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author: Friedrich Treufreund
generator: pandoc
title: Der Mutter Schuld
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Zum Geleit {#zum-geleit .unnumbered}
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Eine alte Familiengeschichte – neu entdeckt und etwas überarbeitet.
Mittelpunkt ist ein Mädchen und seine Mutter, die es abgöttisch liebt
und nicht bedenkt, welchen Schaden sie damit im Herzen des Kindes
anrichtet. Die Überschriften beziehen sich auf sein Alter. – Hier werden
uns Wahrheiten vermittelt, die heute ganz aktuell und dringendst zu
beherzigen sind. Vielleicht findest Du hier die Lösung für Deine
Probleme!
Ch W
2 Jahre {#jahre .unnumbered}
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„Elschen, komm zu mir! Minna will dich anziehen. Sei lieb, Elschen, und
komm!“ „Elschen will nicht! Gar nicht kommt Elschen! Ich dumme Minna
schlage!“ Und dabei strampelt das kleine Ding vor Zorn und Wut, kreischt
und schlägt auf Minna los, als diese versucht, sanfte Gewalt anzuwenden.
Die junge Mutter hat bis dahin, in ihre Handarbeit vertieft, still
dagesessen, als wenn der kleine Vorgang sie gar nichts anginge. Jetzt
nimmt sie das Wort. „Minna, lassen Sie das Kind! Sie verstehen es
einfach gar nicht, mit Kindern umzugehen! Gehen Sie in die Küche!
Elschen, komm zur Mama. Minna ist dumm. Weine nicht mehr, mein Liebling.
Hier hast du auch etwas Leckeres, mein Herzchen.“
Solche Szenen spielten sich im Haus des Stadtsekretärs Reimann täglich
mehrere Male ab – bald aus diesem, bald aus jenem Anlaß. Der Verlauf war
fast immer derselbe. Zunächst nahm Frau Reimann gar keine Notiz von der
Sache, dann wurde Minna, das Dienstmädchen, als ungeschickt
ausgescholten und fortgeschickt. Klein-Elschen bekam seinen Willen und
wurde durch allerlei Liebkosungen, Versprechungen und Leckereien wieder
in gute Laune gebracht.
Wenn sich aber Frau Sekretär Reimann mit ihren Freundinnen und Bekannten
zusammenfand, dann dauerte es nicht lange, bis die Rede auf das ‚kluge,
süße Elschen‘ kam, und wenn genug von dem ‚herzigen Geschöpfchen‘
gesprochen worden war, dann begann alsbald die Klage über das ‚dumme und
ungeschickte Mädchen‘, die Minna.
„Denken Sie, Frau Inspektor, nicht einmal mit einem Kind, wie es mein
Elschen ist, kann das Mädchen umgehen! Das Kind schreit jedesmal, wenn
die Minna es an- oder ausziehen soll; es wehrt sich mit Händen und Füßen
dagegen!“ Dabei erwähnt Frau Reimann natürlich nicht, daß sie selbst oft
von ihrem Kind gekratzt und geschlagen wurde.
Ach ja, der Mutter Schuld beginnt schon sehr früh, und die Folgen dieser
Schuld sind furchtbar. Sie treten in ihrer ganzen Schwere nicht von
heute auf morgen zutage, aber sie kommen unfehlbar.
„Oú est la femme?“ („Wo ist die Frau?“) fragt der Franzose, wenn
irgendein Verbrechen oder dergleichen geschehen ist, in der sicheren
Erwartung, daß man bei näherem Nachforschen ganz gewiß im Hintergrund
den Einfluß einer Frau finden werde.
„Oú est la mère?“ Wo ist die Mutter, die Mutter mit ihrem Segen, mit
ihrem unermeßlich weit reichenden erzieherischen Einfluß? So frage ich,
wenn ich Männer und Frauen finde, von denen Segen auf ihre ganze
Umgebung ausgeht. „Wo ist die Mutter mit ihrer Schuld?“ heißt es in mir,
wenn ich arme, in Sünde und Schuld gesunkene Menschen finde.
Beim Anblick einer armen Trinkerfamilie steigt diese Frage besonders oft
in mir auf. Arme Trinkerfamilien – ob vornehm oder gering, ob arm oder
reich! Arme Trinkerfamilien, in denen der Mann dem Alkohol verfallen
ist, in welchen die Frau nicht zu wirtschaften versteht, in welchen sie
das Heim nicht gemütlich und behaglich zu machen weiß, in welchen sie
ihren Gatten nicht behandeln kann, wie eine Frau ihren Mann behandeln
sollte.
Nicht immer finde ich dann die Mutter und ihre Schuld, nein, gewiß
nicht. Es wäre Übertreibung, wollte ich solches behaupten. Aber oft,
sehr oft finde ich doch die Mutter und ihre Schuld. Bald ist es die
Mutter des Mannes, bald die der Frau. Es ist eine Schuld, die in ihren
Anfängen Jahrzehnte zurück liegt.
Sag nicht: „Warum sprichst du nur von der Mutter Schuld? Gibt es nicht
auch eine Schuld des Vaters?“ Gewiß, ich kenne sie, und sie ist oft sehr
groß. Aber der Mutter Schuld ist größer, weil ihr Einfluß auf das Herz
und Leben des Kindes viel größer ist als der des Vaters. –
Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn alle Mütter wirkliche Mütter
wären?! Mütter, durchdrungen von dem Gefühl der großen Gnade, daß ihnen
junge Menschenseelen zur Erziehung anvertraut sind, aber auch
durchdrungen von dem Gefühl der großen Verantwortung, die diese Gnade in
sich schließt! Was könnten Mütter ausrichten, die ihre Kinder als eine
Gabe Gottes ansähen, für welche sie Gott von ganzem Herzen danken, und
die sie unter viel Gebet aufzögen in Zucht und Vermahnung zum Herrn!
(Eph. 6,4). Gott gebe unserem Volk solche Mütter!
10 Jahre {#jahre-1 .unnumbered}
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„Sei still, Else, mach dir nichts daraus! Warum weinst du denn!? So
schlimm ist es doch nicht. Es tut mir zwar auch leid, daß du eine
Lehrerin hast, die ihre Schülerinnen so wenig zu behandeln weiß.“
„Ja, Mutter, da steht aber im Betragen ‚nicht befriedigend‘ und im Fleiß
‚mangelhaft‘! Ich bin gerade so fleißig gewesen wie Erna Braun und Magda
Müller, und die haben die Note ‚gut‘ bekommen!“
„Elschen, ich weiß es ja: deine Lehrerin ist eine ungerechte Person, die
nichts versteht. Mach dir doch nichts daraus! Komm, sei nur still. Heute
nachmittag gehen wir auch zusammen in den Wintergarten und trinken
Schokolade.“
Das war eine Unterredung zwischen Frau Reimann und ihrer jetzt
zehnjährigen Tochter, als diese ein sehr schlechtes Herbstzeugnis
mitbrachte. Else war natürlich schon vorher davon überzeugt, daß ihr
bitteres Unrecht geschehen sei; aber nach den mütterlichen Trostworten
glaubte sie es erst recht.
Als dann am Abend der Vater nicht so ohne weiteres ihrem Urteil
zustimmen wollte, sondern von Trägheit und vorlautem Munde sprach, wurde
er von seiner Frau scharf angegangen. Dies wie auch die Tränen der
Tochter ließen ihn bald verstummen. Er unterschrieb das Zeugnis und ging
noch früher als sonst zu seinem Stammtisch.
Der Mutter Schuld! O bedächtest du, törichte Frau, welch eine Schuld du
auf dich lädst durch dein sündliches Verhalten gegenüber deinem Kind;
aber du bist blind durch falsche Liebe zu deinem Kind, in dem du dich
selbst liebst!
Was du jetzt und alle Tage tust, das wird seine bittere Frucht für dein
Kind in dessen späterem Leben und vielleicht für alle Ewigkeit tragen!
Diese Liebe, die nicht den schönen Namen verdient, ist deiner Tochter
schädlicher als die größte Härte!
Unter dem, was jetzt in ihr aufwächst, was du in ihr hegst und
bestärkst, wird nicht nur sie zu leiden haben, sondern auch viele
andere! Die Trägheit und Selbstsucht, die Blindheit über sich selbst
wird dir und ihr und noch manchem anderen bitteres Weh bereiten!
Wir, die wir im Blauen Kreuz an bedauernswerten Trinkern und in armen
Trinkerfamilien aller Stände arbeiten, sind oft geradezu erschrocken
über die Selbstgerechtigkeit und Selbstsucht der Frauen, die an sich
selber nichts als Gutes sehen, obwohl sie an anderen viel, sehr viel
Bequemlichkeit, Unordnung und häßliches Wesen bemerken.
Gewiß, zum wahren Licht über sich selbst kommt nur der, der sich im
Spiegel des Wortes Gottes beschaut und sich dann von Gott die Augen
öffnen läßt, damit er richtig sehen kann; aber ebenso gewiß ist, daß
viele, viele Auswüchse des schlimmen natürlichen Wesens auf das große
Konto zurückzuführen sind: „Der Mutter Schuld“, auf ‚die Verziehung‘.
Es ist etwas Schönes, wenn sich eine Mutter ihrer Kinder als kostbarer
Geschenke Gottes freut; aber es gibt einen Mutterstolz, der ist vom
Teufel und schafft Teufelsfrüchte und hat Teufelswirkungen!
Die Anfänge der Ursachen mancher unglücklichen Ehe liegen schon in der
Kindheit der Frau (natürlich auch oft des Mannes). Und die Wurzel von
manchem, manchem Eheglück ist bei der Schwiegermutter zu suchen, als
diese noch junge Frau und Mutter war und noch an keinen Schwiegersohn
dachte. Wahrlich, solche Schwiegermütter sind mehr als zwiefacher Ehre
würdig! Wieviel Heil, aber auch Unheil kann doch von den Müttern
ausgehen!
13 Jahre {#jahre-2 .unnumbered}
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(Ort der Handlung: Mittagstisch der Familie Reimann.)
Frau Reimann: „Mann, du kannst mir 70 Mark herauslegen. Else muß einen
neuen Sommermantel, einen Hut und Schuhe haben.“ Herr Reimann (unmutig):
„Frau, wo soll das hinaus?! Ich kann das Geld nicht aufbringen. Elses
Mantel ist doch noch ganz gut, und sie hat auch noch zwei Hüte und drei
Paar Schuhe. Sie ist doch noch ein Kind! Aber du machst ein richtiges
Modepüppchen aus dem Mädchen!“ Frau Reimann (heftig): „Wie meine Tochter
gekleidet werden soll, muß ich wissen! Davon verstehst du nichts! Das
sind meine Sachen! Meine Tochter soll nicht umhergehen wie ein
Fabrikmädchen! Wenn ein Mann eine Familie hat, sollte er auch für ihren
standesgemäßen Unterhalt sorgen!“
Else (schnippisch): „Du verstehst doch nichts davon, Papa, ob mein
Mantel und mein Hut noch gut sind. Ich will nicht schlechter gekleidet
sein als die anderen Mädchen meiner Klasse!“ Herr Reimann (heftig): „Wer
ist hier eigentlich Herr im Hause, ihr oder ich? Wer muß das Geld
verdienen, ihr oder ich?“ (Heftiger werdend): „Aber man kommt auf keinen
grünen Zweig, wenn man eine Frau hat, die alles an die Kleider hängt!“
Frau Reimann (aufspringend): „Das ist mir denn doch zu arg! Ich soll das
Geld vergeuden! Welche Frau meines Standes arbeitet wohl so viel und
hält es so zusammen?! Aber wie kann man vorankommen, wenn der Mann fast
jeden Abend in der Kneipe sitzt?!“
Else (ebenfalls aufgesprungen): „Du solltest nur etwas weniger Zigarren
rauchen, dann wäre der Mantel schon dreimal bezahlt!“ Herr Reimann
fühlt, daß er gegen diese beiden Verbündeten nicht ankommen kann. Er
steht vom Tisch auf und geht in sein Restaurant, bis es wieder Zeit zum
Dienst ist. Frau Reimann zur weinenden Tochter: „Sei still, Kind, du
bekommst Mantel, Hut und Schuhe. Es wird am Ersten schon bezahlt
werden.“
Die beiden kleinen Knaben spielen bei diesem häuslichen Streit, der
ihnen gar nichts Neues ist, dem Sprichwort gemäß den ‚lachenden
Dritten‘. Sie tun sich in der Zeit gütlich am Kompott.
Wie sagt doch das alte Bibelbuch? „Wo Neid und Zank ist, da ist
Unordnung und jederlei böse Tat“ (Jak. 3,16). Wie alle Bibelworte, so
beweist auch dieses Tag für Tag seine Wahrheit. In wie vielen Häusern
entsteht doch Ehe- und Familienzank um des Aufwandes willen, den
törichte und eitle Mütter mit ihren Kindern, besonders mit den Mädchen,
machen und ganz über ihre Verhältnisse leben.
Wie manche Mahlzeit im Familienkreis wird verdorben durch die Zänkereien
der Ehegatten in Gegenwart der Kinder! Und doch sind die gemeinsamen
Mahlzeiten vielfach die einzige Gelegenheit, in der alle Familienglieder
zusammen sind! Da sollte doch wahrlich Friede und Freude herrschen!
Wie vergiftend wirkt es für die Kinderherzen, wenn Vater und Mutter ihre
Meinungsverschiedenheiten in deren Gegenwart austragen, und noch dazu in
so unheiliger Weise, wie es hier der Fall ist! Und wie traurig und
widerwärtig ist es, wenn gar die halbwüchsigen Söhne und Töchter in dem
Streit Partei ergreifen! Schlimm genug ist es, wenn überhaupt solche
Konflikte vorkommen; aber die Eltern sollten wenigstens die
Barmherzigkeit und Klugheit üben, sich nicht vor den Ohren ihrer Kinder
zu streiten! Was für ein Vorbild von der Ehe und welche Vorstellung von
Familienglück bekommen sie sonst!
Wie mancher Mann wird durch die häuslichen Verdrießlichkeiten ins
Wirtshaus getrieben, wo er nach und nach zum Säufer wird! Manche
Frau hat das geradezu auf dem Gewissen. Wie anders ist es doch in einer
Ehe, von der man sagen kann:
O selig Haus, wo Mann und Weib in einer –\
In Deiner Liebe eines Geistes sind,\
Wo beide eines Heils gewürdigt, keiner\
Im Glaubensgrunde anders ist gesinnt,\
Wo beide unzertrennbar an Dir hangen\
In Lieb’ und Leid, Gemach und Ungemach,\
Und nur bei Dir zu bleiben stets verlangen\
An jedem guten wie am bösen Tag.
15 Jahre {#jahre-3 .unnumbered}
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„Anna, kommen Sie und machen Sie mir einmal meine Schuhe zu!“ ruft die
fünfzehnjährige Else gebieterisch. „Ach, Fräulein Else, ich bin gerade
am Fensterputzen und kann so sehr schlecht aufhören“, kommt die Antwort
aus dem Nebenzimmer. „Aber Else, die Schuhe könntest Du Dir doch wohl
selbst eben schnüren“, wendet die Mutter ein. „Nein, Mama, hier die
Erzählung ist gerade so sehr spannend, und ich möchte dieses
interessante Kapitel fertiglesen, ehe ich gehe“, lautet die ungeduldige
Antwort der Tochter.
„Dann kommen Sie, Anna! Sie können nachher mit Ihrer Arbeit fortfahren“,
entscheidet die Mutter, freilich mit einem verstohlenen Seufzer.
Und so kommt Anna und bedient das ,Fräulein‘ – mit welchen Gedanken und
Empfindungen, ist unschwer zu erraten. Else liest ihr interessantes
Kapitel zu Ende und geht dann zur Klavierstunde. Die Mama aber näht
weiter und hat kein Wort des Tadels, geschweige denn die so wohl
verdienten Ohrfeigen für ihre bequeme Tochter. Sie ist es nun einmal so
gewohnt.
Wie sollte sie sich auch zu einem energischen Handeln aufraffen können!
Sie hat ja ihre Tochter mit Fleiß zu dem erzogen, was sie jetzt schon
ist: zu einem verwöhnten, trägen und anspruchsvollen Ding. Solange Else
lebt, herrscht sie auch. Sie kann es sich gar nicht anders vorstellen,
als daß sie der Mittelpunkt im Hause ist, für den alle andern da sind.
Frau Reimann hat manches an sich, was uns an einer Frau nicht gefallen
kann – soviel haben wir sie schon kennen gelernt –; aber man kann ihr
nicht vorwerfen, daß sie träge und bequem wäre. Nein, sie für ihre
Person setzt sich bei der Arbeit ein; aber ihrer Tochter gegenüber ist
sie in diesem, wie in so manchem andern Stück, ohnmächtig und blind.
Wie manche Frau, die selbst fleißig und arbeitsam ist vom frühen Morgen
bis zum späten Abend, erzieht ihre Töchter zur Trägheit und zum
anspruchsvollen Wesen, und zwar ganz unweigerlich, ohne es natürlich zu
wollen.
Was unser Bild aus einer Mittelstandsfamilie zeigt, die in der Lage ist,
sich ein Mädchen zu halten, das kann man in allen Ständen finden: in
Grafenschlössern, in reichen Kaufmannshäusern wie bei Bauersleuten,
Fabrikarbeitern und Bergleuten. In wie mancher Arbeiterfamilie spielt
die Mutter die gehorsame Dienerin ihrer Töchter, die ihnen die Kleider
wäscht und flickt, ihnen die Sachen wegräumt und dergleichen. Sie hört
auf jeden Befehl des ‚Fräulein Tochter‘, erntet wenig Dank und nimmt
schweigend jeden Tadel hin, wenn sie die Anspruchsvolle nicht ganz
befriedigt hat. Solche Töchter geben dann aber auch später die Frauen
ab, die sich von ihrem Mann bedienen lassen, vorausgesetzt, daß er es
mitmacht. Solche Frauen bringen es z. B. ganz gut fertig, ohne
wirklichen Grund morgens im Bett zu bleiben, wenn der Mann zur Arbeit
geht. Will er Morgenkaffee haben, mag er ihn sich selbst bereiten. Aber
in der Regel sind die Männer ihren Frauen gegenüber nicht so
dienstwillig wie die Mütter gegenüber ihren Kindern, und dann ist der
eheliche Konflikt da, dann gibt es Hader und Streit. Die junge Frau aber
kommt sich bald vor wie eine arme, bedauernswerte Sklavin, und ihr Mann
erscheint ihr als ein Despot und Tyrann. Sie ist es ja ‚von Haus aus‘
gar nicht gewohnt, zu dienen oder treu Pflichten zu erfüllen, sondern
sich bedienen zu lassen und zu tun, was ihr gefällt. –
Es braucht uns auch wahrlich nicht zu wundern, wenn dann der Mann, der
keinen höheren Halt hat und sich daheim nicht wohl fühlt, ein
‚Wirtshausbruder‘ wird. Und es ist auch zu erklärlich, wenn er dann nach
und nach unter der Wirkung des Alkohols zu einem wirklichen Haustyrannen
wird.
Wie manche Mutter sieht weinend und händeringend das eheliche Elend
ihrer Tochter und kann nicht begreifen, wie das so kommen konnte! „Sie
hatten sich doch so lieb!“ „Er war doch als Bräutigam so nett zu ihr!“
Ja, es hätte auch nicht so zu kommen brauchen; aber daß es so gekommen
ist, ist in erster Linie deine Schuld, du Mutter! Und der Anfang dieser
Schuld liegt weit zurück, und sie hat sich angesammelt, und nun tragen
sich zwei Menschen daran zu Tode!
Aber was für ein Großes ist es doch um eine fromme, gläubige Mutter, die
ihre Töchter aufzieht „in der Zucht und Vermahnung zum Herrn“, und die
zu dieser Zucht in der Erziehung ihrer Kinder zählt: „zu arbeiten und zu
schaffen mit den Händen etwas Gutes“. Wohl den Töchtern – gleich welchen
Standes –, die eine solche Mutter haben, und wohl auch den Männern, die
eine solche Schwiegermutter verehren dürfen!
17 Jahre {#jahre-4 .unnumbered}
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„Ach, Fräulein Else! das ist ja famos, daß wir Sie treffen! Den ganzen
Tag haben wir von Ihnen gesprochen, und mir haben Sie beispielsweise so
im Sinne gelegen, daß ich mich immerzu verrechnete! Dürfen wir die Ehre
Ihrer Gesellschaft etwas genießen?“
„Warum nicht, Herr Träger, ich mache noch gern einen kleinen Bummel
durch die Anlagen.“ „So ist’s recht, Fräulein Else, Sie sind doch ein
famoses Mädel! Ich kann es gar nicht leiden, wenn die jungen Damen so
hausbacken sind und immer fragen: Schickt sich das auch? oder – Was wird
die Mutter sagen?“
„Darüber sind wir hinaus, Herr Müller, und meine Mama sagt schon lange
nichts mehr. Ich bin auch alt genug, um selbst zu wissen, was ich zu tun
und zu lassen habe.“ „Bravo, mein Fräulein! Also, wir ziehen los zu
einer famosen Abendpromenade. Oben in der Waldeslust bekommt man ein
ganz ausgezeichnetes Glas Bier.“
Und so zogen sie los, die drei jungen Männer und die siebzehnjährige
Else Reimann. Den Eltern, besonders aber der Mutter, möchte man in Ohr
und Herz schreien: „Wo ist dein Kind?“ Man möchte sie fragen: „Habt ihr
denn gar kein Verantwortungsgefühl mehr?!“
Aber so wie Else Reimann ihre gefährlichen Wege geht und gehen darf,
ohne die elterliche Zucht fürchten zu müssen, so gehen Tausende von
jungen Mädchen, oft noch fast Kinder, dieselben Wege, und Vater und
Mutter lassen sie gehen.
Wenn wir je und dann einmal einen Abendspaziergang durch den Stadtwald
machen, dann blutet uns das Herz im Blick auf die vielen, vielen jungen
Leute, die hier tändelnd, lachend und scherzend eine Bahn betreten, die
in so viel Sünde und Schande, Kummer und Elend, Seufzer und Tränen
hineinführt!
Und die Eltern, insbesondere die Mutter? Was sagen sie? „Ach, das ist ja
nicht so schlimm, die jungen Leute wollen doch auch ihr Vergnügen
haben!“ „Jugend will sich austoben! Wir sind auch mal jung gewesen; und
das spätere Leben bringt ohnehin Kummer und Sorge genug. Das erfahren
wir.“ „Wir können nichts daran ändern; unsere Kinder sind uns über den
Kopf gewachsen. Sie müssen selber sehen, wohin sie damit kommen. Die
Folgen müssen sie selbst tragen.“
So und ähnlich spricht man und meint, sich damit über die Verantwortung
hinwegsetzen zu können. Nicht selten aber kommt es sogar vor, daß Mütter
stolz darauf sind, wenn ihre eben aus der Schule entlassenen Töchter
schon so von Männern umworben werden. Und es sind uns tatsächlich Fälle
bekannt, in welchen Mütter ihren sechzehn- bis siebzehnjährigen Töchtern
Vorhaltungen machten, daß sie ,immer noch kein Verhältnis‘ hätten. Das
sind Tatsachen und keine Übertreibungen!
Ja, es ist Tatsache, traurige Tatsache, daß viele Eltern, besonders
Mütter, ihre Töchter verkuppeln, sie durch Gleichgültigkeit,
Bequemlichkeit, sündliche Schwäche und sittliche Laxheit in eine
unglückliche Ehe bringen! Und der Alkohol tut das übrige. Was dann
folgt, wenn im Restaurant „Waldeslust“ – oder wie es heißen mag – das
Blut durch Bier und Wein erhitzt ist und die Sinne benebelt sind, das
entzieht sich der öffentlichen Besprechung, aber die Folgen sind nur zu
offenkundig, und gewisse Zahlen reden davon, aber noch mehr unglückliche
Männer und Frauen leiden für ihr ganzes Leben darunter, daß sie Eltern
hatten, die sie in der Jugend ihre Wege gehen ließen. –
„Der Mutter Schuld!“ Ja, die Mutter hat in allererster Linie die Hüterin
ihrer Töchter zu sein, und was sie in diesem Stück versäumt, kann sie
durch nichts wieder gutmachen. Zu wie mancher Mutter wird Gott einst
sagen: „Wo ist deine Tochter?! Die Schande, das Elend, die Tränen, das
Blut, der Untergang deiner Tochter schreit zu Mir!“ Was willst du dann
antworten, du Mutter?
Gott hat den Müttern viel, viel in die Hand gegeben. Eine Mutter, die
beten, wirklich beten kann für ihre Kinder, hat eine große Macht.
Manches, manches entgleiste Kind wurde durch Mutterliebe und
Mutter-Gebete für Zeit und Ewigkeit gerettet. Wohl dem, der eine solche
Mutter hat!
Aber freilich, das kann in Wirklichkeit nur eine Mutter, die im
lebendigen Glauben steht, die ihre Kinder als Gnadengeschenke Gottes
ansieht, die weiß, daß sie vor Ihm für die Seelen ihrer Kinder
verantwortlich ist, die für ihre Kinder keinen besseren Platz weiß als
bei Jesus.
Die Zeiten sind sehr ernst. Die Zucht- und Sittenlosigkeit greift
schrecklich um sich; da tut es bitter not, daß die Väter und die Mütter
ihr Wächteramt für und über ihre Kinder ausüben, und daß sie in dieser
Zeit allgemeiner Zuchtlosigkeit in ihrem Hause Zucht und Ordnung halten!
19 Jahre {#jahre-5 .unnumbered}
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„Aber Else, wie prächtig steht dir dein neues Kleid! Das hat die
Schneiderin ausgezeichnet getroffen!“ „Nun, ich meine, die Ärmel hätten
doch noch besser sitzen können“, antwortet die Tochter, indem sie
graziös ihren Handschuh zuknöpft. „Übrigens hätten wir auch besser den
teuren Stoff genommen. Jeder, der etwas davon versteht, sieht doch
gleich, daß das Kleid nicht viel gekostet hat.“
In der Mutter stieg bei diesen Worten ein heftiger Unmut auf, aber sie
hatte gelernt, ihn der Tochter gegenüber zu bezwingen, was ihr bezüglich
anderer Leute in der Regel nicht gelang, am wenigsten bei ihrem Mann.
Sie antwortete nur: „Kind, du bist doch sehr schwer zufriedenzustellen.
Du weißt doch, wie sauer es uns wird, durchzukommen, und wieviel Ärger
ich mit dem Vater wegen deiner kostspieligen Toilette habe!“
„So? Der sollte nur den Mund halten; er verbraucht doch so viel für
sich!“ war die schnippische Antwort, und damit ging die Tochter hinaus,
um sich auf der Promenade sehen zu lassen, während die Mutter seufzend
und verstimmt wieder an den Kochherd ging.
„Warum heiraten Sie nicht? Sie könnten doch wohl eine Frau ernähren.“ So
wurde ein junger Beamter gefragt. Die bezeichnende Antwort lautete: „O
ja, ernähren könnte ich eine Frau schon, aber nicht kleiden!“
In dieser Anekdote liegt viel Wahrheit. Einsichtige, verständige Männer
sehen mit Besorgnis auf die wachsende Scheu vieler junger Männer,
besonders in den sogenannten gebildeten Kreisen, eine Ehe einzugehen.
Ehescheu ist immer ein sicheres Anzeichen dafür, daß im Volk etwas nicht
in Ordnung ist.
Es ist keine Frage, daß bei vielen Männern der Egoismus und die
sittliche Laxheit die Ursachen dafür sind; aber bei manchen ist es auch
die berechtigte Scheu vor der Genußsucht und Eitelkeit der Frauen, die
nur darauf bedacht sind, ihr Äußeres aufzuputzen, was so manchem Ehemann
das Leben so sauer macht, ja, ihn nicht selten geradezu wirtschaftlich
ruiniert.
„Wo sind heute noch einfach und zur Hauswirtschaft tüchtig erzogene
Mädchen? Im Haushalt arbeiten will keins mehr, wohl aber die Dame
spielen“, so haben wir oft junge Männer sprechen hören, die zwar mit
hellem Kopf ins Leben schauten, aber nicht wußten, daß man sich von Gott
die richtige Frau erbitten kann und darf.
Gerät ein junger Mann an solch ein eitles, träges und verwöhntes
Mädchen, läßt er sich von ihrem vielleicht hübschen Gesicht und der
‚schicken‘ Kleidung blenden, dann entwickelt sich bald eine unglückliche
Ehe; denn das hübsche Gesicht vergeht schnell, und die ‚schicke‘
Kleidung kostet viel Geld.
„Wo die Sorge kehrt ins Haus,\
Geht die Lieb‘ zum Fenster raus.“
Und der Mann geht zur Haustür hinaus und zur Wirtshaustür hinein und
sucht den Alkohol als Sorgenbrecher auf. Zu Hause aber gibt es häßliche
Szenen, bitteren Zank und Streit. Jeder sucht die Schuld beim andern. Es
kann auch noch anders kommen. Wenn der Mann die teuren Leidenschaften
seiner Frau – oder auch seine eigenen – nicht mit eigenem Geld
bestreiten kann, dann greift mancher nach fremdem, wenn er Gelegenheit
dazu hat. Manche Gerichtsverhandlung deckt das auf, und mancher Mann
sitzt hinter Gefängnismauern, den seine Frau dahin gebracht hat!
Und im Hintergrund steht – ach, wie oft! – der Mutter Schuld. Sie hat
einst ihr Kind zu dem erzogen oder doch werden lassen, was es geworden
ist: zu einer eitlen, unwirtschaftlichen, schlechten Gattin und
Hausfrau.
Alle Frauen und Mädchen aber mögen bedenken, was Gottes Wort sagt:
Spr. 14,1: Durch weise Frauen wird das Haus erbaut.
Spr. 31,30: Lieblich und schön sein ist nichts; eine Frau, die den Herrn
fürchtet, soll man loben.
1\. Tim. 2,9-10: Ebenso will ich auch, daß sich die Frauen in ehrbarem
Anstand mit Schamhaftigkeit und Zucht schmücken, nicht mit Haarflechten
oder Gold oder Perlen oder aufwendiger Kleidung, sondern durch gute
Werke, wie es sich für Frauen geziemt, die sich zur Gottesfurcht
bekennen.
20 Jahre {#jahre-6 .unnumbered}
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„Schon lange verfolge ich dich, schöne Maske! Jetzt wirst du mir nicht
wieder entgehen! Du bist meine Gefangene! In jene mollige Nische werde
ich dich einsperren und dich dann selbst bewachen!“ „O kühner Ritter,
wie ich mich fürchte! Habt Erbarmen mit mir, der schwachen Frau! Ich
gebe mich Euch ja auch willig gefangen.“ „Fürchte nichts, liebliches
Mädchen! Ich werde dich nicht mit Brot und Wasser, sondern mit Konfekt
und Sekt speisen. Du sollst auch nicht mit Ketten, sondern mit
rosafarbigen Seidenbändchen gefesselt werden.“
„Eine solche Gefangenschaft lasse ich mir gefallen, Herr Ritter. Wenn
Euer Schloßbrunnen Sekt spendet, dann ist die Kerkerhaft zu ertragen.
Ich bin Eure gehorsame Magd.“
„So ist’s recht, so machst du deinen Herrn zum Knecht. Unter der Maske
ist Freiheit. Da begehrt und da gewährt man. Wir leben nur einmal in der
Welt, und das Einmal wollen wir genießen.“ „So denke auch ich.
Freut euch des Lebens,\
Weil noch das Lämpchen glüht!\
Pflücket die Rose,\
Eh’ sie verblüht!“
Diese Unterredung fand zwischen dem jungen Bankbeamten Fritz Kühler,
denn das war der „Ritter“, und Fräulein Else Reimann auf dem Maskenball
statt. Und die Fortsetzung dieser Tändelei zeigt unser Bild. Die beiden
jungen Leute paßten zusammen: beide jung, hübsch und lebenslustig, beide
aber auch gleich leichtfertig und oberflächlich. Sie sahen das Leben nur
als ein großes Amüsement an. Die Zukunft war ihnen gleichgültig; sie
lebten für den Augenblick. War der nach ihrem Wunsch, dann waren sie
glücklich, heiter und liebenswürdig; war er es nicht, dann war die Laune
übel, und man hatte dann ein nichts weniger als ein einnehmendes Wesen.
Dieser Abend war nach beider Wunsch und Neigung. Und der Sekt tat seine
Wirkung. Und die Wirkung des Alkohols auf die seelischen und
körperlichen Regungen und auf Vernunft, Verstand und Gewissen sind nur
zu bekannt, besonders wenn dann noch die Atmosphäre der ganzen Umgebung
mitwirkt: die prickelnde Musik, die tolle Ausgelassenheit, die
Ungebundenheit des Umgangs.
Aber an den Folgen dieser „Lust“ trägt mancher Mensch sein ganzes Leben
lang. „Unter der Maske, da man begehrt und gewährt“ – wie Herr Kühler
sagte –, hat mancher und manche die Ehre und Gesundheit, den Frohsinn
und das Lebensglück für immer verloren. Da ist der Anfang zu manchem
Eheleben gelegt worden, das zur wahren Hölle wurde.
So ist es auch bei diesen beiden jungen Leuten, die sich in dieser
Umgebung im Narrenkleid und unter der Wirkung des Sekts zusammenfanden.
Daß man unter diesen Umständen nicht darüber nachdenkt, was man tut und
welche Folgen es hat, liegt auf der Hand. Nur einen Gedanken hat man,
der alles beherrscht, und dieser Gedanke läßt sich in dem einen Wort
zusammenfassen: Genießen! Genießen!
Einer, der seine Ehe unter ähnlichen Umständen begonnen hatte, nun aber
schon lange ein Leben mit Gott führt, schreibt: „Im Rausch hatte ich um
die Hand meiner Frau angehalten! Nicht die Liebe hatte mich und meine
Frau zusammengeführt, sondern die Sünde und die Selbstsucht! Jedes von
uns hoffte, durch die Verbindung mit dem andern möglichst viel für sich
zu gewinnen… Es fehlte aber am Zusammenklingen der innersten Saiten der
Seelen; wir gingen nebeneinander her, leichtsinnig und gedankenlos. Und
die Hauptschuld trug der elende Alkohol.“
Daß man bei einer solchen Verlobung nicht um den Segen Gottes zu diesem
wichtigen Schritt bittet, ist selbstverständlich. Gott spielt dabei
keine Rolle. Solche Ehen werden nicht im Himmel geschlossen, sondern der
Teufel sagt sein „Ja und Amen“ dazu.
Es ist auch selbstverständlich, daß man bei einer solchen Verbindung
nicht den Rat der Eltern nötig hat. Man weiß selbst, was man zu tun und
zu lassen hat. So meint man – bis man zu spät erkennt, daß man es doch
nicht wußte.
Und die Eltern?! Nun, die ernten, was sie gesät haben. Sie haben ihre
Kinder so erzogen, daß diese von jeher gewohnt sind, zu tun und zu
lassen, was ihnen gefällt. So müssen so manche Väter und Mütter zusehen,
wie ihre Kinder ins Verderben laufen, ohne auch nur etwas daran ändern
zu können.
Auch Frau Reimann ging es so. Als ihr Else ihre Verlobung mit dem jungen
Kühler mitteilte, erschrak sie nicht wenig, denn er war bekannt als ein
lockerer und leichtfertiger Mensch. Aber jetzt war es zu spät. Einige
schüchterne Einwendungen der Mutter schnitt Else kurz ab mit den Worten:
„Du brauchst ihn ja nicht zu heiraten, sondern ich will es.“ Und so war
der Grund zu einer unglücklichen Ehe nunmehr gelegt. Ohne Gott und den
Heiland tat man den wichtigsten Schritt dieses Erdenlebens. Das junge
Paar aber wird noch oft an diesen Maskenball denken. Aber ob mit
Freuden?
22 Jahre {#jahre-7 .unnumbered}
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„Luise, kommen Sie her und fahren Sie mir den Schreihals aus dem Zimmer!
Ich kann den Spektakel nicht aushalten, er geht mir auf die Nerven und
stört mich bei meiner Lektüre! Nehmen Sie den Wagen mit in die Küche und
fahren Sie den Jungen so lange herum, bis er still ist!“
„Aber Frau Kühler, so werde ich gewiß das Mittagessen nicht rechtzeitig
zubereiten können!“
„Wenn ich Ihnen sage, daß Sie sich um den Jungen kümmern sollen, dann
haben Sie das zu tun; alles andere ist meine Sache! Wenn das Essen nicht
fertig ist, kann mein Mann entweder warten, oder er kann auch heute in
seinem Restaurant speisen. Und nun will ich nicht mehr gestört werden!“
Das war die Unterredung zwischen der jungen Frau Kühler und ihrem
Dienstmädchen; aber sie hatte eine Fortsetzung als Monolog
(Selbstgespräch):
Frau Kühler seufzt: „Es ist doch eine Plage mit solch einem Kind! Keine
ruhige Stunde hat man mehr! Wie anders hat man sich doch die Ehe
gedacht! Wahrlich, an einem Kind hat man mehr als genug!“
Luise aber sagt drinnen in der Küche, während sie den Wagen hin und her
schiebt: „Das ist hier aber auch eine Wirtschaft! Was für einen Skandal
wird das nun heute Mittag wieder geben! Man kann es dem Herrn Kühler
aber wirklich nicht verdenken, wenn er wütend wird. Und dabei diese
Borgerei überall! Ich muß mich schämen, wenn ich zum Metzger oder Bäcker
komme! Ich schreibe noch einmal an meine Mutter, ob ich nicht kündigen
darf.“
Am Mittag aber – die junge Frau liegt immer noch auf dem Sofa, bald
lesend, bald schlafend, bald vor sich hinträumend – kommt ihr Mann aus
dem Geschäft und findet natürlich kein Mittagessen fertig vor. Da gibt
es eine von den häßlichen Szenen, die in der jungen Ehe jetzt schon an
der Tagesordnung sind, in denen sich Mann und Frau gegenseitig die
heftigsten Vorwürfe machen und die damit enden, daß Herr Kühler auswärts
essen geht. Natürlich bleibt es dabei nicht beim Essen, sondern der
Ärger will auch hinuntergespült sein!
Am Nachmittag kleidet sich die junge Frau recht nobel und macht dann
ihrer Mutter einen Besuch. Der kleine Kurt bleibt natürlich bei dem
Mädchen. Bei der Mutter aber schüttet sie ihr Herz aus. Da klagt sie
über die Last, die ihr das Kind macht, über die Mühen des Haushalts,
über den Verdruß durch das ‚vorlaute und ungeschickte‘ Mädchen, und vor
allem über ihren Mann, der immer nur an sich selbst denke, der bei jeder
Kleinigkeit so auffahrend und beleidigend sei, und der so viel in der
Kneipe sitze.
Und die Mutter? Nun, nach allem, was wir von ihr wissen, verwundert es
uns gar nicht, daß sie auch jetzt ihre Tochter in ihrer Meinung
bestärkt, anstatt ihr mit der Wahrheit zu dienen. Zu all der Schuld, die
sie schon durch die verkehrte Erziehung ihrer Tochter auf sich geladen
hat, kommt nun auch diese noch hinzu.
Wieviel unglückliche Ehen gäbe es weniger, wenn alle Mütter so wären,
wie der Apostel Paulus die alten Frauen sehen will (Titus 2,3-5): „Den
alten Frauen sage, daß sie sich halten, wie es den Heiligen ziemt, nicht
Lästerinnen seien, nicht Weinsäuferinnen, gute Lehrerinnen, daß sie die
jungen Frauen lehren züchtig sein, ihre Männer lieben, Kinder lieben,
sittsam sein, keusch, häuslich, gütig, ihren Männern untertan.“
Freilich, voll und ganz so können die Mütter junger Frauen nur sein,
wenn sie gläubige Christinnen sind, die in der Schule ihres Herrn
erzogen wurden, die gelernt haben, die biblische Stellung der Frau als
Mutter und Gattin zu verstehen, und die wissen, welch ein großer Segen
darauf liegt, wenn sich die Frau in aller Treue übt, diese Stellung
einzunehmen.
Solche Mütter sind dann wahrhaftig gute Lehrerinnen, und wohl der jungen
Frau, die eine gelehrige und willige Schülerin ist! Aber von den älteren
Frauen geht ein unheilvoller Einfluß aus, wenn sie die jüngeren Frauen
aufhetzen und in ihrer Auflehnung gegen die biblische Stellung der Frau
als Gattin und Mutter bestärken.
26 Jahre {#jahre-8 .unnumbered}
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„Ja, Ella, du hast es wohl gut, du kannst dich glücklich schätzen! Keine
Kinder zu haben – welch ein freies, ungebundenes Leben! Aber ich kann
mich mit den beiden Kindern abplagen. Weiß oft nicht, wo mir der Kopf
steht!“
„Ach ja, Else, du tust mir leid! Noch so jung, und nun schon so ans Haus
gebunden! Mein Mann und ich speisen einfach im Hotel, wenn es mir zu
lästig ist, selbst zu kochen. Heute abend gehen wir beispielsweise ins
Reichshafen-Theater. Da ist’s fein, sage ich dir! Eben ist ein ganz
neues Künstlerpersonal angekommen! Nein, ich will das Leben genießen und
möchte und will keine Kinder!“ –
„Ich wollte auch keine. Nun sind sie aber da – und mit ihnen die Last
und Plage! Nichts hat man mehr vom Leben! Und die Männer werden auch so
gräßlich, wenn man so viele Kinder hat. Es soll doch immer alles fertig
sein, wenn sie kommen! Und mit dem Tölpel von Mädchen kann ich nichts
anfangen. Die kann nichts! Nun wollte ich ein Kindermädchen nehmen, um
etwas mehr Ruhe zu haben, und da heißt es gleich: Das wird zu teuer!
Jawohl, die halben Nächte in der Kneipe zu sitzen, das kostet nicht zu
viel. – Ich begreife nicht, wie die Toni fertig wird. Die hat nun schon
das Vierte und dabei nur stundenweise ein Dienstmädchen. Vorgestern
begegnete sie mir. Ich litt heftig an Migräne und klagte es ihr. Da
lachte sie und sagte, sie habe keine Zeit für Migräne. Die muß wirklich
gesund sein! Sie sah so frisch und blühend und dabei so fröhlich aus,
daß man sie hätte beneiden können, wenn nur ihre altmodische Ausstattung
nicht gewesen wäre. – Ja, die und ihr Schulmeister stellen auch gar
keine Ansprüche ans Leben. Kein Theater, kein Konzert, keinen Ball,
keinen lustigen Abend in dem Restaurant! Wenn die ihr Muckerstündchen im
Blauen Kreuz – oder wie es heißt – haben, dann haben sie alles genug.
Nein, solch ein Leben! Brrr, ich muß mich schütteln! Die Toni denkt auch
noch so altmodisch, als wenn wir Frauen nur für die Männer und Kinder da
wären, um ihnen unsere Schönheit und die besten Jahre unseres Lebens zu
opfern!“
„Ganz meine Meinung, Else. Aber die Toni scheint doch merkwürdig
glücklich zu sein. Ich kann es mir nicht erklären. Freilich, sie soll ja
einen sehr guten Mann haben, der sie auf Händen trägt; aber einerlei,
solch ein Leben wäre für mich zum Davonlaufen! – Doch ich muß gehen. Ich
wollte mit ein paar Freundinnen in Kühnes Konditorei zu einer Tasse
Schokolade zusammentreffen. Auf Wiedersehen, Else! Auf Wiedersehen, Frau
Reimann!“
Das war die Unterredung zwischen Frau Kühler, geb. Else Reimann, und
ihrer Freundin – eine Unterredung, wie sie unter vielen Frauen aller
Gesellschaftsschichten in unseren Tagen oft, sehr oft, geführt wird,
bald mit diesen, bald mit jenen Worten. Oder ist es nicht mit vielen
Frauen dahin gekommen, daß sie diejenigen ihrer Bekannten glücklich
schätzen, die keine Kinder oder höchstens eins haben?
Und die Mutter, Frau Reimann? Sie hörte sich die ganze Unterredung
schweigend an und nickte nur je und dann, wenn sie fragend angeblickt
wurde, zustimmend mit dem Kopf. Freilich, sie hatte so allerlei Gedanken
bei dem Gespräch der beiden jungen Frauen; aber sie hielt es für
ratsamer, sie für sich zu behalten, um sich von ihrer Else keinen
Nasenstüber zu holen.
Dahin kommt es, wenn die Mütter in der Jugendzeit ihrer Töchter deren
Eigenleben, Selbstsucht, Bequemlichkeit und Dünkel nähren; dann werden
sie später zu solchen Frauen, wie es Else Reimann geworden war – solche
Frauen, die an ihrem Teil wahrlich dazu beitragen, das Familienglück zu
ruinieren, und die den Mann auf schlechte Wege treiben.
O diese Scheu vor dem Kindersegen unter modernen Frauen – was hängt
damit nicht alles zusammen! Eine Fülle von Sünde und Verderben, von
ehelichem Unfrieden und gegenseitiger Abneigung! Sie ist in der Tat ein
großer, großer Volksschade geworden! Wie ist es so selten geworden, daß
anerkannt wird:
„Kinder sind eine Gabe des Herrn, und Leibesfrucht ist ein Geschenk!“
(Ps.127,3). O Gott, erwecke unserem Volk wieder Mütter, die gute
Lehrerinnen sind, damit sie die jungen Frauen von Jugend an durch Wort
und Vorbild lehren, „ihre Männer lieben, Kinder lieben, sittig, keusch,
häuslich, gütig, ihren Männern untertan zu sein“! (Tit. 2,3-5)
29 Jahre {#jahre-9 .unnumbered}
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„Und ich sage dir, gräßliche Frau, du schweigst! Ich lasse mir von dir
keine Vorhaltungen machen! Was ich zu tun und zu lassen habe, weiß ich
selbst! Du bist mir im Grunde der Seele zuwider! Ich wollte lieber, ich
wäre an dem Tag ins Zuchthaus gekommen, als ich mit dir angebändelt
hab!“
„Und mir wäre der Tod auch besser gewesen, als solch einen Menschen zum
Mann zu bekommen! Ich verabscheue und hasse dich! Was für ein ekelhaftes
Leben habe ich doch bei dir!“
„Viel zu gut hast du es bei mir, faule, elende Frau! Was hast du
mitgebracht?! Nichts, gar nichts! Deinen elenden Plunder habe ich noch
bezahlen müssen! Und jetzt, wo deine Alte tot ist, besteht die ganze
Erbschaft aus nichts!“
„Solch einen Menschen, wie du es bist, hätte ich noch jeden Tag bekommen
können, du Wirtshausbruder und liederlicher Schuft! Meinst du, ich wüßte
nicht, wo und mit wem du dich herumtreibst?!“
„Und das wagst du mir zu sagen?! Aber warum nicht – wenn man im Haus
nichts hat, sucht man es außerhalb, und was man bei der Frau nicht
findet, das wird einem anderswo geboten. Du bist ja auch nicht so ohne;
oder meinst du, ich merkte nicht, was du mit dem Steinkamp hast?!“ Und
so ging es weiter in endlosen Anklagen und Vorwürfen, bis der Streit in
Tätlichkeiten überging. Und das ist dasselbe Ehepaar Kühler, das sich
als Brautleute ‚vor Liebe gern aufgegessen hätte‘, wie man sich damals
gegenseitig immer wieder versicherte.
Das Band der Liebe und Treue ist längst bis auf den letzten Faden
zerrissen. Was sie jetzt noch aneinander fesselt, ist nur die Tatsache,
daß man gesetzlich gebunden ist; aber diese Fessel ist zu einem
unerträglichen und drückenden Joch geworden. Könnte man so leichthin
voneinander loskommen, wie gerne würde man auseinandergehen!
Und wer trug die Schuld an diesem elenden Zustand? Sie lag auch hier auf
beiden Seiten. Keiner hatte in der Ehe seine Rechnung gefunden, die
darin bestand, daß jeder möglichst viel für sich erwartete und dem
anderen möglichst wenig geben wollte an selbstloser, opferbereiter
Liebe. Wie sagt doch Schiller?
Drum prüfe, wer sich ewig bindet,\
Ob sich das Herz zum Herzen findet!\
Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang!
So war es hier.
Der Mann war ein leichtlebig veranlagter Mensch, der einfach so in den
Tag hineinlebte. Er hatte bisher im Geschäft soweit seine Pflicht und
Schuldigkeit getan, im übrigen aber sich um nichts Höheres und Tieferes
gekümmert. Gut essen, reichlich trinken, Theater und Konzerte besuchen,
gelegentlich auch die Zeitung lesen und am Biertisch politische Probleme
wälzen – das war der Inhalt seines Lebens, wie bei so vielen Tausenden
von ‚gebildeten‘ Männern unserer Zeit.
Er war aber eigentlich kein schlimmer Mensch, kein ausgemacht
niedriggesonnener Charakter. Zu einem tiefdenkenden Mann und festen
Charakter fehlte ihm ohne alle Frage das Zeug; aber er wäre doch nicht
das geworden, was er jetzt ist, wenn er eine andere Frau gehabt hätte.
Bei dieser Frau aber entwickelten sich alle seine schlechten
Eigenschaften zur vollen Blüte, während alle besseren Anlagen und
Regungen verkümmerten. Kühler war nie ein für die stille Häuslichkeit
angelegter Mann; aber seine Frau hatte es fertig gebracht, ihn ganz dem
Haus zu entfremden, ihn ins Wirtshaus und in die Arme gewissenloser,
schlechter Weiber zu treiben.
„Ja, wenn er eine andere Frau hätte!“ Von wie manchem, manchem Mann wird
das nicht gesagt! Es hätte viel, viel Besseres aus ihm werden können,
wenn er eben ‚eine andere Frau hätte‘.
Und von wie manchem heißt es: „Ja, wenn er nicht eine so gute Frau hätte
– wohin möchte er dann wohl gekommen sein!“ Wahrlich, eine treue, gute,
fromme Frau ist eine große Gnade und Gabe Gottes! Und die junge Frau
Kühler? Sie war auch von Natur nicht tief, sondern flach veranlagt,
neigte zur Eitelkeit und Genußsucht. Aber es hätte doch etwas anderes
aus ihr werden können, wenn sie eine andere Mutter gehabt hätte!
Ach, der Mutter Schuld! Wie geht sie mit durch das Leben des Kindes,
selbst wenn die Mutter längst die Augen zum Todesschlaf geschlossen hat!
Die Mutter hatte einst all die stark empordrängenden, natürlichen
schlechten Eigenschaften sich ungehemmt entwickeln lassen, und nun sind
die traurigen Folgen da, nun ist nicht nur das Leben der Tochter,
sondern auch das des Schwiegersohns, wie auch die Jugendzeit der
Enkelkinder, die so verschüchtert dastehen, vergiftet!
Wie ist doch das Leben, in dem die Sünde regiert, auch nach einem kurzen
Rausch so öde und traurig! Wie werden die Herzen, in denen sich die
Selbstsucht so ungehindert entfalten kann, so verbittert und vergrämt!
Wie ist es doch da, wo Mann und Fran in Jesus eine neue Kreatur geworden
und in Ihm eins sind, so anders!
30 Jahre {#jahre-10 .unnumbered}
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„Sind Sie Frau Kühler, die Frau des Bankkassierers Kühler?“ „Ja, aber
was soll ich denn?“ „Wo ist Ihr Mann?“ „Das weiß ich nicht; seit
vorgestern mittag ist er noch nicht heimgekommen.“
„Also, Sie wissen nichts von Ihrem Mann?“
„Nein, wirklich nicht! Er geht oft weg, ohne mir zu sagen wohin; aber so
lange ist er doch noch nicht ausgeblieben.“
„Nun, dann hören Sie: Ihr Mann ist mit einer Kellnerin durchgebrannt. In
der von ihm verwalteten Kasse fehlen aber über 50 000 Mark! In Cuxhaven
hat man gestern abend das Paar verhaftet, da seine Flucht dorthin
bekannt geworden war. Nun sind aber bei Ihrem Manne nur 11000 Mark
gefunden worden. Wo ist das andere Geld?“ „Herr Kommissar, ich weiß von
alledem auch nicht das geringste! Ich habe nichts von dem Geld! Mein
Gott, was soll ich nur anfangen?! Dieser elende Mensch!“
„Ich habe den Befehl, hier eine Hausdurchsuchung zu machen. Setzen Sie
dem keinen Widerstand entgegen, sondern öffnen Sie alles, was Sie
haben!“
Am ganzen Leib zitternd, folgte die junge Frau der Aufforderung des
Beamten. Die Hausdurchsuchung verlief natürlich ergebnislos. Unter den
Papieren fand man aber einen großen Berg unbezahlter Rechnungen und
geharnischter Mahnbriefe, aus denen hervorging, daß die Familie Kühler
bis zum Äußersten verschuldet war.
Das nächste war denn auch ein Ansturm von Gläubigern aller Art; aber
alle mußten leer abziehen, da die Frau auch nicht einen Pfennig mehr
hatte und selber mit ihren Kindern die bitterste Not litt, weil
natürlich niemand mehr etwas borgen wollte. Nach wenigen Tagen kam schon
der Gerichtsvollzieher und belegte alles Mobiliar mit dem Dienstsiegel.
Der Hausbesitzer aber hatte wegen Rückstands zweier Mietquartale sofort
Räumungsklage eingereicht.
Es waren Tage zum Verzweifeln für Frau Kühler. Das Dienstmädchen hatte
sofort seine Sachen gepackt und war gegangen. So saß sie mit ihren
Kindern im Elend, in Hunger und in Schande. Ihre ehemaligen Freundinnen
kannten sie jetzt nicht mehr. Mit ihren Geschwistern lebte sie in
Feindschaft, und so war sie von allen verlassen.
Aber doch nicht von allen. Wenige Tage nach der Katastrophe kam Toni,
die Lehrersfrau, über welche Frau Kühler und ihre Freundin so
geringschätzig gesprochen hatten, und brachte ihr Lebensmittel und Trost
und Zuspruch. Die ersteren nahm sie an, und die Kinder fielen mit
Heißhunger darüber her. Aber für solchen Zuspruch und Trost, wie ihn
Frau Toni bringen wollte, war sie ganz unempfänglich. Die arme Frau war
völlig verbittert und voller Haß gegen ihren Mann. Für sich selbst hatte
sie nur das tiefste Bedauern. Als ihre Freundin sie in zarter Weise zur
Selbsterkenntnis zu führen suchte und sie dabei auf den Heiland hinwies,
wurde Frau Kühler ganz heftig:
„Toni, gib dein Predigen und Schulmeistern auf! Du sitzt im Glück und
weißt nicht, wie es solchen Leuten zumute ist, die unschuldig im Elend
sind! Du meinst wohl, weil du mir etwas gebracht hast, hättest du ein
Recht dazu?!“
Mit Tränen in den Augen ging Toni davon. Daheim aber sagte sie zu ihrem
Mann:
„Die arme, arme Else! Sie ist ganz blind über sich; sie sieht nur bei
ihrem Mann die Schuld. Sie ist noch dieselbe, die sie früher als junges
Mädchen war, nur noch schlimmer! O wie bin ich meiner lieben Mutter so
dankbar, daß sie meiner Selbstsucht und Selbstgerechtigkeit immer so
scharf entgegengetreten ist und mich zur Einfachheit und zum Fleiß
angehalten hat! Ich war ja auch nicht besser als Else. Und welch ein
Vorbild war mir meine treue, fromme Mutter!“
„Ja, meine liebe Frau, nächst der Gnade Gottes verdanke ich es deinem
treuen Mütterlein, daß ich nun unter allen Ehemännern der glücklichste
bin!“
31 Jahre {#jahre-11 .unnumbered}
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(Sitzungssaal der Strafkammer des Landgerichts in L.)
Präsident: Als Ehefrau des Angeklagten können Sie nach § 51 Absatz 2 der
Strafprozeßordnung ihr Zeugnis verweigern. Wollen Sie von dem Recht
Gebrauch machen? Zeugin: Nein, ich will aussagen!
Präsident: Seit wann sind Sie mit dem Angeklagten verheiratet?
Zeugin: Seit zehn Jahren.
Präsident: Ihre Ehe war wohl keine glückliche?
Zeugin: Nein.
Präsident: Was war die Ursache?
Zeugin: Mein Mann führte ein ausschweifendes Leben, vernachlässigte mich
sehr und behandelte mich schlecht.
Präsident: Was verstehen Sie unter einem ausschweifenden Leben?
Zeugin: Mein Mann verkehrte sehr viel in Wirtschaften, trank und spielte
und hatte kostspieligen Umgang mit weiblichen Personen.
Präsident: Sind Sie in der Lage, irgendwelche Angaben über den Verbleib
des unterschlagenen Geldes zu machen?
Zeugin: Nein! Mein Mann wird es vergeudet haben.
Präsident: Der Angeklagte behauptet, daß Sie nicht zu wirtschaften
verstanden hätten, daß Sie, obwohl ganz vermögenslos, doch von Anfang
der Ehe an große, über Ihren Stand und Ihre Verhältnisse hinausgehende
Ansprüche gestellt hätten, und daß er deshalb dazu getrieben wurde, nach
und nach immer größere Unterschlagungen zu machen. Was haben Sie dazu zu
sagen? Zeugin: Das ist eine ganz gemeine Lüge von diesem elenden
Menschen!
Präsident: Zeugin, mäßigen Sie sich! Sie stehen vor Gericht und dürfen
den Angeklagten nicht beleidigen! Zudem hat die seitherige
Beweisaufnahme doch manches ergeben, was nicht zu Ihren Gunsten spricht.
(Zeugin schweigt, wirft aber dem Angeklagten einen haßerfüllten Blick
zu.)
Verteidiger: Ich möchte die Zeugin fragen, wieviel Wirtschaftsgeld sie
monatlich von ihrem Mann bekam.
Zeugin (zögernd): In den ersten Jahren 250 Mark, später 350 Mark.
Präsident: Angeklagter, stimmt das?
Angeklagter: Ja, nur kam meine Frau nie damit aus und wollte stets mehr
haben.
Präsident: Haben Sie ihr mehr gegeben?
Angeklagter: Ja, oft, d. h. wenn ich es konnte.
Präsident: Was hatte Ihre Frau davon zu bezahlen?
Angeklagter: Nur die laufenden Bedürfnisse des Haushalts. Die größeren
Ausgaben, wie Lohn für das Dienstmädchen, Bezahlung der Heizkosten usw.,
bestritt ich noch.
Präsident: Aus wieviel Personen bestand Ihr Haushalt?
Angeklagter: Aus meiner Frau, drei Kindern und dem Dienstmädchen.
Präsident: Zeugin, was haben Sie zu den Behauptungen Ihres Mannes zu
sagen?
Zeugin: Das ist ja richtig, aber was ich bekommen habe, ist doch nicht
viel in den heutigen teuren Zeiten und für eine Frau meines Standes. Es
kann keiner von mir erwarten, daß ich arbeite wie eine Waschfrau. Ich
bin von guter Herkunft und von guter Bildung und habe geistige
Bedürfnisse.
Präsident (lächelnd): Davon wissen wir jetzt genug.
Verteidiger: Ich möchte die Zeugin fragen, ob es richtig ist, daß sie
trotz des hohen Haushaltsgeldes noch bei den Geschäftsleuten Schulden
hatte.
Zeugin: Weil mich mein Mann so knapp im Haushaltsgeld hielt, blieb mir
nichts anderes übrig, als je und dann zu borgen.
Verteidiger: Die weiteren Zeugenaussagen werden zeigen, daß von einem
‚je und dann‘ keine Rede sein kann.
Präsident: Haben Sie mit Ihrem Mann oft Szenen gehabt?
Zeugin: Im ersten Jahr nach unserer Heirat nicht; später wurde mein Mann
immer brutaler gegen mich.
Nachdem noch einige Fragen an die Zeugin gestellt worden sind, ist ihre
Vernehmung beendet. Aus dem Zuhörerraum treffen sie wenig
schmeichelhafte, wenn auch leise geflüsterte Bemerkungen. – Es werden
dann noch einige Zeugen, frühere Dienstboten usw., vernommen, und dann
wird die Beweisaufnahme geschlossen.
In seinem Plädoyer hob der Staatsanwalt die Schwere des begangenen
Verbrechens scharf hervor. Der Angeklagte habe das in ihn gesetzte
Vertrauen seiner Vorgesetzten schändlich mißbraucht. Es sei ja
allerdings festgestellt, daß der Angeklagte schwierige häusliche, d. h.
eheliche Verhältnisse gehabt habe, aber damit sei dieser grobe
Vertrauensbruch keineswegs entschuldigt, um so weniger, als der
Angeklagte doch tatsächlich sehr ausschweifend gelebt habe, wofür noch
zuletzt die Tatsache spreche, daß er mit der Kellnerin geflüchtet sei.
Er beantragte vier Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust.
Der Verteidiger gab zunächst zu, daß hier wirklich ein schwerer
Vertrauensbruch vorläge, der gesühnt werden müsse, aber er bitte den
Gerichtshof, dem Angeklagten im weitgehendsten Maß mildernde Umstände
zuzubilligen. „Unter den vielen in diesem Prozeß vernommenen Zeugen“,
fuhr er dann fort, „hat ohne Frage eine Zeugin einen durchaus
ungünstigen Eindruck gemacht. Und diese Zeugin ist die Frau des
Angeklagten. Moralisch ist sie Mitangeklagte. Von solchen Frauen werden
Männer auf die schiefe Bahn getrieben und schließlich zu Verbrechern
gemacht oder sonst zugrunde gerichtet! Der Angeklagte ist gewiß kein
Tugendheld, er ist leichtsinnig veranlagt und hat leichtsinnig gelebt;
er wird die Folgen davon tragen müssen. Aber es wird in diesem Saal
keiner sein, dem nicht der Angeklagte doch sympathischer wäre als seine
Frau. Es bedeutet für einen Mann geradezu ein Unglück, wenn er sich an
eine so verzogene, anspruchsvolle, selbstsüchtige und unwirtschaftliche
Frau bindet! Ich bitte den Gerichtshof noch einmal um weitgehende
Zubilligung mildernder Umstände.“
Der Gerichtshof zieht sich zurück. Nach einstündiger Beratung wird das
Urteil verkündigt. Es lautet unter Zubilligung mildernder Umstände auf
drei Jahre Gefängnis und drei Jahre Ehrverlust.
Das war der Abschluß eines Ehedramas. Der Teufel hat es geschrieben, und
die Sünde ist sein Griffel gewesen. Und im fernen Hintergrund – was
steht da? Der Mutter Schuld!
32 Jahre {#jahre-12 .unnumbered}
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Toni: Ich muß dich doch noch einmal besuchen, Else. Aber wie lange habe
ich suchen müssen, ehe ich dich fand! Wie oft muß ich an dich denken,
wäre auch wohl schon eher gekommen, aber zwei meiner Kinder waren an
Scharlach erkrankt. Wie geht es dir?
Else (kühl): O es geht mir ganz gut, Toni. Ich sehe, du hast mir wieder
etwas mitgebracht; aber das ist jetzt nicht mehr nötig.
Toni: Ich meinte es nur gut, Else. Es freut mich aber, daß es dir gut
geht. Ich hätte sonst für dich ein Angebot.
Else: Und das wäre?
Toni: Der Bruder meines Mannes hat eine chemische Reinigung und möchte
in der Baustraße eine Annahme- und Ausgabestelle einrichten, und dafür
sucht er eine zuverlässige Verwalterin. Ich habe mit meinem Schwager
gesprochen, und er ist nicht abgeneigt, dir die Stelle zu übertragen.
Else (auflachend): Sehr gütig von deinem Herrn Schwager und von dir,
aber ich danke bestens, das ist nichts für mich. Ich habe das auch nicht
nötig.
Toni: Nicht nötig? Ja, wovon lebst du denn? Du mußt doch etwas
verdienen!
Else: Darüber mach dir keine Sorge! Eine gebildete, hübsche Frau in den
besten Jahren findet Freunde genug, die gern für sie sorgen.
Toni: Um Gottes willen, Else, was sagst du da?!
Else (lachend): Fall nur nicht in Ohnmacht! Allerdings, für eine so
fromme Frau, wie du es bist, ist das nichts. Aber du hast das ja auch
nicht nötig.
Toni: O Else, das ist ja schrecklich! Du gehst ja an Leib und Seele
zugrunde! Denkst du denn gar nicht daran, daß dich die Sündenwege ins
Verderben reißen?!
Else: Verschone mich mit deinen Predigten; die machen auf mich gar
keinen Eindruck. Jeder hilft sich, so gut er kann, und mir paßt es so am
besten. Jetzt endlich habe ich ein freies, vergnügtes Leben.
Toni: Aber wo hast du denn deine Kinder? Denkst du denn gar nicht an
sie?
Else: Das geht dich eigentlich nichts an, aber warum sollte ich es dir
nicht sagen? Sie sind zu einer Frau in Pflege gegeben.
Toni (weinend): O Else, wohin bist du gekommen? Du gehst ja ewig
verloren! Ach, ach, wer hätte das gedacht, als wir zusammen auf der
Schulbank saßen! O raff dich doch auf! Ich will ja alles für dich tun,
nur verlass diesen schrecklichen Weg! Komm, geh mit mir in unsere
Wohnung!
Else (kalt): Toni, spar dir deine Worte! Ich kann nicht, und ich will
auch nicht. Wenn die Lust zur Arbeit nicht in der Jugend geweckt wurde,
bekommt man sie mit 32 Jahren auch nicht mehr. Es ist mir lieber, wenn
du gehst. Ich kann jeden Augenblick Besuch bekommen, und dann möchtest
du doch gewiß nicht gern hier sein. Deine Gaben kannst du ruhig wieder
mitnehmen; ich hab sie nicht mehr nötig.
Toni (weinend): Ich gehe mit blutendem Herzen von dir. O du arme, arme
Else! Aber wenn du mich einmal nötig hast, bin ich für dich da. Gott
erbarme sich deiner!
„Toni, meine Liebe, was ist dir?! Du siehst ja ganz verweint und
erschrocken aus!“ fragte Herr Braun seine Gattin, indem er sie liebevoll
umarmte.
Schluchzend antwortete diese: „Ach Friedrich, es ist so schrecklich!“
Und dann erzählte sie ihm den Hergang ihres Besuches bei der tief
gesunkenen Jugendfreundin.
Bewegt antwortete der Mann: „Nicht nur die Sünden der Väter, sondern
auch der Mütter werden heimgesucht an den Kindern. Äußerlich können wir
für die arme Frau jetzt nichts mehr tun; aber es steht geschrieben: ‚Des
Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.‘ Wir können deine
Freundin nicht mehr erreichen; aber Gott kann es.“
38 Jahre {#jahre-13 .unnumbered}
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Sechs Jahre sind vergangen, seit Frau Toni Braun von ihrer ehemaligen
Schulfreundin Else gleichsam zur Tür hinausgeschoben wurde.
Für Frau Toni sind es glückliche Jahre gewesen. An der Seite des
geliebten, treuen Mannes und inmitten der blühenden Kinderschar führte
sie ein zwar arbeitsreiches, aber doch schönes Leben. Ihr Haus gehörte
zu den seltenen, in denen der Friede Gottes regiert, weil Jesus der Herr
des Hauses ist. Auch in ihren äußeren Verhältnissen hatte Gott sie
gesegnet. Seit fünf Jahren war ihr Gatte Rektor. –
Frau Toni hatte ihre arme Jugendfreundin nicht aus dem Auge verloren,
was in der großen Stadt ja schwierig war; aber was sie sah oder auf
Erkundigungen hin erfuhr, erfüllte sie mit tiefem Schmerz. Da ging es
von Stufe zu Stufe, immer schneller und schneller, bergab. Bei einer
Frau geht das noch viel geschwinder als bei dem Mann.
Nicht lange dauerte es, da hatte die Sittenpolizei2 ihre Aufmerksamkeit
auf Frau Kühler gelenkt. Und nachdem in einem schmutzigen Prozeß
allerlei ans Licht gekommen war, wurde sie in jene Register eingetragen,
in denen die Tiefgesunkensten des weiblichen Geschlechts stehen.
Vor etwa einem halben Jahr war es, an einem trüben Oktobernachmittag,
als Frau Toni mit ihrem Gatten Einkäufe besorgt hatte. Auf dem Heimweg
war in einer Nebenstraße ein Volksauflauf. Zwei Schutzleute bemühten
sich, eine total betrunkene Frau zur Wache zu führen. Das Gesicht des
Weibes blutete vom Hinfallen, und die Kleidung war über und über
besudelt.
Rasch wollten die beiden an der ebenso traurigen wie widerwärtigen Szene
vorübergehen, da hörte Toni die Betrunkene lallen: „Man lebt nur einmal
in der Welt!“ Erschrocken blieb sie stehen und hielt ihren Gatten am Arm
fest. „O Friedrich, das ist ja Else Reimann! O Gott, was ist aus der
geworden!“ –
Heute war Karfreitag. Herr und Frau Braun schickten sich eben an, zum
Gottesdienst zu gehen, als eine Krankenschwester eintrat und nach kurzer
Begrüßung fragte:
„Kennen Sie eine Frau Kühler?“
„Jawohl, was ist mit ihr?“
„Sie liegt im Krankenhaus und wird den heutigen Tag wohl nicht mehr
überleben. In ihren Fieberphantasien hat sie immer von Ihnen, Frau
Rektor, gesprochen; aber keiner wußte natürlich, wer ‚die Toni‘ war.“
„Was sagte sie denn?“
„Ach, es war schrecklich mit ihr! Bald rief sie: ‚O Toni, wie recht hast
du gehabt! Ja, der Sündenweg führt ins Verderben! Ruft mir die Toni!
Schnell, holt sie!‘ Dann wieder schrie sie: ‚Oh, ich komme in die Hölle!
Meine Mutter, meine Mutter hat Schuld!‘ Dazwischen stieß sie
Verwünschungen gegen ihren Mann und gegen all die Männer aus, die sie
unglücklich gemacht hätten. Dann wieder sang sie schmutzige Lieder oder
rief nach Wein oder Schnaps. Heute früh war sie kurze Zeit bei
Besinnung, und da bat sie, ich möchte Sie doch sofort holen.“
„Selbstverständlich gehe ich sogleich mit; und Du, lieber Friedrich,
begleitest mich gewiß.“
Unterwegs erzählte dann die Schwester alles Nähere. Die arme Frau war
durch und durch krank. Das wüste Leben hatte sie bis ins Mark
durchseucht, sodaß sie in die Spezialabteilung gebracht werden mußte, in
welcher sich der Abschaum des weiblichen Geschlechts zusammenfindet.
Nun waren sie im Krankenhaus. Toni klopfte das Herz zum Zerspringen. Da
kam die aufsichtführende Schwester und sagte: „Es ist zu spät! Schwester
Adele war eben gerade fortgegangen, da brach das Delirium wieder aus,
schlimmer als vorher; dazu kam ein Blutsturz, und sie war hinüber. Sie
ist schon in der Leichenhalle. Möchten Sie sie sehen?“ „Ja, ich will sie
noch einmal sehen!“
Bald darauf standen sie an dem provisorischen Sarg, und beide schauten
tief ergriffen in das blasse Leichengesicht. Schluchzend rief Frau
Braun: „O Else, Else, hättest du doch gehört! Gott sei deiner Seele
gnädig!“ –
Tief bewegt gingen beide heim. Wo war jetzt Elses Seele? Sie schöpften
eine schwache Hoffnung aus dem sehnsüchtigen Verlangen der Kranken, daß
sie, Toni, kommen sollte; aber daraus ließ sich doch kein sicherer
Schluß ziehen. Es ist immer erschütternd, an einem Sarg zu stehen, ohne
die tröstliche Gewißheit zu haben, daß der Tote im festen Glauben an den
Heiland Jesus Christus hinübergegangen ist.