohrstock über die Weltkarte hinfuhr: „Alles unsere Brüder, alles unsere Schwestern, alles unser Arbeitsgebiet.“

Hier mag noch besonders erwähnt sein, daß Dr. Baedeker das erwachende Interesse der Gläubigen Deutschlands an der Evangelisation der südslavischen Völker eifrig gepflegt hat. Manche Leser werden von Christina Roy aus O’Tura in Slavonien wissen, die sich um die Verbreitung des Evangeliums unter den Slovaken bemüht. Nun, Dr. Baedeker ist Christina Roys geistlicher Vater. In seinen Versammlungen kam sie zum Glauben und hat dann selbst wieder vielen in Wort und Schrift den Herrn zeigen dürfen. Dr. Baedeker hat bis zuletzt das lebhafteste Interesse für Ungarn und seine Nationalitäten behalten. Er ist ein Pionier für den deutschen „Missionsbund für Südosteuropa“ und andere Verbände gewesen.

Im Blankenburger Allianzhause hat der Doktor auch gesegnete Bibelstunden gehalten, in denen er die Tiefen des prophetischen Wortes und die Herrlichkeit des nahen, völligen Erlösers besonders ins Licht stellte. —

Seiner engen Verbindung mit Fräulein von Blücher und ihrer Berliner Arbeit wurde oben schon gedacht. Bei ihr war er oft zu Gaste und diente mit dem Worte des Lebens. Nur wenige Monate hat er ihren Heimgang überlebt, nachdem er an ihrem Grabe noch als Vertreter des Blankenburger Zweiges der Evangelischen Allianz ein Abschiedswort gesprochen.

Was der Doktor im persönlichen Verkehr den Gläubigen deutscher Zunge gewesen ist, kann erst die Ewigkeit offenbaren. Die Zahl der Geschwister in Christo, die er kannte, und denen er diente, bei denen er als geehrter Gast einkehrte und stets mit dem vollen Segen des Evangeliums kam, ist sehr groß. Ihre Berichte heben immer wieder die Freundlichkeit und zugleich die heilige Würde seines Wesens hervor. Dazu sein Interesse für das Große und Kleine, vor allem aber für das Heil der Seelen und die Förderung der Kinder Gottes. Es wird besonders angemerkt, daß Dr. Baedeker je länger je einfacher in seinem Wesen und seinen Interessen ward. „Ihm, dem Schwerhörigen, wurde es schwer, auf die Gedankengänge einzugehen, die etwas abseits lagen von den Wahrheiten, welche ihm im Vordergrunde standen.“ Aus der letzten Zeit seines Lebens wird ein sehr bezeichnendes Gespräch mitgeteilt. Auf dogmatische oder mehr lehrhafte Fragen habe er gar nicht eingehen wollen. „Jesus Christus, der gegenwärtige, allgenugsame Heiland, das war der Mittelpunkt seines Denkens und Redens.“

„Interessant war es mir, wie er überhaupt das Einfache, Schlichte betonte. So fragte er mich z.B., ob ich einfache Linien ins prophetische Wort hätte. Er suche so nach einfachen Linien. Man habe uns gar vieles über die Zukunft des Reiches Gottes und die letzten Dinge gebracht, und er hätte auch allerlei davon angenommen, vieles hätte aber nachher nicht Stich gehalten. Nun sehe er, die Wahrheit müsse einfach sein, schlicht, ohne viel Künstelei verständlich. Gottes Wort sei für einfache Leute geschrieben. ...“

„In einem anderen Gespräch fiel der Ausdruck ,völlige Hingabe’.“ Da meinte er, das Wort liebe er nicht sehr. Man solle doch einfach „Hingabe“ sagen. Wenn die Hingabe nicht eine völlige sei, sei es doch keine rechte Hingabe. Beim Abschied sangen wir, während er auf der Plattform des Eisenbahnwagens stand: „Ich vertraue Dir, Herr Jesu, ich vertraue Dir allein!“ -

Das ist ganz das Bild des ehrwürdigen Greises. Er ging „einfältig stets einher“. Charakteristisch war für ihn auch das Vertrauen, daß sein Herr niemals etwas verkehrt machen könne. Es wird von einem Reisetag in Deutschland erzählt, an dem er allen Widrigkeiten, Zugverspätung und -Versäumnis, Verfehlen lieber Freunde u.s.w. mit wunderbarer innerer Ruhe gegenüberstand. „Was mein Vater tut, ist immer gut. Seid nur stille, es wird alles recht.“ Das war eine Predigt ohne viel Worte, aber um so wirksamer gegenüber der deutschen Art, die bei vielem Reden von der Heiligung oft die praktische Hingabe vermissen läßt.

Wir schließen mit zwei Einzelzügen, die für den Zeugnischarakter seines Wandels bezeichnend sind. Den einen berichtet eine geschätzte, christliche Schriftstellerin. Sie traf Dr. Baedeker wenige Monate vor seinem Tode auf der Reise nach Berlin im Vlissinger Zuge. Alsbald erkennt der Greis sie und ist binnen kurzem mit ihr in einem Gespräche über die Herrlichkeitsgedanken der Schrift. Einen alten Polen, der ihm gegenübersitzt, sucht er mit hinein zu ziehen und bezeugt ihm mit allem Ernst die Gnade Gottes in Jesu.

Er ist gar nicht verletzt, als sein Gegenüber sich zurücklehnt und erklärt, es sei zu heiß für derlei Gespräche. „Ich muß wirken, solange es Tag ist“, erklärt er. Und warum machte der Dreiundachtzigjährige die beschwerliche Reise? Um eine bekümmerte Russin zu trösten, die ihren Gatten in den Stürmen der revolutionären Bewegung verloren hatte. „Ich bin krank gewesen, und ihr seid zu Mir gekommen!“

Der andere Zug stammt gleichfalls aus Dr. Baedekers Todesjahr, von seinem letzten Besuche auf der Chrischona bei Basel. Er hatte stets für die jungen Brüder Liebe und Verständnis gehabt. Davon zeugt seine Mahnung an einen von ihnen: „Bruder, studiere nicht deine Schwierigkeiten, studiere den herrlichen Heiland!“ — Nun redete er zum letzten Male zu ihnen. „Ich bin ein alter Mann“, so lautete es ungefähr, „der dem Grabe zueilt und Lust hat, abzuscheiden und bei Christo zu sein. Wenn ich sagen soll, was ich in meinem langen Leben als das Wichtigste erkannt habe, so ist es das einfältige Vertrauen in Christo zum Vater. Das Wort, das sich mir immer wieder bewährt hat, ist dieses: Tue deinen Mund weit auf, laß Mich ihn füllen! Wenn ich draußen in Rußland oder Sibirien vor harten Herzen, vor großen Schwierigkeiten stand und mich recht arm fühlte, so tat ich meinen Mund weit auf, und der Herr hat ihn gefüllt! Davon habe ich leben dürfen, das möchte ich euch ans Herz legen. Tut auch ihr euren Mund weit auf, und Er wird ihn füllen!“

Das ist wieder ganz der Mann, für den Gott der Herr Quell und Ziel des Wirkens war. Ehre sei Ihm, dessen Kraft in den Schwachen voll zur Auswirkung kommt! Amen.