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author: Dora Rappard
generator: pandoc
title: Lichte Spuren
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Vorbemerkung {#vorbemerkung .unnumbered}
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Das Manuskript zu vorliegenden Blättern war eben in die Hände des Herrn
Verlegers gelangt, als der gewaltige Ruf: „Krieg!“ durch die Lande
erscholl und alle anderen Gedanken in den Hintergrund bannte. Auch unser
Manuskript wurde auf die Seite gelegt und sollte in der Stahlkammer des
Verlagshauses aufbewahrt werden, bis der Sturm vorübergezogen wäre.
Nun aber ist gerade in dieser Zeit mancherorts das Verlangen laut
geworden nach Büchern, die sich zum Vorlesen in Arbeitsvereinen oder an
Krankenbetten eignen würden, und Freunde, die den Inhalt dieser Blätter
kannten, rieten warm zur Veröffentlichung. Das machte den Verlegern Mut,
trotz der schweren Zeiten den Druck zu wagen, in der Hoffnung, dadurch
ein wenig Freude und Segen ausstreuen zu helfen.
Der Inhalt des Buches scheint zwar wenig zu passen zu der großen Zeit,
in der wir leben. Es erzählt von kleinen, einfachen, meist verborgenen
Dingen. Aber vielleicht können gerade solche schlichten Züge dem Gemüte
wohltun, das durch die ständige Spannung und Erwartung großer Ereignisse
beunruhigt und leidend ist.
Ein Reisender sah unlängst auf einem der großen verlassenen
Schlachtfelder Frankreichs, mitten unter frischen Grabhügeln und
zerstampften Feldern, einige einsam blühende Herbstzeitlosen. Sie kamen
ihm so lieblich vor, daß er sie mitnahm und den Seinen zusandte.
Vielleicht findet der Leser in nachstehenden einfachen Erzählungen auch
solch ein Blümchen, das ihn erquickt und ihm Glauben, Liebe und Hoffnung
stärkt.
Der internationale Zug. der in manchen Abschnitten zutage tritt, wird
jetzt, da die Völker so schroff einander gegenüberstehen, manchem Leser
nicht gefallen. Aber er gehört mit zu der Lebensführung der Verfasserin
und muß darin stehen bleiben. Gott gebe, daß bald die Kinder Gottes
aller Länder sich wieder einigen werden in der Liebe dessen, der uns
geliebt hat, da wir noch Feinde waren. Sein Reich ist nicht von dieser
Welt. Er ist übernational. Und bei aller glühenden Liebe für das
irdische Vaterland und trotz tiefer Empfindung dessen, was ungerecht und
böse ist, weist doch der Erlöste, der ein Tempel des Heiligen Geistes
geworden ist, alles ab, was Haß und Rachsucht heißt. Der Herr ist unser
Richter; der Herr ist unser Meister; der Herr ist unser König: er hilft
uns.
So möge denn dies schlichte Buch einen Hauch des Friedens bringen in die
Kreise derer, die es lesen, und ihre Herzen emporziehen zu dem Einen,
der unser Friede ist.
St. Chrischona bei Basel, im November 1914.
Zum sechstenmal zieht dies gesegnete Buch aus. Die es einst geschrieben,
weilt nicht mehr auf Erden. Unsere teure Mutter ist am 10. Oktober 1923
selig heimgegangen zu dem Gott ihrer Väter und hat wie jene eine lichte
Spur hinterlassen. Nun redet sie noch, wiewohl sie gestorben ist, und
des Herrn Segen wird auch auf dieser neuen Ausgabe ruhen.
St. Chrischona, im Oktober 1927.
Lichte Spuren zum Eingang
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„Erzählen, erzählen! Bitte erzählen!“ Leuchtende Augen sind auf mich
gerichtet, und helle Kinderstimmen rufen es mir zu. — „Was soll ich denn
erzählen?“ — „Aus deinem Leben,“ ertönt die Antwort, „etwas, das du
selbst gesehen und gehört hast, etwas, das ganz wahr ist.“
Nicht die lieben Enkel allein sind es, die also mahnen. Es haben schon
viele andere, Kinder und Freunde, mich gebeten, Erinnerungen aus meinem
Leben aufzuzeichnen. Und wenn ich zurückdenke an all die Wunderwege, auf
denen mich mein Gott geführt hat durch ein langes, viel bewegtes Leben,
in verschiedenen Ländern und unter mancherlei Leuten und Verhältnissen,
so klingt es wohl auch in meinem eigenen Gemüt wie eine leise
Aufforderung: Sammle die übrigen Brocken von den vielen Wohltaten deines
Gottes! Was gilt’s, du kannst mehr denn zwölf Körbe damit füllen, und da
und dort mag ein Hungriger sich daran laben, und Gott kann dadurch
gepriesen werden.
Doch nicht meine eigenen Erlebnisse möchte ich in den Vordergrund
stellen, soviel Interessantes es zu erzählen gäbe. Auch innere
Erfahrungen und Erziehungswege meines Gottes möchte ich nur
andeutungsweise berühren. Ich liebe das Wort so sehr: Das Geheimnis des
Herrn ist bei denen, die ihn fürchten, und seinen Bund läßt er sie
wissen (Psalm 25, 4). Es kann alles zusammengefaßt werden in das eine
Bekenntnis: Mir ist Erbarmung widerfahren.
Wenn ich mich dennoch anschicke, etliche Erinnerungen aus meinem Leben
niederzuschreiben und zu veröffentlichen, so geschieht es, weil ich in
Herz und Gedächtnis und auch unter meinen Papieren manche Schätze
aufbewahrt habe, die ich gerne zunächst für meine Kinder und näheren
Freunde, aber auch für alle, die an Gottes stillem verborgenen Walten
eine Freude haben, nutzbar machen möchte.
Die Erinnerungen gruppieren sich um die Gestalten, die durch Gottes
gnädige Führung mein Leben zu dem gemacht haben, was es geworden ist.
Ich habe in meiner allernächsten Nähe viele edle Führer und gesegnete
Vorbilder gehabt. Sie haben lichte Spuren hinterlassen: denn sie waren
Kinder des Lichts. Nachfolger waren sie des großen Herrn, der
herabgestiegen ist zu uns aus seiner Herrlichkeit und hienieden
gewandelt hat in Armut und Selbstverleugnung, durch Versuchung und
Leiden. Er hat die Welt überwunden und hat uns Fußtapfen hinterlassen,
daß wir darinnen wandeln sollen. Ja, er hat noch viel mehr an uns getan.
Er hat uns durch seinen Tod das Leben gebracht und durch das Blut des
ewigen Bundes uns hineingezogen in die Gemeinschaft mit Gott. Er lebt,
und wir leben durch ihn. Er lebt für uns in der Herrlichkeit und in uns
durch seinen Heiligen Geist. Er greift ein in unser irdisches Leben und
leitet uns mit seiner Augen Licht.
Er geht voran\
Und bricht uns Bahn\
Und zeichnet alle Pfade\
Mit Spuren seiner Gnade!
Daß ich diese lichten Spuren so zu fassen gesucht habe, wie sie sich
gerade mir auf meinem Wege gezeigt haben, geschieht mit Rücksicht auf
den Wunsch, daß dies Büchlein Erinnerungen aus meinem Leben bringen
möchte.
Auch hoffe ich, daß dadurch die Gestalten der teuren Heimgegangenen sich
um so lichtvoller und lebendiger dem Leser darstellen werden. Es sind
freilich über manche Züge viele Jahre hingegangen, und die Zeit läßt mir
Wohl manches in verklärtem Lichte erscheinen. Das möchte ich um der
inneren Wahrhaftigkeit willen hervorheben: ebenso, daß ich die
vorkommenden Gespräche gewissenhaft dem Sinne nach wiedergegeben habe,
aber des genauen Wortlauts mich nicht immer erinnern konnte.
Man wolle mir nicht vorwerfen, daß ich in den Bildern, die mir
vorschwebten, fast nur die Lichtseiten hervorhebe. Ich kann tatsächlich
nicht anders. Gewiß waren die Männer und Frauen, von denen ich erzählen
will, sündige und fehlbare Menschen wie wir. Aber davon kann ich nicht
sprechen. Denn erstens weiß ich darüber allzuwenig, und zweitens ist
solches alles getilgt durch die reiche Gnade dessen, dem sie im Leben
und im Tod zu eigen angehörten und von dem es heißt: So wir im Lichte
wandeln, wie er im Lichte ist. so haben wir Gemeinschaft untereinander,
und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von allen
Sünden. Sie gehörten mit zu der Schar jener begnadigten Seelen, denen es
gegeben wird, sich anzutun mit reiner und weißer Leinwand und einzugehen
mit dem Bräutigam durch die Tore der hochgebauten Stadt.
Zum Verständnis des Zusammenhangs in nachfolgenden Blättern ist es doch
wohl nötig, kurz mitzuteilen, daß ich, als Tochter des nachmaligen
evangelischen Bischofs Samuel Gobat, auf der Insel Malta geboren wurde
und meine sonnige Jugendzeit in Jerusalem verbracht habe. Von dort aus
durfte ich mehrmals längere Aufenthalte machen in der Schweiz,
Deutschland und England, was für mein ganzes Leben eine Bereicherung und
ein Segen war. Vom Jahre 1867 an, da Gottes Hand mich mit seinem
Knechte, Carl Heinrich Rappard, verband, ist mein Lauf so mit dem
seinigen verschmolzen gewesen, daß ich nur auf das in der Buchhandlung
der Pilgermission zu Gießen erschienene Lebensbild C. H. Rappards zu
verweisen brauche. Seit dem Heimgang des geliebten Mannes darf ich nach
wie vor zu St. Chrischona, dem Orte, da ich mehr als vier Jahrzehnte
lang an seiner Seite gelebt und gearbeitet habe, im Hause meiner Kinder,
denen die Weiterführung des Werkes übertragen wurde, wohnen, dienen und
— warten.
Es ist mir ein herzliches Anliegen, daß diese Blätter nicht nur einer
flüchtigen Unterhaltung dienen möchten. Ich meine, das Leben und die
Erfahrungen der Kinder Gottes seien, ebensowohl wie erbauliche
Betrachtungen, geeignet, uns zu belehren, zu stärken und zu ermuntern.
Darum habe ich nicht gezögert, namentlich zu Anfang des Buches einige
Lebensskizzen mit ziemlicher Umständlichkeit zu zeichnen, auch auf die
Gefahr hin, älteren Lesern schon Bekanntes darzubieten. Den jüngeren
sollen die markigen, einfachen, glaubensstarken Gestalten unserer Väter
lebendig vor die Seele gemalt werden. Der Kampf, der ihrer wartet, wird
vielleicht noch heißer werden als zur Zeit der Alten. Da ist es gut,
gerüstet zu sein mit den erprobten Waffen, die unser Herzog selbst
seinen getreuen Streitern darbietet.
Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich hinaus in den
lichtglühenden Westen. Wolken, golden, violett und rot, lagern sich um
die scheidende Sonne. Wie ein schimmerndes Tor lassen sie durchblicken
in den klaren, Hellen Abendhimmel.
Aus dem nahen Gebüsch erhebt sich ein großer Vogel und schwebt mit
mächtigem Flügelschlag höher und höher dem Lichte zu. Vom dämmernden Tal
tönt ein Glöcklein ernst und feierlich herauf zu der stillen Bergeshöhe
. . . Nun erblaßt der wundervolle Glanz. Ein Sternlein funkelt hoch am
Himmelsdom. Bald ist es Nacht auf Erden. Aber er, der unser Licht und
unsere Sonne ist, bleibt unwandelbar derselbe, bei Tag und Nacht, in
Freud’ und Schmerz, im Leben und im Tod.
Großeltern Gobat
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Tief gebettet im romantischen Tal der Birs, an der Straße, die von Basel
direkt in die Westschweiz führt, liegt am Fuße hoher, majestätischer
Felsen die freundliche Ortschaft Moutier. Das Tal hat sich dort etwas
geweitet, um sich bald darauf in enger Schlucht aufwärts zu winden, der
Paßhöhe zu. In der Talsohle, zwischen den riesigen Felsmassen, ist meist
nur Platz für den Fluß, die Straße und den Schienenstrang. An manchen
Stellen hat letzterer überhaupt nicht Platz gefunden und mußte durch
ungezählte kürzere oder längere Tunnels gelegt werden, bis endlich in
großartigen Kurven die Bahn hinunterführt zu den blauen Wellen des
Bieler Sees. Es ist ein Teil des Berner Jura, den wir hier vor uns
haben. Trotz der schönen, saftigen Wiesen, die da und dort zwischen den
dunkelbewaldeten Bergen liegen, ist der Eindruck, den die ganze
Landschaft macht, ein ernster, stiller, wuchtiger. Er entspricht dem
Charakter der Bewohner. Man merkt es ihnen an, daß sie in der großen
Einsamkeit das Schweigen gelernt haben.
Von Moutier aus führt östlich ein liebliches Seitental dem schönen Berge
Weißenstein zu. Ein munterer Bach plätschert den Pfad entlang. Uralte
Arven beschatten ihn, und Vergißmeinnicht in Hülle und Fülle blühen an
seinem Rande. Nach etwa einstündigem Marsch erblickt man das Kirchlein
von Grandval, im Schatten mächtiger Linden. Unter diesen Linden hat der
Reformator Farel einst die Botschaft von der Rechtfertigung durch den
Glauben den ernsten Tal-bewohnern verkündigt, die so zahlreich
herzuströmten, daß das Gotteshaus sie nicht zu fassen vermochte. Mehrere
Filialdörfer gehören zu der Parochie; eines derselben ist Cremines.
Dort lebte zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein
gottesfürchtiges Ehepaar, David und Susanna Gobat, meine lieben
Großeltern. Seit Jahrhunderten ist das Geschlecht der Gobats in jenem
Dorf ansässig gewesen. Es hatte in vergangenen Zeiten eines gewissen
Ansehens nicht ermangelt. Tüchtige Juristen, Lehrer und Mediziner waren
daraus hervorgegangen. Dennoch war der Hauptstamm der Familie der
Landwirtschaft treu geblieben. Auch David Gobat war von Herzen ein
Landmann, der seinen Beruf hochhielt. Daneben machte er sich verdient um
das damals sehr mangelhaft organisierte Unterrichtswesen in der
Gemeinde, und seine milde und doch feste Art stempelte ihn zu einem der
geschätztesten Bürger.
Es war eine ernste Zeit, in der David Gobat im Jahre 1794 seinen
Hausstand gründete. Revolutionäre Ideen lagen in der Luft und hatten,
von Frankreich kommend, auch die Schweiz ergriffen. Im heutigen Berner
Jura, der damals zum Bistum Basel gehörte, gärte es gewaltig. Die
Revolutionäre suchten die stillen Talbewohner gegen die Herrschaft des
Fürstbischofs aufzuwiegeln. Im Jahre 1792 wurden etliche Männer, unter
ihnen David Gobat, nach der Stadt Bern delegiert, um zur Wahrung ihrer
Neutralität den Schutz der Herren zu erbitten. Sie fanden kein
Verständnis. Man suchte sie zuerst durch Drohungen, dann durch
Schmeicheleien für die Umsturzideen zu gewinnen. „Der Fürstbischof ist
unermeßlich reich.“ sagte man ihnen. „Ist er vertrieben, so werden seine
Güter unter seine Untertanen verteilt. Es kann euch nicht fehlen, wenn
ihr euch zu uns tut.“ Diese Vorspiegelungen ließen die ehrlichen Männer
kühl. „Wir sind noch nie gewohnt gewesen, so reich zu sein!“ erwiderten
sie.
Im selben Jahre noch wurde der Fürstbischof vertrieben.
Das Ende der Kämpfe war, daß Frankreich dieses Stückchen Schweiz selbst
annektierte und eine Reihe von Jahren unter seiner Oberherrschaft
behielt, bis endlich, als die napoleonischen Stürme im Jahre 1815
glücklich überwunden waren, das Gebiet dem Kanton Bern bleibend
einverleibt und fortan als Berner Jura bekannt wurde.
Durch all diese Umwälzungen hatte der Wohlstand der Familie Gobat sehr
gelitten. Aber innerlich waren die frommen, gottesfürchtigen Eltern
gefördert und befestigt worden. Nach dem Erdbeben, dem Feuer und dem
Sturm der Revolution war ein sanftes, stilles Säuseln gekommen. Gottes
Winde wehten durch die Lande, und auch die Juratäler bekamen Anteil an
dem Segen. Herr Ami Bost, noch in jungen Jahren stehend, aber schon ein
gewaltiger Verkündiger des Evangeliums, kam im Jahre 1816 als
Pfarrgehilfe nach Moutier und brachte die zündende Fackel neuen Lebens
mit.
Er predigte in Beweisung des Geistes und der Kraft und durfte viele
Seelen für den Herrn gewinnen. Dürstende Herzen, die schon lange nach
Gott gesucht hatten, lernten den Weg des Friedens kennen, den Weg, der
über Golgatha geht.
Auch David und Susanna wurden reich gesegnet. Und doch fühlten sie, daß
in ihrem Leben etwas nicht ganz in Ordnung war. Es waren in der
bedrängten Zeit Schulden, viele Schulden gemacht worden. Das drückte
ihre Seelen nieder. Sie vernahmen innerlich das Heilandswort: Trachtet
am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird
euch solches alles (was zum irdischen Leben nötig ist) zufallen. Und
jener apostolische Befehl drang mit Macht an ihr Ohr: Seid niemand
nichts schuldig, denn daß ihr euch untereinander liebet. Im Gehorsam
gegen dies Wort und im Glauben an Gottes Fürsorge beschlossen sie von
ihren Ackern soviel zu verkaufen, bis sie den übrigen Teil völlig
schuldenfrei besäßen. Sie mußten die Güter allerdings zu geringem Preise
hergeben in jener schweren Zeit, aber der innere Friede, der ihnen
zuteil wurde, war ein reichlicher Ersatz.
Von da an war es, als ob ein ganz neuer Segen auf dem Hause ruhe, auch
auf den landwirtschaftlichen Unternehmungen. Gott machte seine
Verheißung wahr. Der allergrößte Segen aber war der, daß in den zwei
folgenden Jahren die vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter, eine
klare, freudige Bekehrung erlebten und nun mit den Eltern als eine
„kleine, reine Hausgemeine“ Gott, ihrem Heiland, dienten.
Von zwei dieser Kinder. Samuel, meinem geliebten Vater, und Sophie,
meiner ehrwürdigen Tante, wird in diesen Blättern noch eingehend die
Rede sein. Aber auch David, der älteste Sohn, wurde ein gesegnetes
Werkzeug in Gottes Hand. Als Lehrer und Versammlungshalter hat er viele
Jahre hindurch in seiner Heimatgemeinde den Samen des Wortes ausgestreut
und Segensfrüchte geerntet. Henriette, die jüngste Schwester, starb
früh, als sie eben im Begriff war, sich dem Beruf als Krankenpflegerin
zu widmen. Von ihr ist ein schönes Erlebnis im nächsten Familienkreise
bekannt geworden und ist des Festhaltens wert.
Das schöne, blühende Mädchen mußte eines Tages einen Gang machen, der
sie durch einen einsamen Wald führte. Da wurde sie von einer eleganten
Kalesche eingeholt, aus der ein junger Herr stieg und sich ihr nahte. Er
sprach viele schmeichelhafte Worte, ließ seinen Wagen weiterfahren und
ging ein Weilchen neben ihr her. Dem armen Kinde wurde es bang zumut,
und sie schaute sich um, wie sie entkommen könnte. Da fing der Fremde
an, Worte der Liebe ihr zuzuflüstern. Schnell riß sich das Mädchen los
und sagte mit gehobener Stimme: „Lassen Sie mich gehen: ich bin schon
verlobt!“ — „Ei was?“ sagte der Fremde in höhnischem Ton, „und wer mag
denn der Glückliche sein, der Sie gewonnen hat?“ — „Es ist mein Herr
Jesus Christus,“ sagte Henriette; „er ist mein, und ich bin sein in
Ewigkeit.“
Ohne ein weiteres Wort zu reden, schlich der Versucher davon. Das Herz
der Jungfrau klopfte noch ungestüm wegen der ausgestandenen Angst, als
sie das Elternhaus erreichte und der Mutter alles erzählte. Aber sie war
gestärkt durch das Bewußtsein, daß ihr himmlischer Freund ihr sehr nahe
war. Sie hatte die Erhörung des Gebets erfahren:
Schenke, Herr, auf meine Bitte\
Mir ein göttliches Gemüte,\
Einen königlichen Geist,\
Mich als dir verlobt zu tragen,\
Allem freudig abzusagen,\
Was nur Welt und sündig heißt.
Doch wir kehren zu den Großeltern zurück. Von dem Vater rühmen die
Kinder seine große Treue und sein Festhalten an Gottes Wort. Täglich
hielt er eine Hausandacht, und auch im Hochsommer, wenn man früh morgens
um vier Uhr aufs Feld gehen mußte, las er vorher mit den Seinen ein
Gotteswort und beugte mit ihnen die Knie.
Es sind aber insonderheit von der glaubensstarken und reichbegabten
Mutter des Hauses schöne Erinnerungen aufbewahrt worden. Wenn auch sie
lichte Spuren in mein Leben hineingetragen hat, so ist es nicht
unmittelbar geschehen; denn sie starb, ehe ich geboren wurde. Aber durch
meinen Vater habe ich viel Köstliches über sie erfahren. Er sprach gern
und viel von ihr, mit der besonders zarten Stimme, die starken Männern
eignet, wenn sie von etwas reden, was sie tief berührt. So weiß ich, daß
sie trotz der kostbaren Erfahrungen, die sie in der obenerwähnten
Erweckungszeit gemacht hatte, noch lange etwas Ängstliches und
Unsicheres in ihrem Herzen barg. Da wurde sie eines Tages zu einer
kranken Frau gerufen, die nicht nur an körperlichen Schmerzen, sondern
auch an seelischen Nöten litt. Mit dem Körbchen am Arm, in dem sie der
Kranken leibliche Erfrischungen bringen wollte, schritt sie langsam dem
Hause zu, innerlich überlegend, was sie der in Sündennot schmachtenden
Seele sagen wollte. Worte der Heiligen Schrift, die von Gottes
unendlicher Liebe und des Heilands unbegrenzter Gnade erzählen, fielen
ihr mit besonderer Klarheit ein. Plötzlich fragte sie sich: „Ja, wenn
das alles so ist, wie du es jetzt sagen willst, warum nimmst du es denn
nicht gerade ebenso buchstäblich für dich?“ Ihre Hand war schon an dem
Klopfer der Haustür, zu der sie eingehen wollte, als ihre Seele
innerlich jauchzend rief: „Ja, Herr, das ist alles auch für mich. Ich
glaube. Ich fasse dich. Du kannst nicht trügen!“
Da hat sie wahrhaftig getrunken von dem Wasser des Lebens, und ihr
Dürsten wurde auf ewig gestillt.
Als ihr Sohn Samuel als Zögling in das Missionshaus zu Basel eingetreten
war und etwa auch Besuche in anderen Städten, vornehmlich in Genf,
machte, da begab es sich von selbst, daß seine Freunde ihn wieder
besuchten, wenn er die Ferien im elterlichen Hause zubrachte. Es gab oft
ganz wunderschöne Zusammenkünfte in der von außen so schmucklosen,
innerlich aber wohnlichen und geräumigen Hütte. Studenten der Theologie
aus Genf und Missionszöglinge aus Basel kamen da zusammen. Man machte
Spaziergänge auf die schönen Berge Raimeux und Weißenstein oder besuchte
zerstreut wohnende Geschwister. Abends betrachtete man gemeinsam das
Wort Gottes; man sang, betete und tauschte Erfahrungen aus. Felix Naes,
der später so reich gesegnete Evangelist und Pastor der Dauphiné in
Frankreich, war auch einmal unter den Besuchern des Kreises in Crémines.
Die Eltern Gobat nahmen an den Abendversammlungen teil und freuten sich
all des neu erwachten geistlichen Lebens. Eines Abends war ein besonders
anregendes Thema verhandelt worden, und die anwesenden Jünglinge wurden
aufgefordert, ihre Bekehrungsgeschichte zu erzählen. Sie taten es meist
in schlichter, herzlicher Weise. Einer aber sprach mit hinreißenden
Worten und feurigen Gebärden und erzählte, wohl nicht ohne
Selbstgefälligkeit, was er erlebt und erfahren habe. Als er schwieg,
blieb alles still. Endlich sagte Mutter Gobat in ihrer ernsten, klaren
Weise: „Das ist eine seltsame Bekehrungsgeschichte, wenn es überhaupt
eine Bekehrung ist.“
Das Wort traf wie ein Pfeil. Der Jüngling nahm es schweigend hin und zog
sich bald in seine Kammer zurück. Aber nicht um zu schlafen. Immer
wieder hörte er das Wort: „Wenn es eine Bekehrung ist.“ Es war nicht
leichthin oder lieblos gesprochen worden. Es trieb ihn ins Gebet. Es
brachte ihn zu den Füßen des Herzenskündigers, und dahin kommt keiner
vergebens. Der junge Student hat bald nachher der schlichten Frau von
ganzem Herzen dafür gedankt, daß sie ihm geholfen, den Schleier eines
eiteln, selbstbetrügerischen Wesens zu zerreißen und ihn zu dem
getrieben, der an den Seinen gründliche Arbeit tut.
Für junge Leute hatte Susanna eine große, man möchte fast sagen, eine
mitleidige Liebe, mitleidig nämlich, wenn sie merkte, daß sie ohne Gott
und Führer durch das Leben gingen. So blieb sie einst stehen bei einer
Gruppe junger Burschen ihres Dorfes, die vor einem Wirtshaus in wüster,
ausgelassener Weise Kegel spielten. «Wer gewinnt, und wer verliert?“
fragte sie. Und auf erhaltene Antwort setzte sie hinzu: „Ach, ihr lieben
Jungen, ich fürchte, wer gewinnt, der gewinnt die Hölle, und wer
verliert, der verliert seine Seele.“ Welchen Eindruck diese Worte
machten, weiß ich nicht. Aber es muß wohl einer der Zuhörer sie meinem
Vater mitgeteilt haben, sonst hätte er sie nicht weitergeben können.
Die Anwesenheit ihres Sohnes in Basel brachte die Eltern auch in
Berührung mit der Missionsgemeinde dort. Namentlich waren es die schönen
Missionsfeste im Sommer, die sie anzogen. So oft sie sich immer
losmachen konnten, gingen sie dahin und munterten auch andere auf,
mitzukommen. Die Reise machte man natürlich zu Fuß, und die Schluchten
des Birstales hallten wider von den Gesängen dieser Zionspilger. Es war
damals Frühlingszeit in der Mission, und mit Begeisterung schlugen die
Herzen für die heilige Sache. Lieb vor allen waren den Festgästen vom
Jura die Morgenversammlungen, früh um sechs Uhr, in den dazu zur
Verfügung gestellten Gärten. Da fühlte man so recht etwas von der
Gemeinschaft der Heiligen und holte stille Weihe für die Stunden des
ganzen Tages.
David und Susanna erlebten die große Freude, ihren Samuel im Jahre 1826
als Missionar nach Abessinien ziehen zu sehen, und durften bei seiner
ersten Rückkehr, 1833, lobenden Herzens vernehmen, wie große Dinge Gott
durch ihn dort getan hatte. Auch bei der zweiten Rückkehr, 1837, durfte
er mit den Seinen nach all den großen, schweren Leiden, von denen in
späteren Abschnitten noch die Rede sein wird, im heimatlichen Cré-mines
mit den teuren Eltern vereint werden. Aber noch in demselben Jahre kam
ein Abschied, auf den das Wiedersehen erst droben folgt bei dem Herrn.
Die Mutter war’s, diese starke, priesterliche Seele, die abberufen
wurde. „Alle ihre Freunde,“ so schreibt mein Vater, „hatten erwartet,
daß sie triumphierend sterben würde. Aber das war nicht der Fall. Sie
wurde von einer höchst schmerzlichen Krankheit, Miserere
(Darmverschlingung) genannt, befallen. Sie trug die Schmerzen mit
Geduld, sagte aber oft: »Ich kann an nichts denken und kann nichts
fühlen als die fürchterlichen Schmerzen. Aber ich weiß, an wen ich
geglaubt habe, und bin sicher geborgen in seiner Hand, bis er mich zu
sich nimmt. „Beim Gedenken an meine Mutter,“ so fährt er fort, „kann ich
mich nur freuen, daß Gott sie zu sich genommen hat aus einer Welt, die
ihr schon lange fremd geworden war. Sie hatte in den letzten neunzehn
Jahren ihren Wandel im Himmel gehabt und lebte in beinahe
ununterbrochener Gemeinschaft mit ihrem Gott und Heiland.“
Von seinem Vater kann der Sohn bezeugen: „Er war stets sehr demütig und
schweigsam gewesen und hielt andere für besser als sich selbst, hat auch
selten von seinen Erfahrungen gesprochen. Aber in den zwölf Jahren, die
er nach meiner Mutter Tod noch zu leben hatte, zeigte er solch warme
Liebe, solche Glaubenstätigkeit und soviel Takt im Zeugnis für Christum,
daß man sah, wie sein Herz jahrelang eine Fülle göttlicher Gnade
aufgenommen hatte.“
Als neuernannter Bischof von Jerusalem eilte Samuel, 1846, noch einmal
zu seinem hochbetagten Vater nach Crémines. Er kam unmittelbar von dem
Schlosse Sanssouci, wo er als Gast Friedrich Wilhelms IV. von Preußen
einige Tage geweilt hatte, und fühlte sich, wie er dem Vater fröhlich
sagte, gerade ebenso Wohl auf der „Kunst“ (Ofenbank) der schlichten
Jurahütte wie auf dem Sofa des königlichen Schlosses. Es muß schön
gewesen sein, David Gobat mit seinen beiden Söhnen, drei hohe, mächtige
Gestalten, zu sehen, wie sie über der Heiligen Schrift gebeugt
beieinander saßen oder auf den Knien lagen im Gebet. Der vierte im Bunde
war der Pfarrer von Grandval, H. Gagnebin. der mit Samuel in inniger
Liebe verbunden war. „Wir erquickten uns in Gebet und Danksagung,“
schreibt mein Vater, „wodurch uns der Abschied nicht nur leicht, sondern
freudig wurde in der seligen Hoffnung, uns mit meiner vorausgegangenen
Mutter vor dem Throne Gottes wieder zusammen zu finden.“
Es war das letzte Beisammensein auf Erden. Im Dezember 1849 ging Vater
Gobat ein in die Ruhe des Volkes Gottes.
Ich kann mir nicht versagen, den Wunsch zu äußern, daß doch auch heute
noch in unsern Dörfern landauf, landab manche solcher Friedensstätten
gesunden werden möchten, wo man in Einfalt und Wahrheit Gott dient und
seines Kommens wartet!
Großeltern Zeller
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Da, wo der Rheinstrom seine raschen Wellen zum Abschied aus seinem
schönen Geburtsland, der Schweiz, den deutschen Gauen zutreibt, liegt,
vier Stunden oberhalb Basel, das alte Schloß Beuggen. Einst der stolze
Besitz des halb klösterlichen, halb kriegerischen Deutschritterordens,
wurde es nach dessen Aufhebung im Jahre 1805 während der
Befreiungskriege als Lazarett verwendet und war der Schauplatz
unbeschreiblichen Elends und grauenhaften Sterbens. Verwüstung und Moder
blieben zurück.
Aber die Liebe vermochte dieses Feld des Todes in einen Garten des
Lebens umzuwandeln. Im Jahre 1820 wurde in diesen Räumen eine
segensreiche Anstalt gegründet, die den doppelten Zweck hatte:
christliche Volksschullehrer auszubilden und armen verwaisten oder
verwahrlosten Kindern eine Heimat und sorgfältige Erziehung zu bieten.
Der Mitbegründer und erste Inspektor dieser Anstalt war Christian
Heinrich Zeller, mein teurer, verehrter Großvater. Im genannten Jahre
zog er mit seiner lieben Gattin und fünf Kindern, von denen mein
geliebtes Mütterlein das zweitälteste war, dort ein, und Beuggen wurde
das Heim nicht nur der Großeltern und der ihnen anvertrauten
Hausgemeinde, sondern auch der ganzen Schar von Zellerkindern
und -enkeln, die dort ihren geistigen Mittelpunkt hatten und immer
herzlichen Empfang und reichen Segen fanden.
Mein Großvater war von Geburt ein Württem-berger, im Jahre 1779, als
Sohn des Hofrats Zeller, auf dem Schlosse Hohen-Entringen bei Tübingen
geboren. Eine eingehende Biographie, von Professor H. Thiersch verfaßt,
beschreibt sein tatenreiches und gesegnetes Leben. Auch von Mutter
Zeller ist von ihrem Sohne Reinhard ein liebliches Lebensbild
herausgegeben worden. Ich möchte daher hier nur die Hauptlinien ihrer
Laufbahn zeichnen und einige Züge hervorheben, die, wie ich im Eingang
sagte, mir Wegweiser zum Lichte geworden sind.
Dem väterlichen Willen folgend, hatte Christian Heinrich Jurisprudenz
studiert und seine Examina absolviert. Allein sein ganzes Herz zog ihn
zu der Kinderwelt. Er wollte Lehrer und Erzieher werden. Und der Herr,
den er zwar nur unvollkommen kannte, aber in Aufrichtigkeit suchte,
ebnete ihm dazu die Wege. Seltsamerweise lebte der gleiche Zug zur
Pädagogik auch im Herzen seines älteren Bruders Karl August. Auch ihm
wurde der Wunsch erfüllt. Für beide wurde eine Begegnung mit Pestalozzi
von Bedeutung. Nach außen allerdings gingen die Wege der Brüder weit
auseinander. Karl August wurde, nachdem er verschiedene Stellen
bekleidet hatte, von der preußischen Regierung nach Königsberg berufen
und war mehrere Jahre lang Erzieher des kleinen Prinzen Wilhelm, der
hernachmals der große Kaiser Wilhelm I. geworden ist. Es existieren noch
allerliebste Briefe, die der Prinz seinem lieben „Vater Zeller“
geschrieben hat. Die edle Königin Louise war dem Erzieher ihres Sohnes
sehr gewogen.
Christian Heinrich kam in die Schweiz, zuerst als Hauslehrer in eine
vornehme Familie von St. Gallen, dann nach Zofingen im Aargau, als
Direktor der dortigen Schulen, und endlich nach Beuggen als Erzieher und
Vater der Armen. Dort hat ihn sein Bruder Karl August, der preußische
Schulrat, der inzwischen mit Ehren und Würden in die Württembergische
Heimat zurückgekehrt war, nach vielen Jahren, 1838, zum erstenmal
besucht. Er blieb nur einmal über Nacht. Die Brüder, die sich schon
solange nicht gesehen hatten, redeten zusammen bis Mitternacht. Heinrich
erzählte viel von seinen Erlebnissen und bezeugte seinen Glauben. Karl
August wünschte alle Jahresberichte von Beuggen zu lesen vom Jahre 1820
an, und nahm sie mit in sein Schlafzimmer. Er fing an zu lesen und
konnte nicht aufhören, bis er damit zu Ende war. Unterdessen war es Tag
geworden. Bei der Morgenbegrüßung rief er seinem Bruder zu: „O Heinrich,
du bist glücklicher als ich!“ (C. H. Zellers Leben S. 317.)
Ja, glücklich war man in Beuggen, das fühlten auch wir Enkelkinder, wenn
wir zu Besuch dort weilten. Es war ein Glück, gepaart mit Zucht und
Fleiß, Gottesfurcht und Liebe. Es ist köstlich, zu erfahren, wie
Großvater zum Besitz solchen Glückes kam. Denn:
Es kann nichts Schön’res geben\
Als Jesu Wundertat,\
Wenn er ein neues Leben\
Gewirkt durch seine Gnad’.
Als er, wie oben erwähnt, nach Zofingen kam, stand er im dreißigsten
Lebensjahre. Im Rationalismus erzogen, war er der inneren Gemeinschaft
mit Gott fern; aber in seinem Herzen wohnte ein tiefes Verlangen nach
Wahrheit, Vollkommenheit und Frieden. Im hohen Alter schrieb er in
Erinnerung an jene Zeit: „Ich kenne einen Menschen, der jetzt noch lebt,
der mit solcher Sehnsucht die Wahrheit suchte, daß er betete: »Herr, laß
mich die Wahrheit finden, oder ich kann nicht leben!«“
In Zofingen lernte ich seine Gattin, Sophie geb. Siegfried, kennen und
gründete mit ihr seinen Hausstand. Sie war als Tochter des Pfarrers
Siegmund Friedrich Siegfried in Innertkirchen am Fuß des Grimselgebirges
geboren. Als zweijähriges Kind erfuhr sie eine seltsame Bewahrung. Sie
spielte in buntem Kleidchen auf der Wiese vor dem einsam stehenden
Pfarrhause, als man hoch in den Lüften einen mächtigen Lämmergeier
bemerkte, der, seine Kreise immer enger ziehend, sich langsam der Erde
näherte, um sich auf die erspähte holde Beute zu stürzen. Im rechten
Augenblick ergriff der Pfarrherr seine Flinte, und mit sicherer Hand
schoß er auf den gewaltigen Vogel, der sterbend neben das ahnungslose
Kind zu Boden sank. Zur Erinnerung an diese gnädige Errettung ließ der
glückliche Vater den Lämmergeier ausstopfen, der jetzt noch nach 120
Jahren in der Zellerschen Anstalt in Männedorf zu sehen ist.
Pfarrer Siegfried kam später in seine Heimat Zofingen zurück. Seine
Tochter wurde zur Lehrerin ausgebildet und wirkte als solche mit Erfolg,
auch noch mehrere Jahre nach ihrer Verheiratung mit dem Schuldirektor
Zeller.
Von diesem heißt es in der Biographie: „Seine christliche Erkenntnis
nahm hier von Jahr zu Jahr zu.“ Der Schlüssel zu dieser Tatsache ist in
einer kurzen Tagebuchnotiz vom Juli 1810 zu finden, wo es heißt:
„Entschluß, alle Tage in der Heiligen Schrift zu lesen.“ Zeller trat
auch in Verkehr mit christlichen Männern aus verschiedenen Kreisen, so
Spittler und Blumhardt in Basel, die damals eben an der Gründung der
Evangelischen Missionsgesellschaft arbeiteten.
Tiefen Eindruck machte auf ihn, den gelehrten, zum Forschen angelegten
Schuldirektor, die Bekanntschaft mit einem ganz einfachen Handwerker,
einem Manne, der nicht einmal lesen und schreiben konnte, dem
Schreinergesellen Immanuel Lüscher. Er hatte ihn als einen gewöhnlichen
Weltmenschen gekannt und war Zeuge einer wunderbaren Veränderung, die
mit ihm vorging. Verzweiflungsvolle Angst über seine Sünden hatte die
Seele des bis dahin ganz Gleichgültigen ergriffen. In seiner Not wendete
er sich an den Heiland und wurde in unmittelbarer Weise mit der
Gewißheit der Vergebung so getröstet und erfreut, daß sein Mund von
Loben und Danken überfloß. Zeller, in dessen Hause Lüscher Arbeiten
seines Berufs zu verfertigen hatte, erstaunte über diese Umwandlung. Es
entspann sich zwischen den beiden Männern ein vertraulicher Umgang: „O
Manuel,“ sagte Zeller einst, „ich habe meine Erkenntnis nur aus Büchern;
Ihr habt sie aus dem Geiste Gottes selbst.“
Das Morgenrot war angebrochen in der Seele des nach Gott Suchenden: bald
sollte die Sonne selbst aufgehen und mit ihrer Klarheit alle Nebel
vertreiben.
Im einundachtzigsten Lebensjahre schreibt Zeller über jene Stunde,
Karfreitag 1818:
«Unbeschreiblich war der Eindruck, den der Hausvater (er selbst) bei dem
Lesen der Karfreitagspredigt in seinem Herzen empfing, und als er
schloß, bekam er eine solche Gewißheit der vollkommenen Versöhnung und
Vergebung aller seiner Sünden, daß er aufstand, seine Hände mit
freudigem Erstaunen zusammenschlug und in ein lautes Loben und Danken
ausbrach.“ Seine Gattin wußte nicht, was mit ihm war, als er mehrmals
mit Tränen ausrief: «Mein Herr und mein Gott, ist es möglich, ist es
möglich?“ Was ihn damals besonders mächtig ergriff, war das Leiden
Christi in Gethsemane. Er bekam einen erleuchteten Blick in das
Geheimnis der Gottheit Christi und zugleich in das Geheimnis der
Versöhnung.
Es ging in jener Stunde eine Lebenstat aus von Christus, der zur Rechten
Gottes erhöht ist. Es gibt wunderbare Wirkungen des Herrn und seines
Geistes auch zu dieser Zeit. Wer eine solche erlebt hat, dem ist sie
sicherer als das eigene Dasein. (Zellers Leben S. 140, 141.)
Mit der neuen Lebensgnade, die Zeller zuteil geworden war, kam auch eine
neue Ausgabe. Schon etliche Jahre zuvor war es ihm aufs Herz gefallen,
daß etwas getan werden sollte zur Hebung des Unterrichts in den
Volksschulen, besonders auf dem Lande. In einer denkwürdigen
Unterredung, die er eines Tages mit Spittler auf der Pfalz des Münsters
zu Basel pflog, waren die Freunde übereingekommen, es sei eine Anstalt
zu gründen zur Ausbildung von Armen-Schul-lehrern, die um Jesu willen
gern zu den Geringsten und Bedürftigsten gehen würden. Es wurden auch
Schritte getan zur Verwirklichung dieses Planes.
Aber nun wurde die Frage noch ernster, noch persönlicher. Nun hieß es
nicht mehr: Willst du etwas dafür tun? Willst du geben? Willst du
helfen?, sondern: Willst du dich selbst dafür geben? Willst du selbst
gehen? Er gewann Zuversicht zu einem freudigen: Ja. Er, der
Freigemachte, war ein seliger leibeigener Knecht Jesu geworden. Nach
außen schien es lauter Verlust, die gesicherte und geachtete Stellung in
Zofingen zu vertauschen mit einem Leben in Armut und Selbstverleugnung.
Aber das konnte ihn nicht zurückhalten. Auch die Sorge um seine Familie
sollte ihn nicht binden. „Meine Witwenkasse ist das Himmelreich,“
schrieb er an Spittler.
So wurde denn die Anstalt in Beuggen eröffnet. «Nimm hin dies Kindlein
und pflege mir’s; ich will dir’s lohnen!“ Dies stand nicht nur in
schlichten Buchstaben über der Tür der großelterlichen Wohnung, sondern
es war der Inbegriff und die Freude ihres Lebens.
Mit großer Dankbarkeit denke ich zurück an so manche in Beuggen
verlebten Tage meiner Jugend. Das alte Schloß mit seinen vom Rheine
umspülten Mauern, der weite Schloßhof mit seinen vielen größeren und
kleineren Gebäulichkeiten, der große Garten mit seiner prächtigen
Lindenallee, das alles bot dem Kindesgemüt viel Interessantes und
Genußreiches. Aber bald lernten wir etwas anderes noch weit höher
schätzen. Großvaters Predigten und noch mehr seine Kinderlehren waren
köstlich. Nirgends konnte sein herrliches Lied: „Treuer Heiland, wir
sind hier“ harmonischer wirken und besser verstanden werden als dort in
dem alten, schlichten Lehrsaal:
Von dir lernen möchten wir\
Deiner Sanftmut Milde;\
Möchten ähnlich werden dir,\
Deinem Demutsbilde,\
Deiner stillen Tätigkeit,\
Deiner armen Niedrigkeit,\
Deines Wohltuns Milde.
Und wenn dann der Gottesdienst zu Ende war und der alte Inspektor, zwei
der kleinsten Kinder an der Hand führend, heraustrat und die
Hausgemeinde unter dem Gesang des Liedes: „Die Gnade sei mit allen“ ihm
folgte, so war das so schön und ergreifend, daß mein inneres Ohr heute
noch, nach fast sechzig Jahren, es hört und sich daran erlabt. Man sang
überhaupt viel in Beuggen. Frühmorgens wurde man durch den ernsten
Brüderchorgesang geweckt. Man sang meist vor Tisch und nach Tisch. Man
sang bei den Andachten, oft auch bei der Arbeit. Und singend zogen die
siebenzig Kinder des Abends die hohen Treppen hinauf in ihre
Schlafräume. Einen solchen Abendgesang schildern folgende Strophen, die
allerdings späteren Datums sind:
Das Amen ist verklungen,\
Und durch die hohen Hallen\
Hör’ ich es laut erschallen,\
Von Kindermund gesungen:\
So nimm denn meine Hände\
Und führe mich!
Von oben tönt’s hernieder,\
Was still das Herz beweget,\
Eh’ man zur Ruh’ sich leget,\
Und unten hallt es Wider:\
Bis an mein selig Ende Und ewiglich.
Mir ist, als ob ich träume.\
Es zieht bald laut, bald leise\
Die eine sanfte Weise\
Hin durch die weiten Räume: Ich kann allein nicht gehen,\
Nicht einen Schritt.
O selig Haus, da klinget\
In heil’ger Abendstunde\
Solch Lied aus Herz und Munde,\
Bis es gen Himmel dringet:\
Wo du wirst gehn und stehen,\
Da nimm mich mit!
(E. D.-R.)
In aller seiner Arbeit war Zeller kräftig unterstützt von seiner Gattin.
„Was ich lehre, das lebt sie,“ konnte er von ihr in Wahrheit sagen.
Neben dem großen Haushalt, dem sie in allen Gebieten mit Treue, Umsicht
und unermüdlichem Fleiß vorstand, hatte sie noch ihre eigene
Kinderschar, vier Söhne und sieben Töchter, zu Pflegen und zu erziehen.
Ein Söhnlein starb im zarten Säuglingsalter; zehn Kinder wuchsen auf zu
der Eltern großen Freude. Etwas herb und streng soll die Erziehung,
namentlich von väterlicher Seite, oft gewesen sein, aber es ist „gut
herausgekommen“.
„Mutter Zeller ist die niederträchtigste Frau, die ich je gesehen habe,“
sagte einmal ein Nachbar, und wollte damit ihre Demut rühmen, im
Einklang mit dem apostolischen Wort: Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen.
Aus dem Munde eines ehrwürdigen Schullehrers hörte ich vor Jahren
folgende Erzählung:
»Als armes, heimatloses Kind kam ich erstmals nach Beuggen. Man hatte
mir gesagt, hier in dem großen Hause bekomme man zu essen. Ich trat ein
und blieb neben der Haustür stehen. Viele Leute kamen und gingen,
treppauf, treppab. Einige schauten mich an und gingen dann weiter. Da
kam eine Frau herunter. Sie hatte gar freundliche Augen und ein liebes
Gesicht. Sie kam auf mich zu und fragte: »Bübli, gelt, du hättest gern
etwas Warmes zu essen?« Sie nahm mich mit in das Stübchen hinter der
Küche und gab mir herrliche warme Milch zu trinken. Ich dachte bei mir
selbst: O, könntest du doch immer bei der gütigen Frau bleiben! — Und
was ich wünschte, ist mir geworden. Ich durfte bleiben, zuerst als »Bub«
(Schüler des Rettungshauses) und später als »Bruder« (Zögling des
Seminars), und so bin ich zum Lehrer und in dem lieben Dienst sehr
glücklich geworden. Und alles verdanke ich nächst Gott der Frau mit den
freundlichen Augen.“
Sie hatte aber auch gar so liebe, weiche, braune Augen, die teure
Großmama, und dazu über der hohen Stirn so nettes, welliges Haar, das
kein Bürsten glatt streichen konnte, so sehr sie es versuchte. Ihre
Kinder und Kindeskinder hingen an ihr mit großer Liebe. Auch den
Großvater liebten wir sehr. Aus der Pension in Montmirail, wohin ich als
zehnjähriges Kind mit meiner lieben älteren Schwester gekommen war,
durften wir häufig in den Ferien zu den Großeltern gehen. Es war damals
eine lange Reise, die eine ganze Nacht in der Postkutsche erforderte. So
kamen wir auch einmal etwas unerwartet in Beuggen an, hatten den Tag
gemeldet, aber die Stunde nicht angeben können. Wir stürmten die zwei
hohen Treppen hinauf, um zu den Großeltern zu gelangen. Oben angekommen,
sahen wir die große Flügeltür von Großvaters Studierzimmer offen, aber
ihn fanden wir nicht. Wir liefen durch das Zimmer in den dahinter
liegenden Rittersaal (aus dem jetzt mehrere Zimmer gemacht sind). Alles
war leer. Da, als wir enttäuscht den Rückzug antreten wollten,
entdeckten wir hinter dem breiten zurückgeschlagenen Türflügel den
lieben Großpapa, der über sein wohlgelungenes Versteckspiel vergnüglich
lachte. Er hatte uns von seinem Fenster aus kommen sehen und sich
verborgen, um uns zu überraschen. Jubelnd fielen wir ihm um den Hals.
»Kinder, Kinder,“ sagte die dazugekommene Tante, »das hätten wir dem
Vater gegenüber nie tun dürfen!“ — Ja, nun, wir hatten es eben getan,
und Großvater hat uns ganz gern gewähren lassen. Der Alte war so mild
geworden!
Einige lichte Spuren möchte ich noch festhalten. »Zellers Größe bestand
darin, daß er klein blieb,“ sagt ein Freund. Und Professor Auberlen
bezeugte von ihm: »Er ergriff die Gnade mit redlichem, lauterem und
völligem Herzen. Sie war ihm nicht ein bloßes Ruhekissen fürs Leben oder
fürs Sterben. Sie war ihm eine Macht, welche, indem sie die Sünde
vergibt, unsere Trennung von Gott aufhebt und uns vor das Angesicht des
Vaters im Himmel stellt, daß wir in seinem Namen bewahrt, im Lichte
wandeln, wie er im Lichte ist.“
Daß es in einem solchen Leben nicht an mancherlei Drangsal und Not
gefehlt hat, läßt sich denken. Aber Zeller hielt es mit dem Wahlspruch
seines Geschlechts: Mit Freuden hindurch! Diese Freude aber schöpfte er
an der Quelle. Ich hörte ihn einmal sagen, er bete täglich mit David:
Dein freudiger Geist erhalte mich! Gern gebe ich dies Rezept weiter. Es
ist probat.
Schon neigte sich sein schöner Arbeitstag dem Ende zu, da traf ihn
tiefes Leid. Im Juli 1858 mußte er scheiden vom Liebsten, was er auf
Erden hatte, seiner treuen Gattin. Schwere, heiße Leidensmonate gingen
ihrem Sterben voraus. Aber im Tiegel bewährte sich das Gold. Sie, die
bei aller treuen Nachfolge ihres Herrn nie zu einer festen, frohen
Gewißheit ihres Gnadenstandes hatte kommen können, erfaßte mit
kindlicher Einfalt ihren Heiland und ging selig ein zu seiner Ruhe.
Großvater, nun im achtzigsten Lebensjahr stehend, arbeitete noch zwei
Jahre unermüdlich weiter. Oft, schon in Zeiten der Gesundheit und der
Kraft, hatte er gebetet: „Herr, laß mich stehend sterben!“ Ich hatte als
Kind diese Bitte auch einmal gehört und mich im stillen gewundert, wie
das wohl zugehen möge. Ich habe es seither verstanden! — Zellers Bitte
wurde erfüllt: Er durfte bis zuletzt im Amte stehen.
Genau vierzig Jahre waren seit seinem Einzug in Beuggen vergangen. Am
15. Mai 1820 hatte er seine erste Unterrichtsstunde dort gegeben; am 11.
Mai 1860 hielt er die letzte. Unmittelbar darauf zeigten sich die ersten
Symptome der Lungenentzündung. In seinem Pult lag ein angefangener
Aufsatz über Apost. 3. 19—21. Er hatte einiges geschrieben über die
ersehnte Zeit der Erquickung, da legte er die Feder nieder. Nur wenige
Tage dauerte die Krankheit. Auch da noch beschäftigte sich sein Geist
mit dem großen Gedanken der christlichen Hoffnung. Er segnete seine
Kinder. „Wir kommen alle wieder zusammen,“ sagte er, „im großen
Vaterhaus. Das ist gewißlich, gewißlich wahr!“ So entschlief er am 18.
Mai 1860.
Sein Werk aber ist geblieben, von seinen Söhnen Reinhard und Nathan, und
hernach von Reinhards Söhnen Eugen und Heinrich im Segen weitergeführt.
Und geblieben sind auch die Segensspuren, sowohl von der Großeltern
Leben in hingebender, dienender Liebe, als auch von dem Wort des
Zeugnisses in Lehre und Lied. Sie reden noch, wiewohl sie gestorben
sind.
Darum lasset uns Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit
werden wir ernten ohne Aufhören.
Vater
=====
Wie sich ein Vater über Kinder erbarmet, also erbarmet sich der Herr
über die, so ihn fürchten.
Als junges, heimwehkrankes Kind, fern vom ge-liebten Elternhause, traf
ich einmal in meiner großen Schulbibel auf dies Wort, das ich früher
schon oft gehört und auswendig gelernt hatte. Aber jetzt faßte es mich
mit ganz neuer Gewalt. Es schnürte mir das Herz zusammen in Freude und
Weh, und ich konnte nur eines fühlen und sagen: „So, gerade so ist mein
Vater!“ Und fast unbewußt wuchs aus diesem ersten Empfinden das zweite:
„So ist auch Gott, so lieb, so gut, so erbarmungsvoll wie mein Vater!“
Glückliches Kind, das solch einen Vater hat!
O, ihr Väter, wie groß und herrlich ist euer Beruf und eure Würde, daß
ihr dürft euren Kindern gleichsam ein Bildnis, ein Dolmetscher von
Gottes Liebe sein!
Nach diesem Gotteswort ist das Erbarmen das charakteristische Merkmal
der Vaterliebe. Gewiß muß der Vater gerecht und gut und stark sein.
Gewiß muß er Ernst und Strenge walten lassen, muß Wachen, daß Zucht und
Gehorsam herrsche, muß strafen, wo es nötig ist. Aber in dem allen muß
das Erbarmen die Oberhand haben.
Erbarmen ist nicht eine schwache, weiche Eigenschaft, die die Sünde
übersieht und einfach den Schwamm über die Flecken fahren läßt. Im
Gegenteil. Erbarmen ist ein starker, mächtiger, siegreicher Trieb.
Erbarmen sieht das Böse — und liebt doch. Erbarmen empfindet mit Schmerz
und Entrüstung, was unrecht und unrein ist — und liebt doch. Erbarmen
steigt hinunter zu dem Gefallenen und holt ihn in den Armen der Liebe
herauf.
An Jesu, unserm Heiland, lernen wir, was Erbarmen ist. Er hat uns das
Vaterherz Gottes geoffenbart. Das ist das Urbild des Erbarmens, der
wahren Vaterliebe.
Wem Gott, auch auf geistlichem Gebiete, Vater- und auch Mutterpflichten
aufgetragen hat, muß etwas von dieser erbarmenden Liebe haben, soll sein
Tun gesegnet sein. Don einem gelehrten Rabbiner hörte ich einst, daß die
Mitglieder des jüdischen Hohen Rates Familienväter sein mußten. Ihnen
fiel nämlich die Aufgabe zu, über Missetäter zu Gericht zu sitzen und
nötigenfalls das Todesurteil auszusprechen, und man nahm an, daß Väter
mit mehr Erbarmen die Schuldigen prüfen und beurteilen würden als
andere. Das läßt tief blicken.
Bei unserm Vater kannten wir Kinder gar wohl dies erbarmende Herz. Er
hat uns auch gestraft, wie es recht und notwendig war. Aber keine
körperliche Züchtigung hat uns je so weh getan als der Schatten, der
über seine hohe Stirn sich lagerte, und die Tränen, die seine milden
blauen Augen füllten, wenn bei einem von uns eine Sünde vorgekommen war.
„Du hast den Vater betrübt!“ Das war ein Stachel in Herz und Gewissen,
ein Schmerz, der nur übertroffen wurde, als durch die Erleuchtung des
Heiligen Geistes das „größte Herzeleid“ erwachte und in dem Schrei
seinen Ausdruck fand: An dir, Gott, habe ich gesündigt und solch Unrecht
vor dir getan!
Doch ich bin mit diesen Bemerkungen gleichsam mit der Türe ins Haus
gefallen und habe in die Mitte von Vaters Lebenslauf gegriffen. Und doch
ist von seinen Jugendjahren und von seinem ganzen übrigen Leben soviel
Lichtvolles und Lehrreiches zu sagen, daß ich nur nicht weiß, wie ich es
machen soll, um etwas Einheitliches in den knappen Rahmen dieser Blätter
zu fassen.
Im grünen Juratal, das wir schon kennengelernt haben, im schlichten
Dorfe Crémines, ist Samuel Gobat am 26. Januar 1799 geboren. Wie wir
oben hörten, stand dies Ecklein des Schweizerlandes damals gerade auf
kurze Zeit unter Franzosenherrschaft, und die Geburt ist in den
Registern eingetragen als: am 7. Pluviose des Jahres VIII. Sie wollten
Zeiten und Jahre ändern, die Begründer der ersten französischen
Republik, und datierten ihre neue Zeitrechnung vom Ausbruch der
Revolution. Aber ein Höherer hat ihre Bestimmungen zunichte gemacht.
Schon nach wenigen Jahren hörte der republikanische Kalender auf, um
aufs neue der einzig gültigen Bezeichnung Raum zu machen, die alle
Weltereignisse berechnet nach der einen großen Tat von Christi Geburt.
Kräftig wuchs der Knabe Samuel auf unter dem Schutz des frommen
Elternhauses. Er kannte bald jeden Zoll Erde auf all den weiten Almen
und den mächtigen Felsen. Er kannte auch den forellenreichen Bach, und
brachte der Mutter manch schimmerndes Fischlein nach Hause, das er mit
flinker Hand unter ausgehöhlten Steinen zu fassen verstand.
Aber auch in geistiger Beziehung entwickelte er sich zur großen Freude
der Eltern. Der reichbegabte Knabe lernte frühe lesen und erinnerte sich
besonders gern an ein in Form von religiösen Gesprächen gehaltenes
Büchlein, der Hirte von Artois, das er mit vier Jahren mehrmals
durchlas. Aber früh stahlen sich böse Zweifel in diesen denkenden Kopf,
und Samuel bekennt in seinen Erinnerungen, daß er schon mit zwölf Jahren
im geheimen ein Ungläubiger gewesen sei. Ein früher ausgesprochener
Wunsch, sich dem Predigtamt widmen zu dürfen, hätte in dieser Zeit durch
freundliche Fügung in Erfüllung gehen können; aber der Unglaube hatte
indessen Besitz genommen von dem jungen Herzen, und das Amt, das die
Versöhnung predigt, hatte keine Anziehungskraft mehr für ihn.
Es folgten nun eine Reihe trauriger Jahre. Samuel lebte ohne Gott. Zwar
wurde er bewahrt vor groben Sünden und Lastern. Das Gemeine, Sinnliche
zog ihn nicht an. Aber Leichtsinn, Weltlust, Tanz und Kartenspiel waren
Ketten, die ihn fesselten und unempfänglich machten für die Züge der
Gnade. Seine Mutter bangte um ihren Samuel. Sie betete und litt und
suchte ihn unter die Beeinflussung gläubiger Männer zu bringen. Aber es
schien alles umsonst.
Doch über den Starken, der des Jünglings Herz gebunden hielt, kam der
Stärkere, derselbe, der einst den Saulus von Tarsen überwand und zu
einem Paulus machte.
An einem Oktobersonntag des Jahres 1818 — Samuel stand im zwanzigsten
Lebensjahr — war er den ganzen Nachmittag bei einer Tanzbelustigung
gewesen und hatte sich von seinen Freunden verabschiedet mit dem
Versprechen, nach dem Abendessen im Elternhaus wieder zu ihnen zu
kommen, um den Abend und einen Teil der Nacht beim Kartenspiel zu
verbringen. Er erzählt darüber:
„Als ich mich, von meinen Eltern unbeachtet, hinausschleichen wollte,
wurde mir plötzlich die Gegenwart Gottes fühlbar. Ich kehrte zurück,
nahm die Bibel zur Hand und wollte anfangen, darin zu lesen, was ich
jahrelang nicht getan hatte, es sei denn aus Gehorsam gegen meine
Eltern. Als ich jedoch die Bibel öffnete, hatte ich nicht den Mut, in
derselben zu lesen, weil ich mich unter dem Zorn Gottes fühlte. Alle die
Trugschlüsse, auf die ich meinen Unglauben gestützt hatte, waren wie
vernichtet durch das Gefühl der Gegenwart Gottes, und ohne irgend
welches Räsonieren war mir die Bibel wieder das wahre, untrügliche Wort
Gottes, doch leider in jenem Augenblick mir nur zur Verdammnis. Aus
Furcht, meine Eltern und Schwestern möchten meine innere Bewegung
merken, sagte ich einfach, ich fühle mich nicht ganz wohl, und zog mich
auf mein Zimmer zurück. Ach, welch’ schreckliche und doch welch’
reichlich gesegnete Nacht stand mir bevor! Sowie ich allein war, dachte
ich über meinen verlorenen Zustand nach und fing an, in diesen und
ähnlichen Worten zu beten: »O mein Schöpfer, von meiner Jugend auf bin
ich belehrt worden, daß du deinen einzigen Sohn in die Welt gesandt
hast, um Sünder selig zu machen. Wenn dem wirklich also ist, ach, so
offenbare ihn mir, denn ich bin ein verlorener Sünder! Erbarme dich
meiner!« Je mehr ich aber betete, desto größer wurde meine Angst. Mir
war, als sei nur ein Schritt zwischen mir und ewigem, unabänderlichem
Tod. Ich fühlte mich umgeben von bösen Geistern. Das ist jedenfalls
sicher, daß der Satan nahe war und mich zur Verzweiflung trieb. Meine
Seelenangst war so schrecklich, daß ich mir meinen Mund mit Kleidern
stopfte, um nicht laut zu schreien, während ich um Gnade flehte.
„Da aber nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach zu Gott in den
Worten Jakobs: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Und: »Wenn
ich verderben muß, so will ich hier auf den Knien in deiner Gegenwart
verderben.« Plötzlich fühlte ich, wie die Last meiner Sünden abgenommen
wurde, und ich empfand unaussprechliche Wonne. Ich kann nicht bestimmt
behaupten, den Herrn Jesum gesehen zu haben, aber ich fühlte seine
Gegenwart in der Fülle seiner Liebe, die mich zwar nicht in hörbaren
Worten, aber mit göttlicher Macht der Vergebung meiner Sünden und meiner
Versöhnung mit Gott versicherte.
„Die übrigen Stunden jener Nacht waren die glücklichsten und
gesegnetsten Augenblicke meines Lebens. Als ich jedoch am Morgen es
versuchte, aufzustehen, fühlte ich, daß mir die Kraft dazu fehle; ich
war gänzlich erschöpft. Etwas später hörte ich meine Mutter kommen: da
flüsterte mir der Teufel oder mein eigenes Herz oder beide zusammen ein,
ich solle ihr nicht mitteilen, was in der Nacht vorgefallen sei. Im
Falle ich in der Nachfolge meines Heilandes nicht treu ausharren könnte,
würde sie um so mehr betrübt. Doch Gott hatte ein Gegenmittel für diese
Versuchung schon bereit. Denn sowie mich meine Mutter sah, sagte sie
ruhig, obschon augenscheinlich sehr betroffen: »Was fehlt dir? Dein
Gesicht ist ganz verändert …« Ich erzählte ihr nun alles, überglücklich,
auf diese Weise die erste Versuchung überwunden zu haben.“
Soweit die Erzählung Samuels. Er berichtet dann weiter, wie ihn die
gleiche Furcht eines möglichen Rück-falls beinahe abgehalten hätte, vor
seinen Freunden den Heiland zu bekennen, wie ihn der Herr aber gestärkt
habe, es am selben Lage noch zu tun. Auf diese Treue legte Gott solchen
Segen, daß die meisten dieser jungen Leute auch die Sündenbahn verließen
und sich von Herzen bekehrten.
Das alte herrliche Wort hatte sich bewahrheitet: Ist jemand in Christo,
so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist ein
Neues geworden. Von nun an hatte auch das ganze Leben Samuel Gobats
einen neuen Zweck und ein neues Ziel. Dem Herrn zu dienen war nun sein
innigstes Verlangen, und gern gewährten die Eltern ihm den Wunsch, sich
der Mission zu widmen.
So trat er im Januar 1820 in das fünf Jahre zuvor gegründete
Missionshaus zu Basel ein. Zweiundeinhalb Jahre später finden wir ihn in
Paris, wo er unter dem berühmten Professor Sylvester de Sach die
arabische Sprache studiert, um dann 1826 in Verbindung mit der Englisch
Kirchlichen Missionsgesellschaft als Missionar nach Abessinien zu
reisen.
Nach einem längeren Aufenthalt in Palästina und auf dem Libanon und nach
vielen vergeblichen Bemühungen und Geduldsproben gelang es Gobat, mit
seinem Mitarbeiter Kugler ins Innere Abessiniens und bis zur Hauptstadt
Gondar vorzudringen. Die hier entfaltete, von Gott in so wunderbarer
Weise gesegnete Wirksamkeit bildet einen gewissen Höhepunkt im Leben
meines teuren Vaters. Nach außen war nichts als Kampf und Schwierigkeit,
Rebellion und Anarchie. Aber die Herzen waren überall offen für das
Evangelium. An manchen Lagen war der Zudrang derer, die das Wort hören
wollten, so groß, daß der Missionar tatsächlich nicht Zeit fand zu
essen, sondern von früh bis spät den hungernden Seelen das Brot des
Lebens reichen durfte. Nach dem frühen Heimgang Kuglers war Gobat der
alleinige Weiße Mann im Lande. Er genoß die Freundschaft und den Schutz
des edlen Häuptlings Saba Gadis, aber die immer wieder ausbrechenden
Anruhen nötigten ihn, von Ort zu Ort zu flüchten.
Manche Nacht hat er unter freiem Himmel zugebracht, in gefährlicher Nähe
der wilden Tiere, deren Stimmen er in späteren Jahren zur Wonne seiner
Kinderschar so gut nachzuahmen verstand. Das majestätische Brüllen des
Löwen, das bellende Geheul des Leoparden, das unheimliche Lachen der
Hyäne, das widerliche Schnattern der Affen, alles vernahmen wir mit
wohligem Grausen, wenn wir des Abends im behaglichen Wohnzimmer zu
Jerusalem, zu seinen Füßen sitzend, seinen wunderbaren Erzählungen
lauschen durften. Wir zitterten nachträglich beim Gedanken an den
einsamen Wanderer, der als einziges Leitwerk eine Kuhhaut mitzuführen
pflegte, von der er gern verwöhnten, modernen Reisenden erzählte, bei
schönem Wetter sei er darauf gelegen und bei Regenwetter darunter. Immer
aber bezeugte er, wie der Herr sein guter Hirte gewesen sei und wie ihm
nichts gemangelt habe.
Zwei Züge aus jener merkwürdigen abessinischen Zeit möchte ich kurz
anführen.
Er reiste einst in Begleitung einer Anzahl junger Leute, die er im Worte
Gottes unterrichtete, durch eine unwirtliche Gegend. Täglich hielt er
Andacht mit seiner kleinen Schar, und die vierte Bitte des Vaterunsers:
„Gib uns heute unser tägliches Brot!“ war ihm nie so bedeutungsvoll
vorgekommen wie gerade jetzt. Sie wurde buchstäblich erhört. Einmal war
es eine reiche Frau, die von seiner beabsichtigten Durchreise Kunde
erhalten hatte und ihm einen Korb mit Nahrungsmitteln sandte. Ein
andermal war es der Gouverneur des Distrikts, der in Gondar von ihm
gehört hatte und ihn nun mit seinen Begleitern zu einem Mahle einlud.
Ein drittes Mal, als sie gerade fastend einhergingen, weil ihre kleinen
Vorräte völlig erschöpft waren, war es ein Sklave, der mit einem Korb
voll Brot und einer Kanne Bier am Wege saß und erzählte, sein Herr habe
in der Nacht nicht schlafen können und habe ihn gesandt, um dem ersten
vorüberziehenden Reisenden diese Erfrischung zu bringen.
Einer der mitreisenden Jünglinge bekannte nachher mit Tränen, er habe
arge Gedanken des Unglaubens und der Empörung gegen Gott und gegen den
Missionar gehabt. „AIs ich aber sah.“ sagte er. „daß Tag für Lag Leute,
die du nicht kanntest und die dich nicht kannten, dich ungebeten
reichlich versorgten, da fühlte ich, daß ich mich einer großen Sünde
schuldig gemacht habe, indem ich Christus zum Lügner machte.“ Dies war
der Anfang seiner Bekehrung.
Den zweiten Zug, der in Wahrheit eine lichte Spur genannt werden kann,
soll mein Vater selbst erzählen. Er schreibt in seinen Erinnerungen:
„In dieser Zeit machte ich eine Erfahrung, die mir selbst und anderen
seither eine Quelle großen Segens wurde. — Eine Zeitlang war ich in
einem Zustande geistlicher Gefühllosigkeit, hatte keine Freude am Worte
Gottes und war unfähig, mich zu herzlichem, gläubigem Gebet zu erheben.
Ich war höchst unglücklich, als ich eines Morgens früh in den Wald ging,
um mich zum Gebet zu sammeln. Ich setzte mich auf einen Stein am Eingang
einer Felsenhöhle. Nach einigen Minuten Nachdenkens versuchte ich es,
für mich selbst zu beten, fühlte aber, daß es nicht nur nutzlos, sondern
sogar beleidigend gegen Gott sein würde. Ich konnte nicht mit kindlichem
Vertrauen beten. Es war mir, als sei ich von Gott verworfen, bis ich mir
nach einer Weile sagte: »Wenn ich es nicht wagen darf, für mich selbst
zu beten, will ich doch für meine christlichen Freunde beten: vielleicht
betet der eine oder andere für mich und findet Erhörung.« Daraufhin
besuchte ich im Geiste alle die christlichen Freunde, die ich seit
meiner Bekehrung kennengelernt hatte: dabei suchte ich mich in ihre
verschiedenen Lagen zu versetzen, betete für ein jedes einzeln und bat
um die Segnungen, deren sie am meisten bedurften. Während ich nun im
Geiste die Reise durch die Städte und Dörfer der Schweiz, Frankreichs,
Deutschlands, Englands machte, fühlte ich die Liebe zu Gott und den
Menschen in meinem Herzen glühen: es war mir, als sähe mein Glaube den
Unsichtbaren. Als ich kurz vor Sonnenuntergang aus der Höhle trat, war
es mir, als läge ich in meines Heilands Armen. Es war dies einer der
glücklichsten Augenblicke meines Lebens.“
Nach dreijährigem Aufenthalt in Abessinien kehrte mein Vater im Jahre
1833 in die Heimat zurück, um womöglich Mitarbeiter zu gewinnen und die
so verheißungsvolle Arbeit neu zu organisieren und auf eine feste
Grundlage zu bringen. Er hatte die Hoffnung, daß bis zu seiner Rückkehr
die politischen Verhältnisse sich gebessert haben würden. Sein
Aufenthalt in Europa gestaltete sich zu einem beinahe festlichen. Er
wurde überall mit offenen Armen empfangen, seine Berichte fesselten und
erfreuten die Zuhörer und gewannen ihm immer neue Freunde, die mit
Begeisterung an ihm hingen.
In dieser Zeit lernte er auch meine teure Mutter kennen. Der edle
Missionar, Graf Felician von Zaremba, mit dem er in herzlicher Liebe
verbunden war, warb nicht nur im Namen seines Freundes, sondern auch im
Namen des Herrn, dem er diente, um die Hand der geliebten Maria Zeller
von Beuggen. Das war im Blick auf die große Aufgabe in dem fernen
unzivilisierten Lande eine ernste Frage, auf die auch die ernste und
dennoch freudige Antwort folgte: „Siehe, ich bin des Herrn Magd.“
Nach der im Mai 1834 stattgefundenen Hochzeit trat das junge Paar
unverzüglich die Reise nach Ägypten und Abessinien an. Gobat hatte auch
den erwünschten und erbetenen Mitarbeiter, Herrn Jsenberg, gefunden, und
voll Hoffnung und Eifer zog er wieder nach Habesch, dem Lande seiner
Liebe.
Aber wie anders waren Gottes Gedanken als seine Gedanken und Gottes Wege
als der Menschen Wege! Noch ehe er nach Verfluß eines halben Jahres die
Grenze des Landes erreicht hatte, wurde Gobat von einer äußerst
schmerzlichen Krankheit befallen, die mit mehr oder weniger Heftigkeit
zwei Jahre dauerte und ihn zu jeglicher Arbeit unfähig machte. Seine
Kräfte schwanden so dahin, daß er zu Zeiten kein Glied zu regen
vermochte und fast zum Gerippe abmagerte. Gern wäre er in Adoa, wo die
Missionsfamilie sich ein dürftiges, aber friedliches Heim eingerichtet
hatte, gestorben. Aber der Gedanke, seine Gattin und das in Adoa
geborene Kindlein allein im fernen Lande zurückzulassen, war ihm zu
schwer, und er beschloß, mit Aufbietung seiner letzten Kräfte,
wenigstens bis nach Ägypten vorzudringen, um sie dort in sichere Obhut
zu bringen. Wie ein Sterbender wurde er im September 1836 auf einer
Bahre über das Gebirge getragen. Wunderbarerweise besserte sich auf der
Reise der Zustand von Tag zu Tag, und nach einem längeren Aufenthalt in
Kairo konnten die teuren Eltern im Frühjahr 1837 nach der
schweizerischen Heimat zurückkehren.
Aber ihr geliebtes Abessinien sahen sie nicht wieder!
Das war eine außerordentlich schwere und dunkle Führung. Sollte auch sie
lichte Spuren zurücklassen?
Jawohl! Mein Vater hat es oft bezeugt, daß er darin einen tiefen und
beherzigenswerten göttlichen Unterricht empfangen habe. Während jenes
Besuches 1833/34 war ihm, dem Knecht, zuviel Ehre widerfahren, zuviel
Lob gespendet worden. Er selbst hat es nicht gewollt und nicht gesucht,
war sich auch in keiner Weise bewußt, dem Hochmut Raum gegeben zu haben.
Aber von da an mied er mit ernster Sorgfalt alles, was der verborgenen
Eitelkeit des Fleisches Nahrung geben könnte. Und wenn er im späteren
Leben bemerkte, daß ähnliches einem Knechte Gottes oder einem
christlichen Werke widerfuhr, da konnte er liebreich warnen: „O, haltet
euch recht verborgen in eurem Gott! Je mehr er euch braucht, desto
tiefer verbergt euch in ihm.“ Auch für die Gemeinde Gottes liegt darin
eine Lehre: Nicht die Menschen verherrlichen! Nicht Weihrauch streuen!
Dem Herrn allein, allein gebt alle Ehre!
In den zehn Jahren, von seinem Weggang aus Abessinien, 1836, bis zu der
Übernahme seines letzten wichtigen Arbeitspostens als Bischof zu
Jerusalem, 1846, bekleidete mein Vater verschiedene Stellen, je nachdem
es ihm seine Kräfte zuließen. So war er auch etliche Jahre auf der Insel
Malta, wo er den Druck arabischer Missionsschriften überwachte und
dazwischen in Sizilien und auf dem Festland in italienischer Sprache
evangelisierte. So ist es gekommen, daß dies kleine Eiland im blauen
Mittelmeer meine Geburtsstätte geworden ist. Lange fühlte ich mich sehr
bevorzugt durch die spezielle Beziehung, die ich dadurch zu Paulus zu
haben meinte, oder doch zu den lieben „Barbaren“, die dem heiligen
Apostel und seinen Schiffbruchsgenossen eine „so ungewöhnliche
Menschenfreundlichkeit bewiesen“. (Apost. 23, 2.) — Die brausenden
Wellen, die sich an den Felsenklippen Maltas brechen, und die
balsamischen Lüfte, die durch seine herrlichen Gärten wehen, haben mich
mein Leben lang begleitet.
Es war während eines zweiten Aufenthalts in Malta, daß durch König
Friedrich Wilhelm IV. von Preußen ein gar unerwarteter Ruf an meinen
teuren Vater gelangte. Er sollte das im Jahre 1842 durch die Initiative
des Königs im Verein mit der Königin von England ins Leben gerufene Amt
eines evangelischen Bischofs zu Jerusalem übernehmen. Die großen
Arbeitsmöglichkeiten, die in einer solchen Stellung lagen, waren ihm
klar bewußt, und er konnte nicht anders, als in dieser merkwürdigen
Fügung einen Wink des Herrn zu sehen, dem er einfach folgte.
Am letzten Tage des Jahres 1846 traf er in Jerusalem ein, und diese
alte, durch tausend heilige Erinnerungen geweihte Stadt wurde fortan
unsere Heimat, von der wir singen:
Wie könnt’ ich dein vergessen, o Jerusalem,\
Du Königin, in deinem Staubgewande!
Die dreiunddreißig Jahre, die mein Vater hier zubrachte, waren reich an
Mühe, an Arbeit, an Verkennung, aber auch an Segen. Er blieb auch als
Bischof von Herzen Missionar und suchte durch Errichtung von Schulen und
Anstellung von Evangelisten das Evangelium im Lande zu verbreiten.
Eingehendes über seine Wirksamkeit im Heiligen Lande zu erzählen, würde
der Raum hier nicht gestatten. Auch bei dem vielen Schönen und
Interessanten, was wir als Kinder solcher Eltern und in solchem Lande
genießen durften, kann ich nicht verweilen. Nur einzelne Momente, die in
Herz und Gedächtnis besonders lichtvoll funkeln, sollen noch
festgehalten werden.
Und da ist es vor allen Dingen Vaters große Liebe zum Worte Gottes, die
uns Kindern eindrücklich geworden ist. Ich habe nie wieder jemand
gesehen, der die Bibel so gut kannte wie er. Und diese Kenntnis suchte
er auch uns mitzuteilen. Beim Vorlesen der Texte im Losungsbüchlein
hielt er immer einen Augenblick inne und wartete, ob jemand Kapitel und
Vers angeben könne. Oft auch, etwa in der Dämmerung oder bei einem
Spaziergang, nannte er Spruch um Spruch aus dem Alten und Neuen
Testament und wollte wissen, wo er stehe. Dann wieder durfte man ihn
ebenso fragen, und er blieb gewiß nie eine Antwort schuldig. Oder es
hieß: „Nun sage mir einmal Kapitel um Kapitel den Inhalt dieses
Evangeliums oder jener Epistel.“ Er machte uns auch aufmerksam auf den
jedem der heiligen Schreiber eigenen Stil (bei seiner guten
Sprachkenntnis, namentlich des Hebräischen, war das hochinteressant) und
zeigte uns, wie der Geist Gottes, den er als den Verfasser des ganzen
Buches pries, die menschlichen Eigentümlichkeiten seiner Knechte und
Mägde nicht verwischt, sondern heiligt. Selbstverständlich blieb er aber
nicht nur bei dem äußeren Kennen und Lernen, sondern half uns,
einzudringen in die Erkenntnis des herrlichen Gottes, der sich den
Menschen in seinem Wort geoffenbart hat.
Ich erinnere mich noch gut, wie von den Missionaren in Lodiana im fernen
Himalajagebirge ein Brief ankam mit besonderen Marken, ein Brief, der
das Volk des Herrn aufforderte, die erste Woche des Jahres als eine Zeit
des Gebets in besonderer Weise zu feiern. Von Herzen ging Vater auf
diesen Gedanken ein. An dem ersten Tag, der speziell der Buße und der
Demütigung gewidmet sein sollte, war die Gebetsversammlung eine
besonders ernste. Vater war ohne zu frühstücken in sein Zimmer gegangen
und hatte den ganzen Morgen in der Stille zugebracht. Er liebte
überhaupt das Fasten, das er als neutestamentlich begründet anerkannte,
wenn es verbunden wird mit Gebet. Wir wußten es gut, warum er, wenn
etwas seine Seele besonders bewegte, das Frühstück, oft auch die
Mittagsmahlzeit mied. Die Amtsgeschäfte wurden natürlich dennoch
besorgt. So kam er auch an jenem ersten Tag der ersten Gebetswoche
direkt aus seinem Zimmer in den Versammlungssaal. Auf den Knien liegend,
las, nein, betete er das neunte Kapitel des Buches Daniel, und ich weiß
noch, wie jenes gewaltige, immer wiederkehrende „wir“ durch aller Herzen
drang.
Das Jahr, das also begonnen hatte, wurde für unsere ganze Gemeinde ein
Jahr der Erweckung und des Segens. Die Gebetsstunden wurden fortgesetzt.
An einem kleinen Rednertisch pflegte der Bischof Platz zu nehmen, ihm
zur Rechten und zur Linken der lutherische und der anglikanische
Geistliche. Gott segnete das einmütige Zusammensein der Brüder. Es war
meines Vaters Bestreben und herzliche Freude, den Juden und
Mohammedanern sowie den verschiedenen christlichen Kirchen — Katholiken.
Orthodoxen. Armenischen, Syrischen, Koptischen — eine einheitliche
protestantische Kirche darzustellen. Eine ganze Reihe von Jahren gelang
es tatsächlich, und es war dies vielleicht eine der Hauptaufgaben des
Bistums, das jetzt nicht mehr in der ursprünglich gedachten Gestalt
existiert. Leider nahm in der Folge der lebendige, erweckliche Geist ab.
Die Form blieb, aber es kamen Zeiten der Dürre und der Lauheit, die den
heißen Schrei auspreßten: „Ach, daß du den Himmel zerrissest und führest
herab, daß die Berge vor dir zerflössen, daß dein Name kund würde unter
den Völkern!“
Doch ich muß zum Schlusse eilen.
Im Januar 1879 vollendete Vater sein achtzigstes Lebensjahr. Er war sehr
schwach. Im vorausgegangenen Herbste hatte er auf einer Besuchsreise,
die er mit der Mutter in der Schweiz machte, einen leichten Schlaganfall
erlitten, und seine Kraft war gebrochen. Er wünschte sehnlichst, nach
Jerusalem zurückzukehren, um da seine Hütte abzulegen. Beim Abschied von
seinen Kindern sagte er viele trostreiche Worte. Sein Herz floß über von
Liebe. Er bezeugte: „Wenn ich mein Leben überblicke seit meiner
Bekehrung — vorher war es ja gar kein Leben —, so sehe ich nur eine
Kette von Barmherzigkeiten.“
In Jerusalem angekommen, schwanden seine Kräfte mehr und mehr. Am
Ostersonntag betrat er zum letztenmal seine geliebte Christuskirche auf
Zion, feierte mit der zahlreich versammelten Gemeinde das heilige
Abendmahl und sprach am Schluß den Segen.
Sonnabend, den 10. Mai, kam für den treuen Knecht der stille Feierabend.
Eine schwere, bange Nacht brach an. Eines seiner Kinder sprach den
dreiundzwanzigsten Psalm und fragte: „Vater, ist Jesus bei dir im
finstern Tale?“ — „Ja, gewiß.“ war die frohe Antwort, „und es ist nicht
finster.“
Als der Sonntag Kantate, der 11. Mai, über die blauen Umrisse des
Ölberges heraufdämmerte und das Glöcklein der Grabeskirche eben den Tag
des Herrn einzuläuten begann, da war auch für den müden Streiter aller
Kampf zu Ende, und der ewige Sabbat war angebrochen.
Zwanzig Jahre später wurde auf Anregung des Ortspfarrers in
Grandval-Crémines ein schönes Fest gefeiert bei Anlaß des hundertsten
Geburtstags Samuel Gobats. Die Gemeinde hatte einen Marmorstein mit
Inschrift gestiftet und ihn über dem Eingänge des Geburtshauses
angebracht. Ein Gottesdienst fand vormittags in der Kirche statt.
Nachmittags waren die Schüler sämtlicher Schulen ebenfalls in der Kirche
zu einem Feste versammelt. Dann zog man ins Geburtshaus nach Crémines,
wo auf der breiten Diele eine große Versammlung gehalten wurde, die sich
zu einer echten, schönen Evangelisationsstunde gestaltete. Nicht der
Knecht wurde gepriesen, sondern der Meister. Es wurden namentlich die
jungen Männer geworben für den Herrn, dessen Dienst die höchste Freiheit
ist. Eine Abendversammlung im Schulhaus beschloß diesen schönen,
erhebenden Tag.
Als wir abends im hellen Sternenschein in raschem Schlitten über die
Schneegefilde der Station Moutier zufuhren, waren unsere Herzen voll
Dank und Freude. Was kann der Herr doch aus einem Leben machen, das
frühe ihm geweiht und überlassen wird!
Dank, lieber Vater, daß du mir den Weg ins wahre Vaterhaus gezeigt und
auf dem schmalen Pfade mir vorangegangen bist!
Und Dank sei dir, mein Herr und Gott, daß du dich auch über mich erbarmt
und mich zu deinem Kind gemacht hast, also daß ich aufschauen darf zu
dir und sprechen: Abba, lieber Vater!
Mutter
======
Wie ist es einem Kind zumut,\
Wenn es im Arm der Mutter ruht?\
Nicht wahr, es ist ihm wohl?\
Ja wohl, ja wohl!\
Denn solch ein Kind hat’s gut.\
Wie ist es einem Kind zumut,\
Wenn es in Jesu Armen ruht?\
Das ist ein sel’ges Kind,\
Denn solch ein Kind\
Hat’s besser noch als gut.
So sang uns unsere Mutter mit ihrer reinen, vollklingenden Stimme gar
manchesmal. Und so oft ich ihr Bild in meinem Inneren wachrufe, tönt mir
auch jenes alte Lied entgegen und weht mir leise die Erinnerung an die
süße Mutterliebe zu.
Von ihr möchte ich kurz erzählen.
Der Leser kennt schon das Elternhaus im freundlichen Städtchen Zofingen,
in dem Maria Zeller am 9. November des ereignisreichen Jahres 1813
geboren wurde. Auch ihr Jugendheim in Beuggen, wo sie inmitten der
großen Kinderschar in schlichter Gottesfurcht aufwuchs, ist geschildert
worden. Wir kennen auch schon den edeln Mann, der sie zu seiner
Lebensgefährtin gewann und dem sie durch seinen ganzen wechselvollen
Lauf eine liebende und geliebte Gehilfin war. Aber es leben in meiner
Erinnerung noch so manche Züge, die zu den lichtesten Spuren gehören,
die Mutter uns hinterlassen hat, und die darum hier ihren Platz finden
müssen.
Da ist zuerst eine merkwürdige Gnadenerweisung des Herrn zu nennen, die
sie im neunten Lebensjahre erfuhr, wo sie ihre Sündhaftigkeit und
Erlösungsbedürftigkeit so tief empfand und so bewußt zu der in Jesu
Christo geöffneten Freistadt floh, daß ihr dieses Erlebnis zeitlebens
unerschütterlich fest und köstlich blieb. Es wurde freilich im Lauf der
Jahre vertieft und geläutert.
Auch aus der Brautzeit ist manch liebes Andenken vorhanden. Sie hatte
eben das zwanzigste Jahr vollendet und war ihrer ausgezeichneten Mutter
eine »tüchtige, fleißige und stets fröhliche Gehilfin“ geworden, als
eines Tages Missionar Zaremba bei den Eltern in Beuggen erschien, wie im
vorigen Kapitel erzählt worden ist, und im Namen seines Freundes Gobat
um die Hand der Tochter warb. Maria kannte den Mann wohl, der sie zur
Gattin begehrte, aber sie hatte ihn stets angesehen als einen Freund
ihrer Eltern, einen hoch über ihr stehenden Knecht Gottes. So war sie
zuerst gar erschrocken. Aber sie hatte erst kurz zuvor in ernster,
gesegneter Stunde ihr Herz und Leben ganz aufs neue ihrem Herrn
übergeben und um seine sichere Führung gebeten. In diesem Sinn und Geist
nahm sie den an sie ergangenen Ruf an und konnte dem frommen Elieser
andern Tages auf die Frage: „Willst du mit diesem Manne ziehen?“ ein
freudiges Jawort geben.
Vor mir liegt ein ganzer Strauß von Gedichten und Liedern, die in jener
Zeit dem Brautpaar gesagt und gesungen wurden. Beuggen hatte damals
schon seine Hauspoeten. Die Blätter sind mit verschlungenen Händen und
Vergißmeinnichtranken nach Art jener Zeit verziert. Auch zwei kostbare
Briefe liegen mit dabei, in sorgfältiger Abschrift. Der eine ist
gerichtet »an die liebe Braut Maria, von dem ebenso innigen als geringen
Freund des ganzen Hauses Fellcian Zaremba“. Er führt darin ein Wort an,
das heute noch wie ein süßer Duft das Herz erfreut:
„Die Gottseligkeit ist wie ein köstliches Öl in zartem Gläslein, welches
am besten verwahrt wird, wenn man es verborgen hält. Sehet nur zu, daß
ihr Gott gefallen möget. Euer Hauptschmuck und Krone sei Gottes Gnade.
Eure Halskette viele Sprüche der Schrift. Eure Perlen Buß-, Gebets- und
Liebestränen, euer Kleid die Gerechtigkeit des Glaubens und die
Gottseligkeit, euer Flor die Demut, eure Weiße Leinwand ein unbefleckter
Wandel, euer Spiegel das Gesetz und das Leben des Herrn Jesu, euer
Gespräch das Gebet, euer Reichtum der Himmel, so werdet ihr eine Braut
Christi sein.“
Der zweite Brief ist von David Spleiß, dem bekannten und gesegneten
Pfarrer von Buch, der, wenn ich nicht irre, Marias Pate war, an seine
«liebe, wohlberufene und gesegnete Maria“. Er spricht seine Freude aus
über »diese ihre ehrenreiche, heitere und ernste göttliche Berufung“ und
fährt dann fort:
„Ja freilich erschrecken, durch und durch erschrecken würde auch ich ob
der Größe, der Schönheit, der Verantwortlichkeit und Wichtigkeit des
vorgelegten Werkes, wüßte ich nicht, zugleich auch aus Erfahrung, wie
Er, der Herr, der Erzhirte, bei dergleichen Verordnungen mit seinen
Knechten und Mägden verfährt und handelt, unsere Sünden und so tief
verborgen eingerankten Gottlosigkeiten bedeckt, versöhnt, sie - so es
uns mit durchgreifendem Ernst darum zu tun ist - heilt und uns mit
seinem heiligen Blut besprengt für und für. Er, der (ach, lieb Kind, es
ist nicht auszusprechen, w i e) barmherzige und mitleidige Hohepriester
im Himmel.“
Welche Kraft des Zeugnisses ist in solchen Briefen, trotz der
verschlungenen Sätze!
Die Hochzeit fand am 23. Mai 1834 in der Kirche von Grandval statt, die
von den Talbewohnern geschmückt und beinahe in einen Garten verwandelt
worden war. Die jungen Missionsleute hielten sich danach noch einige
Tage in Crémines auf, und Abend für Abend fanden in dem uns aus früheren
Abschnitten bekannten elterlichen Wohnzimmer gut besuchte Versammlungen
statt. Mehr als ein junger Mann datierte von jenen Tagen seine Berufung
in das große Erntefeld der Mission.
Noch einmal ging’s nach Beuggen zum schmerzvollen und doch trostreichen
Abschied. Auf der Weiterreise, die in der Ära der Postkutschen so viel
mehr Zeit nahm als heute, sollte ein befreundetes Pfarrhaus besucht
werden. Ungeduldig wartet der Pfarrherr an der Gartentür auf seine
Gäste, die noch immer nicht erscheinen. Ein Landmann kommt des Weges.
„Habt Ihr nicht einen Herrn und eine Dame auf dem Wege getroffen?“ wird
er gefragt. „Ich weiß nicht recht,“ ist die bedächtige Antwort. „Ein
Reisewagen kommt da gerade die Halde herauf. Neben den Pferden geht ein
großer Herr, aber im Wagen sah ich nur ein kleines Mädchen.“ Der Pfarrer
errät den Zusammenhang bald, und manch neckender Scherz wird der jungen
Frau an jenem Abend zuteil. Sie bleibt still. Aber als sie nachher mit
ihrem Gatten ins Gastzimmer geführt wird, da hört alles Scherzen auf.
Bitterlich weinend sagt Maria: „Ach. ich weiß es ja wohl, daß ich gar
nicht würdig bin, eine Missionsfrau zu sein. Es ist ja wahr, ich bin
noch ein Kind. Aber nun ist’s ja zu spät!“
Doch das „kleine Mädchen“ hatte nur zu bald Gelegenheit, sich als eine
Heldin zu beweisen. Schon auf der Reise lernte sie unter Anleitung ihres
Mannes mit allem Eifer die amharische Sprache und machte so gute
Fortschritte, daß sie bei der Ankunft in Abessinien gut genug sprechen
und lesen konnte, um sich unter den Eingeborenen nützlich zu machen. Ihr
liebes amharisches Testament ist mir heute ein wertvoller Besitz.
Aber in ihrem Missionsdienst gab es weniger zu tun als zu leiden. Die
Angst, die Mühsale und die Not während der schon erwähnten langen
Krankheitszeit des Gatten sind nicht aufzuzählen. Als am 2. August des
folgenden Jahres ihr erstes Kindlein zur Welt kam, da lag mein Vater in
einer Ecke des Zimmers, zur Wand gekehrt, auf seinem Schmerzenslager und
war nicht imstande, sich nur umzukehren, geschweige denn ihr
beizustehen. Sie hatte bei äußerst mangelhafter Hilfe, um ihn zu
schonen, ihre Schmerzen lautlos getragen, und erst der Schrei des
Neugeborenen kündete dem Vater, wie es um sie stand. Da hob auch er
seine Stimme auf und weinte laut. Es war eine der bittersten Stunden
seines Lebens, und wenn er etwa einmal davon sprach, konnte er beifügen:
„O Kinder, ehret eure Mutter!“
In den folgenden Monaten kam sie selbst dem Tode nahe. Zweimal wurde sie
von der Cholera ergriffen und lag einmal schon kalt und bewußtlos da.
Ein glühend heißes Eisen, das in guter Absicht, aber mit ungeschickten
Händen auf sie gelegt wurde, rief sie aus der Starre wach, und sie war
gerettet.
Von der mühevollen Rückreise aus Abessinien, die im vorigen Abschnitt
kurz geschildert ist, möchte ich noch einige Einzelheiten nachholen.
Der Weg von Adoa über das Gebirge bis nach Massowa ging verhältnismäßig
gut von statten. Zwei gläubiggewordene Abessinier kamen mit und
leisteten unschätzbare Liebesdienste. Das süße Geplauder des vierzehn
Monate alten Töchterleins war Musik und Labsal für die geprüften Eltern.
Ein Schiff mit mangelhafter Einrichtung, ohne Kabine, brachte die
Reisenden in zehn Lagen von Massowa bis nach Djidda an der arabischen
Küste. Dort gab es mehrtägigen Aufenthalt, bis ein Schiff zur
Weiterreise gefunden werden konnte. Auch das war eine armselige Barke,
unrein und unbehaglich. Durch starken Gegenwind und allerlei
Zwischenfälle erschwert, dauerte die Fahrt von Djidda bis Kosseir
achtundzwanzig Tage. Die mit Rücksicht auf das Kindlein mitgenommene
Ziege versagte. Das Trink- und Kochwasser wurde faul und übelriechend,
die Nahrung somit völlig ungenügend. Endlich erreichte man Kosseir am
nubischen Strande.
Nun aber kam das allerschwerste Stück des Weges: ein Kamelsritt durch
den brennenden Wüstensand, von Kosseir bis Kene am Nil. “Nur mit
Schauder und Tränen kann ich daran denken,“ schreibt mein Vater. Das
elende Städtchen Kene, das nach sechs mühevollen Tagen erreicht wurde,
kam den Todesmatten vor wie ein kleines Paradies, und “das Bett in
Kene“, wenn es auch nur ein dürftiges arabisches Lager war, schien ihnen
der Inbegriff des Behagens. Und doch wie wehmütig war es den teuren
Eltern ums Herz! Kein Kinderlallen mehr erfreute der Mutter Ohr. Die
herzige kleine Sophie war schwer erkrankt und welkte sichtlich dahin.
Noch hoffte man, die Fahrt auf dem Nil würde sie beleben: aber als das
Schiff am achten Tage sich der Stadt Kairo näherte, da schloß das süße
Kind die Augen zu. Das müde Lamm ward ausgenommen in des Hirten Arm und
Schoß.
Mutter behielt die kleine Leiche die ganze Nacht in ihren Armen aus
Furcht, die Schiffsmannschaft möchte sie in die Fluten des Stromes
versenken. Das erste Geschäft des Vaters bei der Ankunft in Kairo war
die Bestellung des kleinen Grabes.
Genau achtzig Tage hatte die Reise von Adoa bis Kairo gedauert. Aus
doppeltem Grunde dürfen solche ergreifenden Tatsachen nicht vergessen
werden. Einmal ist es heilsam, zurückzudenken an die Schwierigkeiten und
Prüfungen, die unsere Missionspioniere erduldet und mit des Herrn Hilfe
siegreich ertragen haben. Und zum andern liegt darin eine mächtige
Aufforderung an unser Geschlecht, die Erleichterungen, die uns in
Eisenbahnen und Dampfschiffen und in dem ganzen modernen Verkehrswesen
gegeben sind, nutzbar zu machen zur Befolgung des Reichsbefehls unsers
Herrn: Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur!
Wenn unsern Vätern kein Preis zu teuer, kein Weg zu schwer war, sollten
wir zu träge und zu bequem sein, um das große Werk fortzusetzen?
Mutters Leben war naturgemäß ganz eins mit dem unsers Vaters, und ich
will hier nicht schon Erzähltes wiederholen. Nur ein Wort fällt mir ein
beim Gedanken an die zehnjährige Wander- und Wartezeit 1836 bis 1846,
ein Wort, das mancher Ehefrau eine lichte Spur zeigen kann. Es heißt:
“Wenn es deinem Manne je schwer ums Herz ist, so siehe zu, daß du es ihm
nicht noch schwerer machst durch Klagen und Verzagtheit.“
Nach dieser Regel handelte unsere Mutter, gelehrt durch Gottes Geist.
Und nun kam das Leben in Jerusalem. Die teuren Eltern hatten gelernt,
niedrig zu sein; nun kamen sie in eine andere Klasse der göttlichen
Schule und mussten lernen hoch sein (Phil. 4,12). Die neue Stellung
brachte viele neue Aufgaben. Mütterleins ganze Art und Veranlagung, ihr
schlichtes, „fadengerades“ Wesen konnte sich nicht immer so leicht
anpassen in die Erfordernisse der neuen Umgebung. Aber sie kannte den
herrlichen Helfer. Unter ihren schriftlichen Aufzeichnungen findet sich
folgendes Gebet aus dieser Zeit: „O Herr, laß mich sein eine Mutter in
Israel, eine Priesterin in deinem Hause und in meiner Familie! Laß mich
sein eine Maria, die zu deinen Füßen sitzt, eine Maria, die als deine
Magd deine Worte bewegt in ihrem Herzen!“
Sie wurde wirklich eine Mutter der Gemeinde und hatte ein
verständnisvolles Herz für alle. Wieviel Not und Schmerz hat sie
gestillt, nicht nur durch milde Gaben, sondern durch persönliche
Aufopferung. Sie besuchte nicht nur die Kranken, sondern sie half sie
pflegen. Eine ältere zierliche abessinische Frau hatte, wie so manche
ihrer Landsleute, eine Pilgerfahrt nach Jerusalem gemacht und stand am
Ende der Reise elend und völlig mittellos da. In ihrer heimatlichen
Provinz Schoa hatte sie den Rang einer Prinzessin gehabt, und auch hier
in der Armut, die sie umgab, wußte sie eine gewisse Vornehmheit zu
bewahren, die etwas Rührendes hatte. Wir bewohnten damals gerade (wie
öfter im Sommer) einen Teil des Schulhauses auf Zion, und der müden
Abessinierin wurde ein Kämmerchen oben bei dem flachen Dache des Hauses
angewiesen. Da erkrankte sie plötzlich. Mutter ging hinauf, nach ihr zu
sehen, und kam zurück mit dem Bescheid, es stehe sehr ernst, sie wolle
sich nur umkleiden und dann bei ihr bleiben, solange es nötig sei. Es
war Cholera. Ach, jenen Abend vergesse ich nicht! Es war schwer, fern zu
bleiben und unsere zarte Mutter mit der Kranken allein zu lassen. Aber
sie tat es nicht anders, und es ging auch nicht lange. Nach wenigen
Stunden kam sie, müde und erschöpft, aber ganz friedlich wieder
herunter. Die abessinische Pilgerin hatte ausgelitten.
Mutters kleines grünes Empfangszimmer hätte viel erzählen können. Wie
mancher Ehestreit, namentlich unter den arabischen Gemeindegliedern,
wurde da geschlichtet, wie manches Bekenntnis abgelegt, wie mancher Rat
gepflogen in Sachen der Schulen und anderer Bestrebungen. Mutter war
eine wahre Gehilfin ihres Mannes, dabei aber als echte Tochter Saras ihm
untertan, und nannte ihn Herr und fürchtete keine Schrecknisse (1. Pet.
3, 6).
Ein lieblicher Zug schwebt mir vor. Einst meldete unser arabischer
Diener Vssa einen Besuch. Vssa hatte durch langjährige Gewohnheit Übung
bekommen im Empfang der zahlreichen Gäste, die in den verschiedensten
Angelegenheiten ins Bischofshaus kamen. Er wies die einen ins
Empfangszimmer, die anderen in Vaters Studierzimmer, wieder andere bat
er zu warten. Den heute vorsprechenden Reisenden mit dem geistvollen
Gesicht und doch so bescheidenen Anzug wußte er nicht gleich
unterzubringen und tat das einzig Richtige: er bat die Mutter, sie
möchte doch selbst kommen. Sie ging, und wir schauten interessiert zu.
Da stand in dem offenen Hausflur, wie man sie in den meisten
orientalischen Häusern hat, ein alter, ehrwürdiger Mann in etwas
absonderlicher grauer Kleidung und schüchterner Haltung. Mutter ging
freundlich auf ihn zu, und kaum hatte er ein Wort gesagt, offenbar
seinen Namen genannt, so streckte sie ihm mit leuchtenden Augen beide
Hände entgegen, führte ihn hinauf in ihr grünes Zimmer und nötigte ihn,
es sich auf dem Divan bequem zu machen und sich zu erfrischen. Dabei
sprach sie ein so fröhliches, sicheres Schweizerdeutsch, wie wir es von
ihr noch selten gehört hatten. Ihre Freude war groß. Kein Wunder. Der
Mann war Daniel Schlatter von St. Gallen (einer der Söhne jener in
christlichen Kreisen hochverehrten Frau Anna Schlatter). der
„Tataren-Schlatter“, wie man ihn nannte, weil er seine schönsten
Jugendjahre unter den Tataren Südrußlands zugebracht, um ihnen das
Evangelium zu bringen und vorzuleben. Im hohen Alter von fünfundsiebzig
Jahren war er auf die Pilgerfahrt nach dem Heiligen Lande gegangen, um
die Stätten zu sehen, die des Heilands Füße einst betreten haben. Er war
von Jaffa zu Fuß herauf gewandert nach Jerusalem, hatte den Ölberg
besucht und wollte nun frohen Herzens und von der Hoffnung auf die
baldige Wiederkunft des Herrn beseelt, wieder nach Hause reisen. Wie
genoß Mutter jenes Beisammensein! Es war mehr als das Wiedersehen mit
dem schweizerischen Landsmann. Es hieß da:
Und wenn sich die Bürger von Zion\
Begegnen im irdischen Land,\
Da fühlen sie eng sich vereinigt\
In heiligem, ewigem Band.
Doch das eigentliche Reich der Mutter ist der Kinderkreis, und meiner
Mutter Bild wäre unvollkommen, wenn ich davon schwiege. Ihr größtes und
wichtigstes Anliegen war, wie es sich denken läßt, ihre Kinder zu Jesu
zu führen, sie mit ihm bekannt zu machen. Durch ihre wunderschönen
Erzählungen von ihm hat sie ihn uns frühe sehr lieb gemacht. Das ist
vielleicht eine der höchsten Dienstleistungen, die ein Mensch dem
anderen tun kann.
Und dann, wie viel hat sie mit uns gesungen! Ich kann es nicht besser
ausdrücken als in den Versen:
O wohl dem kleinen Kinde,\
Dem seine Mutter singt,\
Dem durch die Jugendträume\
Manch heil’ge Weise klingt!\
Denn niemals wird verstummen\
Das Lied so sanft und leis,\
Es wird noch mächtig tönen,\
Wenn’s Kindlein ist ein Greis.
Mir ward solch Glück bescheret,\
Ich dank es, Mutter, dir;\
Du hast damit gestiftet\
Ein reiches Erbteil mir.\
Denn wenn aus meiner Harfe\
Manch schlichtes Lied erschallt,\
So ist’s, weil tief im Herzen\
Dein Lied noch widerhallt.
Drum fort und fort soll klingen\
Der frohen Kindheit Ton,\
Und, was du mir gegeben,\
Sei deiner Liebe Lohn;\
Bis mich mein Hirte rufet\
In seinen Arm und Schoß\
Und ich auf ewig singe:\
Ja wohl, mein Glück ist groß!
Freude, gesunde, natürliche Freude ist ein wirksames und notwendiges
Erziehungsmittel. Wieviel Kostbares könnte ich da erzählen! Da gäbe es
zu sagen von den schönen Spaziergängen und Ausflügen, die wir mit den
Eltern machten an Orte, deren jeder eine heilige Erinnerung wachruft.
Ich müßte die Blumen beschreiben, die in den ersten Monaten des Jahres
die sonst so kahlen Hügel Judäas schmücken: die glänzend rote Anemone,
wohl “die Lilie auf dem Felde“, die unser Heiland mit der königlichen
Herrlichkeit Salomos verglich: dann die üppig aus Felsenspalten
hervorwachsenden Zyklamen, die grüne Arumpflanze, die zarte himmelblaue
kleine Iris und das schöne Blutströpfchen, das wir am liebsten in der
Nähe des Gartens Gethsemane suchten. Blumen zu pflücken und zu trocknen
ist einem jeden echten Jerusalemer Kind ein Teil seines
Lebensinteresses.
Am aller-, allerschönsten war es, wenn wir in den Sommermonaten unter
Zelten wohnten in der Nähe der Quelle von Nephtoa, dem heutigen Lifta.
Gern würde ich erzählen von den alten Ölbäumen, unter denen wir des
Sonntags — der für uns ein Tag der Freude war — im engen Familienkreis
oder in zahlreicherer Versammlung zusammenzukommen pflegten. Gern möchte
ich meine Leser führen zu dem einsamen, mächtigen Feigenbaum dort am
felsigen Abhang, von dem aus man das Minaret Nebi Samuels im Strahl der
untergehenden Sonne so traumhaft herüberleuchten sah. “Gerade wie St.
Chrischona bei Basel,“ sagten manchmal Gäste aus der Schweiz. Wie wenig
ahnte ich damals, daß ich nach kurzen Jahren das Kirchlein von St.
Chrischona sehen, daß es meine Heimat werden und mir noch lieber sein
würde als der schlanke Turm von Nebi Samuel, der meiner Kindheit Wonne
war.
Nur einmal, während eines schönen Sommers, hatten die Eltern die Freude,
die sieben Kinder, die der Herr ihnen geschenkt und erhalten hatte —
zehn war die Vollzahl —, zusammen um sich zu haben. Der älteste Bruder
war schon zur Erziehung nach Europa gegangen, als das jüngste Kindlein,
Friedrich Wilhelm, geboren wurde. Zwei Brüderchen waren, samt jenem
ersten abessinischen Blümlein, frühe verpflanzt worden in den
himmlischen Garten.
Und mit den Jahren wurde es im Elternhause immer stiller. Ein Kind um
das andere erhielt sein eigenes Heim und seine besondere Wirksamkeit. Da
war es eine große Freude, daß die Eltern uns in der Schweiz öfter
besuchten und ihren Kindern und Kindeskindern etwas von dem Segen
mitbrachten, mit dem Gott ihr Leben gekrönt hatte. Zum letztenmal kamen
sie im Jahre 1873. Im Freundeshause Sarasin in Riehen brachten sie die
Sommermonate zu. Das war ein herrliches unvergeßliches Beisammensein für
uns alle.
Aber als der teure Vater im Herbst erkrankte, da hatten beide Eltern nur
das eine Verlangen: Heim nach Jerusalem! An Mutters Geburtstag, dem Tag,
der uns Kindern stets ein Fest der Freude gewesen war, wurde diesmal ein
wehmütiges Abschiedsfest gefeiert. Die Enkel sangen:
Wir hätten dir so gerne\
Gewunden einen Kranz\
Aus tausend schönen Blumen,\
Voll Duft und Farb’ und Glanz.
Doch alle Blümlein schlafen\
Ganz heimlich zugedeckt;\
Vergißmeinnicht und Veilchen\
Sind still im Schnee versteckt.
Drum möchten wir heut’ selber\
Dein Festtagskränzchen sein.\
Und alle froh umringen\
Dich, lieb Großmütterlein!
Und können wir nicht krönen\
Dein liebes Haupt zur Zier,\
Wir winden um so fester\
Uns um das Herze dir.
Bald wird ein Tag erscheinen,\
Viel schöner noch als heut’,\
Der alle sel’gen Frommen\
Vereint in Ewigkeit.
Da wird dein Auge spähen\
Nach deinem Kinderkranz:\
O möchtest dort du finden\
Auch unser Kränzchen ganz!\
Vater drückte innig der Mutter Hand und sagte unter Tränen: „Ja, spähen
werden wir, bis sie alle, alle kommen.“
Von Vaters Heimgang habe ich im vorigen Abschnitt erzählt und will nicht
mehr darauf zurückkommen. Auch Mutter war dem Ziele schon ganz nahe. Bei
dem tiefen Trennungsschmerz war sie doch innerlich gehoben und getragen
durch das Miterleben des siegreichen Endes dessen, den sie so lange und
treu geliebt und mit dem sie sich so innig eins wußte. Nur elf Wochen
nach seinem Heimgang kam der Ruf an sie. Nach wenigen Tagen der
Krankheit, in denen ihr gläubiges, liebendes, dankbares Gemüt so
wohltuend zutage trat, schlief sie sanft ein am 1. August 1879.
O Mutter, Mutter! Was wird es sein, wenn wir am Morgen erwachen und auf
ewig daheim sind im großen, schönen Vaterhaus!
Unter einem alten Ölbaum des von meinem Vater angelegten Friedhofs auf
Zion ruhen nun die beiden, die im Leben für viele „holdselig und geliebt
und im Tode nur kurz geschieden waren“ (2. Sam. 1, 23). Ein Stein
bezeichnet die friedliche Stätte. Unter den teuren Namen steht in
deutscher, englischer, hebräischer und arabischer Sprache das große
Siegeswort: „Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem
Tempel meines Gottes, und soll nicht mehr hinausgehen, und will auf ihn
schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des Neuen Jerusalems,
der Stadt meines Gottes, und meinen Namen, den neuen.“ (Off. 3, 12.)
Aus frühester Jugend
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In schattenhaften Umrissen und doch ganz bestimmt weiß ich mich zu
erinnern, wie ich einmal als kleines Kind in das elterliche Wohnzimmer
zu Jerusalem gerufen wurde und dort einen fremden Mann in einem
Lehnstuhl am Fenster sitzen sah. „Komm, mein Kind,“ sagte mein Vater,
„gib diesem Herrn die Hand; er ist dein größter Wohltäter.“ Schüchtern
kam ich herzu. „Also das ist das kleine Mädchen,“ sagte der Fremde, nahm
mich auf die Knie und schaute mich so freundlich an, daß mir’s ganz wohl
wurde ums Herz.
Das ist alles, was ich von dieser Begegnung weiß. — Es hatte aber damit
folgende Bewandtnis:
Der Herr war ein hervorragender englischer Arzt, Dr. Adair Crawford.
Ihn hatte mein Vater konsultiert nach seiner Rückkehr aus Abessinien,
und aus der Begegnung der beiden Männer war eine herzliche Freundschaft
erwachsen. Etliche Jahre später, als meine Eltern in großer Sorge waren
um mich, weil mein Nervensystem infolge einer schweren Gehirnentzündung
gelitten hatte, gab Dr. Crawford so gute Ratschläge sowohl für die
körperliche als besonders auch für die seelische Behandlung des Kindes
(sanfte Festigkeit und große Stille waren das bemerkenswerteste), daß
bald, durch Gottes Güte, entschiedene Besserung eintrat. Darum wurde ich
frühe gelehrt, mit Liebe und Dankbarkeit des Mannes zu gedenken, der
meinen Zustand so gut verstanden und mir zur physischen und psychischen
Genesung geholfen hatte.
Diese Begebenheit, so wichtig sie für mein späteres Leben gewesen sein
mag, hätte doch nicht in den Rahmen dieses Buches gepaßt, wenn nicht die
Geschichte des Mannes so bedeutungsvoll gewesen wäre, daß ich mich
freue, sie hier mitteilen zu dürfen. Ich tue es in den Worten eines
anderen, der sie so schön erzählt hat, daß jede Änderung ein Schaden
wäre. Er schreibt:
„Es war im Jahre 1838, daß ich eines Tages mit dem teuren Missionar
Samuel Gobat, der nicht lange zuvor als kranker Mann aus Abessinien
zurückgekehrt war, durch die Straßen von London ging. Ich wollte ihn zu
einem der ersten Ärzte begleiten, der mit Gobat befreundet war und der
uns eingeladen hatte, bei ihm den Tee zu trinken. Als wir sein Haus
erreicht, führte man uns erst in ein behaglich ausgestattetes großes
Zimmer, wo wir den Arzt erwarteten. Unter allem, was mich umgab, fiel
mir ein kleiner Kindersessel auf, der, ohne in die übrige Einrichtung
hineinzupassen, in dem Zimmer stand. Er schien daraus hinzuweisen, daß
der Arzt Familienvater sei. Darauf deuteten auch die lieblichen
Bildnisse von Kindern, die ein größeres Frauenbild umgaben. Endlich trat
der Doktor herein und begrüßte uns mit Wärme.
Nach den ersten Fragen und Verhandlungen über Gobats Gesundheit wurden
wir in das Speisezimmer gerufen, wo ich die Familie des Arztes zu
treffen erwartete. Allein zu meiner Verwunderung sah ich nur drei
Gedecke. So nahm ich bald Veranlassung, unsern liebenswürdigen Wirt zu
fragen, ob die Seinen vielleicht abwesend seien, denn teils die Bilder,
teils der kleine Kindersessel hätten mir gezeigt, daß der Herr ihm eine
zahlreiche liebliche Familie geschenkt habe.
»Abwesend?« erwiderte der Arzt mit einem eigentümlich schmerzlichen
Ausdruck im Gesicht. »Nein, sie sind daheim!«
Ich wußte mir die Sache nicht recht zu deuten und schwieg. Auch er
schien in Gedanken versunken. Nach einer Pause jedoch nahm er das
Gespräch wieder auf: »Sie werden mich nicht ganz verstanden haben. Die
Dame, deren Bild Sie sahen, ist mein liebes, teures Weib, und die sieben
Kinder um sie her sind meine geliebten Kinder. Der Herr aber, der sie
mir geschenkt, hat sie mir alle wieder genommen. Sie sind daheim bei
Ihm. Ich bin allein zurückgeblieben in der Fremde.«
Er hielt inne und suchte seine tiefe Bewegung niederzukämpfen.
»Das letzte meiner Kinder,« fuhr er dann fort, »mein süßer Liebling,
pflegte auf dem kleinen Stuhle, den Sie sahen, bei mir zu sitzen, wenn
ich arbeitete, und war mein Trost in meiner Trübsal. Aber auch dieses
letzte mir zu nehmen, fand die Weisheit meines Gottes für gut, auf daß
Er selbst mir alles würde!«
»Ich habe,« fuhr er nach einer Pause fort, »den Herrn zuvor nicht
gekannt. Ich habe mir selbst und der Welt gelebt, und mein Schatz waren
mein Weib und meine Kinder. Aber es ging mir wie einem Schiff, das man
vom Stapel läßt. Das liegt stolz und sicher auf dem schiefen Damm, wo es
gezimmert wird, bis seine Stunde kommt. Da wird zuerst rechts und links
eine Stütze um die andere weggenommen, bis zuletzt nur noch ein
schwaches Tau es auf seiner abschüssigen Fläche festhält. Aber auch
dieser letzte Halt wird mit der Axt durchgehauen, und das schwanke,
bebende Schiff gleitet hinab in die weite, tiefe Meeresflut. Ja, so ist
es mir gegangen. Aller irdischer Halt ist mir von der Hand des Herrn
genommen, auch das letzte Ankertau ist abgehauen, so daß ich erbebte und
sank und hinabstürzte. Aber,« und hier verklärte sich sein Angesicht,
»aber ich bin nicht in den Abgrund gestürzt, sondern mein Schifflein
schwimmt nun auf dem Meer der Erbarmung Gottes.«
Oft habe ich jenen teuren, vielgeprüften Arzt in London wieder besucht.
Um ihn her ist alles anders geworden. Nachdem er an den Sterbebetten
seiner Lieben den Fürsten des Lebens gefunden, ging sein ganzes
Bestreben dahin, diesem Lebensfürsten mit all seinen Gaben und Kräften
zu dienen.
Er bot zunächst der Kirchlichen Missionsgesellschaft an, daß er ihre
heimgekehrten invaliden Missionare unentgeltlich in seine Kur und Pflege
nehmen wolle, was er auch mit aller Treue tat. Das genügte ihm jedoch
nicht. Die Sehnsucht, den Ruhm seines Gottes und Heilandes laut zu
verkündigen, veranlaßte ihn, seinen ärztlichen Beruf mit dem eines
Predigers zu vertauschen. Er bezog in vorgerücktem Alter noch für ein
Jahr die Universität von Oxford und wurde durch den Bischof ordiniert.
Was er im Leiblichen verloren, das schenkte ihm der Herr in geistlicher
Weise: eine Schar von Söhnen und Töchtern, die durch ihn zum
wahrhaftigen Leben gekommen sind. Er hatte alles verloren, aber alles
gewonnen.“ Soweit die Erzählung des Freundes.
Nicht wahr, mein Leser versteht es nun, warum ich diese Geschichte so
gern in meine Annalen geflochten habe und warum ich diesen Mann gern in
die Reihe derer stelle, durch die mein Leben gesegnet worden ist?
Noch ein Name aus fernster Jugendzeit soll hier genannt werden, ein
Name, der nicht nur durch flüchtige Begegnung mir teuer geworden,
sondern durch sechs Jahrzehnte hindurch meinem Herzen teuer geblieben
ist.
Frau Jenny Palmer war als junges Mädchen zu uns gekommen, um meiner
Mutter eine Stütze und uns Kindern eine Pflegerin zu sein. Jenny Givel
hieß sie damals, und das liebliche Städtchen Payerne in der Waadt war
ihre Heimat. Wann sie bei uns eingetreten ist, das entzieht sich meiner
Erinnerung: ich war noch zu klein. In Kinder-stuben-Ausdrucksweise hieß
es: „Sie ist schon immer dagewesen.“ Ob sie wirklich so schön war, wie
meine Erinnerung es mir vormalt, weiß ich nicht. Sie hatte tiefblaue
Augen und ein sonniges Lächeln und war noch im Alter eine so angenehme
Erscheinung, daß ich mich wohl nicht täusche über ihre Jugendzeit. Sie
war immer fleißig. Ein Schlüsselbund rasselte an ihrer Seite. Ein Korb
mit Flickstrümpfen war stets vorhanden, und ich fürchte, wir sorgten
dafür, daß er nie lange leer blieb. Was sie alles zu tun hatte, kann ich
nicht sagen. Eins aber weiß ich: Sie hat die gewöhnlichsten Arbeiten mit
einem so frischen Hauch nicht nur von Liebe, sondern auch von echter,
reiner, ich darf wohl sagen göttlicher Poesie zu umgeben gewußt, daß es
mir heute noch unvergeßlich ist. Alles in der Natur ward ihr zum
Sinnbild ewiger Wahrheiten.
Noch viel bewußter genoß ich den Umgang mit ihr in späteren Jahren. Sie
hatte sich mit dem Oberlehrer unserer Zionsschule, Herrn Ferdinand
Palmer, verheiratet, und ihr Haus wurde für unsere ganze Familie ein
zweites Heim. Die Pflegerin meiner Kindheit war die vertrauteste
Freundin meiner reiferen Mädchenjahre. Da verstand ich noch viel besser
als früher, wie alles Irdische ihr ein Spiegelbild des Himmlischen war.
Ob sie ihr Zimmer reinigte oder am Herde stand — sie besorgte, solange
ich sie kannte, alle Hausarbeit allein —, ob sie Zitronen auspreßte oder
die roten Kerne des Granatapfels aus den trockenen Schalen
herausstreifte oder ob sie, wenn der schwüle Tag sich neigte, sich ein
Weilchen der Ruhe gönnte und wir durch das große, weite Fenster
hinunterschauten in das dämmerige Tal Gihon zu unseren Füßen und hinüber
zu den blau und rot schimmernden Bergen von Moab, immer und bei allem
hatte sie irgendeinen Gedanken oder eine Anspielung an Gott und sein
Wort. Und das war alles so natürlich und fein, daß es niemand
abgestoßen, sondern viele tief erbaut, ja manchen bis dahin
gleichgültigen Wanderer wie mit einem Magnet mächtig hingezogen hat zum
Unsichtbaren und Ewigen.
Sie sprach aber nicht nur, sondern sie besaß die höhere Kunst,
sorgfältig zuzuhören und mit liebendem Verständnis einzugehen auf die
Freuden und Leiden der anderen.
Ich will dem Wunsch nicht widerstehen, einige Auszüge aus Briefen
mitzuteilen, die sie mir während meiner Brautzeit schrieb. Sie sind so
schön und kenn- zeichnen so gut ihre ganz eigenartige Persönlichkeit,
daß es fast schade wäre, sie nicht nutzbar zu machen für andere. Sie
sind auf französisch geschrieben, und es tut mir leid, in der
Übersetzung nicht die ganze Schönheit der Sprache wiedergeben zu können.
Sie schrieb nach erhaltener Verlobungsanzeige, da ich mich auf einer
Reise in Europa befand:
„Ich stimme mit Dir ein in das Lob: Der Herr ist unendlich gut. O laß
uns immer mehr darauf bedacht sein, einem so guten Herrn treu zu dienen!
Ich habe Dir mit Absicht so lange nicht geschrieben: denn einesteils
wollte ich Dich recht still sein lassen mit dem großen Glück, das Dein
Herz erfüllt, und andernteils sah ich Deinen Bräutigam die ganze Zeit
nie, und hätte Dir somit nichts von ihm zu sagen gewußt. Und ich wußte
Wohl, daß Dein Herz doch nicht da wäre, wo er nicht ist. Wie gut wäre
es, wenn wir Christen immer in so bräutlichem Verhältnis zu unserem
Herrn Jesus lebten, daß wir alle Dinge dieser Welt beurteilten nach dem
einen Gesichtspunkt, ob Jesus mit dabei ist, ob sie uns von ihm
sprechen, an ihn mahnen, oder ob sie uns von ihm abziehen.“
In einem späteren Briefe heißt es:
„Das Glück, mein Liebling, das eheliche Glück ist zusammengesetzt aus
Hingabe und Selbstverleugnung und manchem stillen Weh. Von sich selbst
los sein, sich selbst vergessen, geben ohne nehmen zu wollen, das ist
das Wesen der Liebe, Dienen, dienen, immer wieder dienen, ohne das Recht
geltend zu machen, wieder bedient zu werden, das ist der Liebe
Bedürfnis. Lieben, weil man nicht anders kann als lieben, nicht weil man
wieder geliebt werden will, die eigenen Leiden und Nöte so viel wie
möglich im Verborgenen tragen und immer bereit sein, diejenigen des
geliebten Mannes zu teilen, ihm eine Gehilfin sein in allen Dingen und
zu allen Zeiten, das ist der wahren Liebe Glück.
Solches Glück sei Dein, mein vielgeliebtes Kind, ein Glück, das
einzigartig ist hienieden, ein Glück, das, wie mir scheint, in
besonderer Weise eine Zubereitung ist für den Himmel. Und neben der
ernsten, verleugnungsvollen Seite, die der Ehestand besonders für die
Frau hat, findet sie darin eine solche Fülle schöner, edler, süßer und
heiliger Freuden, wie sie sonst wohl nirgends auf Erden vorhanden sind,
Freuden, die, wenn wir sie vor Gottes Augen genießen, mit den Jahren nur
zunehmen und das Leben immer mehr weihen und verschönern.
Mein teures Kind, sei nur recht glücklich, sei guten Muts, schaue nicht
zurück, rechne immer auf die Kraft Jesu, die in den Schwachen mächtig
ist.“
Entgegen früherer Verabredung kehrte ich vor der Hochzeit nicht mehr
nach Jerusalem zurück. Bei der Ankunft im neuen Heim zu Alexandrien
erwarteten mich folgende Zeilen von meiner Jenny:
„Ich komme Dir entgegen. Ich warte auf Dich in Deinem Hause, um Dir ein
Wort des Willkomms zuzurufen. Ziehe ein, Gesegnete des Herrn, ziehe ein
in das Haus Deines Mannes, und sei glücklich, sei fröhlich, sei
nützlich, sei ein Segen für alle, die Dich umgeben! Sei ein Licht, das
mit sanftem Strahle glänzt, das durch Liebe wärmt, das in Hoffnung
ausharrt. Sei die Efeuranke, die den Eichstamm umgibt. Sei der
bescheidene Thymian, der die Luft mit süßem Wohlgeruch erfüllt. Sei ein
verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born!
O wie gern möchte ich Dich an mein Herz drücken, um Dir viel besser als
mit Worten sagen zu können, was mein Herz bewegt: meine tiefe
Dankbarkeit gegen den guten Herrn, der Dich in der Vergangenheit so treu
geführt, und meine frohe Zuversicht für Deine Zukunft als
Lebensgefährtin eines solchen Mannes! Lebenslang Deine getreue Jenny
Palmer.“
Nach meiner Abreise von Jerusalem wurde unser Umgang naturgemäß ein
anderer, wiewohl wir durch Korrespondenz verbunden blieben. Ihre Briefe
hatten, ähnlich wie die angeführten Proben, stets etwas Stärkendes und
Erhebendes, immer mehr auf den Heiland Hinweisendes. Einmal, nach vielen
Jahren, hatte ich die große Freude, sie in meinem Heim zu St. Chrischona
zu empfangen. Ihr Leben als Gattin und Mutter brachte ihr nach Gottes
Rat Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Aber in allem war
er ihr nahe. Eine besonders große, heilige Freude war für sie die
Verheiratung ihrer jüngsten Tochter, meines lieben Patenkindes, mit dem
früheren Kunstmaler und nachherigen Missionar Frederic Christol.
Sechsundzwanzig Jahre lang hat dies liebe Paar im Lessouto in Südafrika
gearbeitet, und als sie sich 1908 in den Ruhestand begeben mußten, da
hatten sie die Freude, zwei Söhne als Missionare und zwei Töchter als
Missionarsfrauen zurückzulassen in dem dunkeln Erdteil, in dem das
Evangelium schon so viele Helle Lichtlein angezündet hat. Mutter Palmer
hat als treue Priesterin diese ganze Arbeit auf betendem Herzen
getragen.
Im Jahre 1892 ging ihr treuer, frommer Gatte nach
sechsundvierzigjähriger Wirksamkeit im Heiligen Lande zur Ruhe des
Volkes Gottes ein.
(Er war im Jahre 1846, zusammen mit Conrad Schick, dem späteren Baurat,
als einer der ersten Pilgermissionare von St. Chrischona ausgesandt
worden.)
Etliche Jahre nach seinem Heimgang machte die Witwe einen längeren
Aufenthalt in Frankreich, wo ihre Afrikakinder gerade im Urlaub weilten.
Dies brachte sie in Berührung mit vielen Missionsfreunden, denen der
Umgang mit ihr eine Freude und Glaubensstärkung war. Beim Jahresschluß
1900 schrieb sie: „Als unser lieber Vater heimging, sagte er mir: »Du
wirst bald nachkommen!« Nun sind seither acht Jahre vergangen, und ich
bin noch immer auf der Reise.“ Aber das Ziel war nicht mehr fern. Am 19.
Februar 1901 ging sie zu ihrem Herrn als eine Gesegnete, die für viele
ein Segen war, auch für mich.
Beim Niederschreiben dieser Erinnerungen scheint es mir, ein solches
Leben sei gerade für unsere Tage eine Mahnung und eine Ermunterung. Es
bestätigt die Wahrheit, die so leicht in Vergessenheit gerät, daß wir
viel mehr wirken durch das, was wir sind, als durch alles, was wir sagen
oder tun können. Es ist schmerzlich, wahrzunehmen, wieviel Mühe man oft
hat, Gehilfen und Gehilfinnen zu finden für bescheidene und
untergeordnete Posten. Man will lieber herrschen als dienen, lieber
führen als folgen, lieber reden als arbeiten, lieber den Dienst wählen
als dem Dienstherrn zur Verfügung stehen. Wohl allen, die Ihm gehorchen,
daß sie warten an dem Pfosten seiner Tür täglich, damit er ihnen ihre
Arbeit anweise, wie er will! Und dreimal wohl denen, die auch das
Verborgene und Geringe gern tun um seiner Liebe willen!
Ein gesegneter Kreis
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Von den Onkeln und Tanten war in meinem Geschwisterkreis viel die Rede.
Es war dies ein Sammelname für Personen, die wir mit einer einzigen
Ausnahme nicht kannten und doch liebten. Wir beteten alle Tage für sie
und hatten uns durch Mutters Erzählungen, denn ich rede jetzt von ihrer
Familie, ein gewisses Bild von ihnen gemacht, das uns hochinteressant
war. Wir waren auch in dieser Beziehung sehr bevorzugt und zwar
quantitativ sowohl wie qualitativ. Mutter hatte neun lebende
Geschwister, von denen sechs durch Verheiratung noch weitere Onkel und
Tanten in den reichen, zuletzt siebzehngliedrigen Kreis brachten. Als
wir heranwuchsen und nach Europa kamen, lernten wir sie der Reihe nach
kennen, und ich habe von den meisten von ihnen Eindrücke und
Erinnerungen bewahrt, die zu den mir voranleuchtenden Segensspuren
gehören. Die Männer waren sämtlich Theologen oder Pädagogen, mit
Ausnahme eines lieben gläubigen Fabrikanten, der wie jener Kaufmann im
Gleichnis die Eine köstliche Perle, Jesum Christum, gefunden und alles
Eigene verlassen hatte, um ihn zu gewinnen. Die Frauen waren begabte,
fromme, einfache Persönlichkeiten, die den Stempel ihrer
gottesfürchtigen Erziehung in die verschiedenen Kreise trugen, wohin sie
von ihrem großen Herrn gestellt wurden.
So lieb mir das Andenken aller ist, kann ich hier doch nur von einzelnen
erzählen.
Freundlich lebt in meiner Erinnerung das Bild des traulichen
Württembergischen Pfarrhauses in Fellbach, wo Onkel und Tante Werner
lebten. Ihr Haus war stets unser Absteigequartier, wenn wir alle paar
Jahre nach Europa zu Besuch kamen. Mit inniger Dankbarkeit und etwas
nachträglicher Beschämung denke ich daran, welche Mühe und Unruhe es
verursacht haben mag, uns alle, Vater, Mutter, mehrere Kinder und dazu
viel Gepäck, unterzubringen. Aber von Mühe und Unruhe merkte man nichts,
sondern mit lauter Wohlwollen und Freude wurden wir empfangen, sowohl
von den lieben Hauseltern als von den zahlreichen Vettern und Basen. Und
wenn man dann nach all den Begrüßungen im Wohnzimmer angelangt und um
den Tisch versammelt war, da stimmte der große, stattliche Onkel, noch
ehe man sich setzte, ein Loblied an, etwa: Nun danket alle Gott! und
weihte so vom ersten Augenblick das Beisammensein durch Danksagung und
Gebet.
Abends nach dem Nachtessen pflegten Männer und Frauen aus der Gemeinde
sich zwanglos im Pfarrhaus einzufinden, die Männer in ihren gelbledernen
Kniehosen, mit ihren klugen Gesichtern und seinem Anstand, die Frauen
sittsam und nicht minder intelligent aussehend, jede mit ihrem
Strickzeug. Die Gemeinde sollte auch Anteil haben an dem Besuch aus
Jerusalem, und der Pfarrherr verstand es, durch allerlei Fragen den Gast
anzuregen zu Mitteilungen aus dem Missionsfeld. Eine Andacht beschloß
die schönen Abendstunden, und von den „Bauern und Weingärtnern“, die
gekommen waren, hat mancher Friederli und Hannesli ein gutes, kräftiges
Wort mitgesprochen. Mit Freuden denke ich noch heute, nach mehr als
einem halben Jahrhundert, an diese schönen Vereinigungen und setze die
Beschreibung hierher im Gedanken, sie möchten da und dort in Pfarr- und
Evangelistenhäusern Nachahmung finden. Es war keinerlei Bewirtung damit
verbunden, was solche Veranstaltungen oft erschwert oder gar
undurchführbar macht. Es kostete nichts als — Liebe und etwas Mühe beim
nachherigen Aufräumen.
Die Tante, anspruchslos und demütig, dachte nicht an sich, sondern
diente und sorgte und verschönte alles durch ihre lautere
Freundlichkeit. Wenn ich es auch damals nicht so hätte sagen können, so
fühlte ich es doch instinktiv, daß der liebliche Duft, den man im Hause
einatmete, zum großen Teil diesem bescheidenen Veilchen entströmte.
Ich sah die beiden noch in ihrem Alter, Onkel gebeugt wie eine volle
Ähre, oft fast zu sehr gedrückt durch das Gefühl von eigener
Unvollkommenheit, aber doch nicht wankend von dem festen Glaubensgrund,
den er in den Tagen seiner Kraft, wenn die Scharen auch von auswärts in
seine Kirche strömten, mit solcher Klarheit und Beweisung des Geistes
verkündigte. Tante blieb bis zuletzt ein frohes, seliges Gnadenkind,
klein in ihren eigenen Augen, aber stark in ihrem großen Heiland.
Eine besonders beliebte Persönlichkeit war Tante Sophie, die einzige
ledig gebliebene Zellertochter. Lange Jahre war sie ihrer Eltern treue
Stütze in Beuggen und dann während sechsunddreißig Jahren die Gehilfin
ihres Bruders Samuel in Männedorf.
Dort haben viele sie kennengelernt und sich an ihrer lauteren,
nüchternen und doch so warmen Frömmigkeit gefreut. Es war ein großer
Segen für den Bruder und für den ganzen Kreis von Mitarbeitern und
Mitarbeiterinnen, daß ihnen der Herr diese Hausmutter zuführte, so
urwüchsig und originell, so abhold allem, was nur frommer Schein und
Sentimentalität war, und dabei so beflissen, Gottes Willen zu tun. Von
ihr stammen die schönen ergänzenden Verse zu der Tholuckschen Strophe:
„Aus der Enge in die Weite,\
Aus der Tiefe in die Höh’\
Führt der Heiland seine Leute,\
Daß man seine Wunder seh’.“
Aus der Weite in die Enge,\
In die Tiefe aus der Höh’,\
Aus der Freiheit ins Gedränge\
Führt der Herr auch je und je.
Aus der Freude in die Trauer.\
Aus dem Glück in Schmerz und Leid,\
Ja, auch selbst durch Todesschauer\
Führt Er in die Herrlichkeit.
Wird dann gar die Welt zu enge,\
Läßt Er seinen Trost uns seh’n:\
Und sein Arm greift ins Gedränge,\
Daß wir fest und sicher geh’n.
Und dereinst nach allen Proben\
In der lichten Ewigkeit\
Werden wir den Heiland loben\
Für die Führung in der Zeit.
Ist in dem vorigen Abschnitt ein Loblied des ehelichen Glücks gesungen
worden, so soll Sophie Zellers ganzes Leben uns zeigen, wie reich und
froh ein jungfräuliches Leben sein kann, wenn es geführt wird in und mit
dem Herrn.
„Tante, warum hast du dich denn nie verheiratet?“ wurde sie einmal von
einem naseweisen Nichtchen gefragt.
Die roten Bäckchen der alten Tante wurden noch ein wenig röter, und die
Augen leuchteten hell und klar, als sie antwortete: „Weil ich immer so
glücklich war, daß ich dachte, ich könnte weniger glücklich werden.“
In der Tat, die oft Begehrte hatte sich das Los erkoren, das Paulus in
den Worten beschreibt: Welche nicht freiet, die sorget, was dem Herrn
angehört, daß sie heilig sei.
Hier ist das Geheimnis angedeutet, das auch ein einsames Leben verklären
und fruchtbar machen kann.
Erstens: dem Herrn angehören, ihn zum Bräutigam und Haupt erwählen, ihm
untertan sein, ihm folgen in allen Dingen nach dem schönen Wort:
Hab an Ihm, was nur dein Herz begehret,\
Denn Er will dir alles sein.
Zweitens: eine Arbeit haben, ein lebendiges Interesse, also daß man in
Wahrheit sorgt um das, was dem Herrn gehört, was er einem jeden
einzelnen zuweist, damit die Gedanken sich nicht konzentrieren auf das
eigene Ich.
Im hohen Alter ging es mit der teuren Tante noch durch eine schwere
Leidenszeit. Sie verletzte sich durch einen Fall die Hüfte und litt
manche Monate lang sehr. Eines Morgens fand ihr Bruder sie bei seinem
täglichen Besüchlein recht niedergedrückt. „Sophie,“ sagte er
freundlich, „denke an das viele Gute, das dir Gott dennoch tut. Jetzt
mußt du lernen sprechen: »Te Deum laudamus!«“ (Dich, Gott, loben wir!)
Den nächsten Morgen kam er wieder. «Nun, Sophie, wie geht es heute?“ —
„Te Deum laudamus!“ erwiderte sie mit etwas weinerlicher Stimme. „Das
ist wohl das rechte Lied,“ sagte er innig teilnehmend, „aber es ist
nicht die rechte Melodie.“
Sie hat aber auch die rechte Melodie noch gelernt. Der Herr schenkte ihr
körperliche und geistliche Erquickungsstunden und bereitete sie immer
mehr zu auf das selige Ende.
Von meinem Onkel, Professor Thiersch, sind mir manche ernste Eindrücke
geblieben. Dieser geistvolle Gelehrte hatte auch in seinen äußeren
Umgangsformen etwas so Reines und Hoheitsvolles, daß der Verkehr mit ihm
reichen Gewinn brachte. Auf dem Worte Gottes stand er unerschütterlich
fest, und trotz mancher abweichenden Ansichten fand man sich da in der
Einigkeit des Geistes zusammen. Zwei Worte von ihm sollen hier
festgehalten werden.
Es besuchte ihn, der bekanntlich der Apostolischen Gemeinde
(Irvingianer) beigetreten war, eine unglückliche Dame, die schon in
vielen verschiedenen Gemeinschaften und Denominationen den Frieden ihrer
Seele gesucht und nie gefunden hatte. Nun wollte sie es in der
irvingianischen Kirche probieren. Thiersch erkannte die Gefahr eines
solchen Herumirrens und entgegnete ihr ernst und feierlich: „Es ist ein
köstliches Ding, daß das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade,
und nicht durch irgend welche Lehrsätze und Formen, auch nicht durch die
der apostolischen Gemeinde.“
Und wunderschön ist noch ein anderes Wort: „Gott ist ein Gott der
Ordnung. Wie die Sterne ihren regelmäßigen Gang haben, so sollen sich
auch die Diener Gottes an Pünktlichkeit gewöhnen, besonders beim Dienst
im Heiligtum.“
Beuggen war und blieb der Mittel- und Sammelpunkt der Familie, auch nach
dem Heimgang der Großeltern. Onkel Reinhard, der zehn Jahre seines
Vaters Gehilfe und dann weitere dreißig Jahre Inspektor der Anstalt war,
wußte das alte Heim für seine Geschwister und deren Kinder nicht nur zu
einem traulichen Aufenthaltsort, sondern zu einer Stätte des Segens zu
gestalten. Er hatte eine besondere Gabe des Mitteilens göttlicher
Kräfte. Viele Jahre war erkrank an Gelenkrheumatismus. Das hinderte ihn
aber nicht, seine Arbeit zu tun. Es hinderte ihn auch nicht, wie er es
oft leuchtenden Auges bekannte, ein glückseliger Mensch zu sein. An
seiner Seite waltete die treue, umsichtige und hingebende Gattin, Tante
Elise, die nicht mit vielen Worten, aber mit vielen Taten liebte. Sein
älterer Bruder, Onkel Nathan, wirkte als Lehrer und Verwalter nahezu
vierzig Jahre lang neben ihm. Das war ein stiller, zurückgezogener
Charakter, der tief empfand, aber wenig äußern konnte. An einem
Familienfeste wurde er einst aufgefordert, auch ein Wort zu sprechen.
Das war sonst nicht seine Sache. Aber diesmal tat er es doch und sagte
mit von Tränen gehemmter Stimme, das Wörtlein und in Joh. 11, 5 sei ihm
zum Trost geworden. Jesus kenne und liebe jedes einzelne mit Namen,
nicht nur Martha und Maria und Lazarus, sondern auch Reinhard und Elise
und Nathan. — Als er wegen zunehmender Schwerhörigkeit von seinem
Lehrposten zurücktreten sollte, war es ihm zuerst sehr schwer, und er
konnte es kaum fassen. Doch fügte er sich still, traf seine Anordnungen
und wollte eben in den nächsten Tagen abreisen, als ein Herzschlag ganz
unerwartet seinem Leben ein Ende machte. In den vielen Wohnungen des
Vaters war für ihn der Platz bereit.
Bei einer anderen Familienzusammenkunft war’s, daß Tante Therese Werner
in ihrem hohen Alter noch einen Besuch in Beuggen machte. Sie saß in
stiller Freude neben dem kranken Bruder Reinhard, und man tauschte
Jugenderinnerungen aus.
„Ach,“ sagte der Onkel, „wie wenig Verständnis hatten wir doch in der
Kindheit für die herrlichen Dinge, die wir lernten! Wenn wir z. B. das
Lied sangen: Weil ich Jesu Schäflein bin, da hatten wir doch noch keine
Ahnung von dem unaussprechlichen Glück, das in diesen Wahrheiten liegt.“
„O ja,“ meinte die Tante. „Es ist wie der Strom, durch den ein Lamm
waten und in dem ein Elefant schwimmen kann.“
Sie faßte des Bruders welke Hand, und ganz spontan stimmten die beiden
Alten jenes süße Kinderlied an und sangen alle drei Verse durch bis zum
seligen Schluß: Amen, ja, mein Glück ist groß!
Es war einzig schön
Das Leiden Onkel Reinhards erfaßte mehr und mehr den ganzen Organismus.
Von meiner letzten Unterredung mit ihm machte ich mir eingehende
Notizen. Auch da noch, in seiner großen leiblichen Schwachheit,
sprudelte das Wasser des Lebens hell und klar.
«Ich bin unaussprechlich selig,“ sagte er, «aber ich bin noch nicht im
Himmel. Satan schleudert auch jetzt noch seine feurigen Pfeile ab. Man
muß bis zuletzt in der ganzen Waffenrüstung Gottes stehen. Und wenn je
solch ein Pfeil verwundet hat, dann nur rasch die Seele wieder gebadet
im Blut des Lammes.“
Er sprach von dem Versprechen, das er als Jüngling seinem Vater gegeben
habe, alle Tage in der Bibel zu lesen. „Das war mir,“ so sagte er,
«zuerst eine trockene Sache. Aber endlich ging mir am Abendhimmel ein
Sternlein auf, nicht golden, nicht silbern, nicht Schaum und Traum, ein
wahres, wesentliches Licht, Licht von oben. Nun kam Stern um Stern, aber
es ging noch zwei Jahre, bis die Sonne selbst aufging, keine goldene
oder silberne, kein irdisches Licht, nein, die wesentliche Sonne, Licht,
Leben, Jesus Christus. O, was für ein seliger Mensch bin ich da
geworden!“
So ging er heim, und so ging eines um das andere der Geschwister
hinüber, bis nur der Jüngste übrigblieb, der ehrwürdige Onkel Samuel in
Männedorf. Von ihm brauche ich nicht viel zu sagen. Das jüngst
erschienene Buch: Samuel Zeller, ein Knecht Jesu Christi\*) führt den
ganzen reichen Lebenslauf dieses auserwählten Zeugen vor das geistige
Auge des Lesers. Er ist ein großer und ein guter Mann gewesen, und uns
war er noch mehr: ein väterlicher Bruder, ein priesterlicher Freund, ein
leuchtendes Vorbild. Als am 18. April 1912 der heiße Tiegel brach, in
dem er am Ende seines segensreichen Lebens bewährt wurde, und er
eingehen durfte in die Ruhe, da war es uns Überbleibenden ein
ergreifender und hehrer Gedanke, daß nun die ganze Geschwisterschar
wieder mit den Eltern vereinigt sei im großen Vaterhaus, wie es der
sterbende Vater einst so zuversichtlich ausgesprochen hatte (s. S. 36).
Denn sie waren alle aus Gnaden, durch den Glauben, Christi Eigentum
geworden.
O, nicht wahr, es müßte immer so sein? Die Familien gehören zusammen.
Der Herr rettete Noah und sein ganzes Haus. Und das Verheißungswort
lautet: Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du und dein Haus
selig. Ach, daß es so oft nicht der Fall ist! Daß in manchem gläubigen
Familienkreis ein teures Glied noch fehlt! Lasset uns beten, glauben,
harren und immer lieben!
Sollten diese Zeilen einem solchen verirrten Kind zu Gesichte kommen, o
wie gern möchten sie ein Heimweh wecken nach dem Familienkreise, wo man
unablässig für den Wanderer betet, und noch vielmehr nach dem
himmlischen Vaterhause, wo die ewige Liebe seiner wartet!
Eine Magd des Herrn
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“Wenn ich neben ihr sitze, ist es mir immer, als wäre ich in einer
Kirche.“ So habe ich in jungen Jahren den Eindruck geschildert, den
meine geliebte Tante Sophie Gobat stets auf mich machte. Ich wußte
damals nicht, wieviel Wahrheit diese Worte enthielten. Denn was macht
das Wesen einer Kirche aus? Was gab dem Tempel seine Herrlichkeit und
seine Würde? Ist es nicht die Gegenwart Gottes? Der stetige Wandel in
der Gegenwart Gottes, das war es, was ein Abbé Fénelon, eine Madame
Guyon und andere gottinnige Seelen als die wahre Seligkeit eines
Christenmenschen priesen und worin sie sich übten.
Ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß dieses Vorrecht auch für
meine liebe Tante das höchste Kleinod und das Geheimnis ihrer Kraft war.
Dieses Wandeln vor und mit Gott war bei ihr gepaart mit großer
Nüchternheit und treuer Arbeitsamkeit. Sie trug an ihrem ganzen Wesen
die Signatur einer Magd des Herrn.
Es ist mir köstlich, ihr Lebensbild hier kurz zeichnen zu dürfen.
Ich führe meinen Leser zurück in das stille Juratal und das
bergumkränzte Dorf Crémines (s. S. 15), wo Sophie Gobat am 23. Februar
1796 als ältestes Kind meiner frommen Großeltern geboren wurde. Unter
mancherlei Druck und Selbstverleugnung wuchs die Tochter in jener
bedrängten Zeit auf. Frühe suchte sie ihren Eltern zu helfen, indem sie
in der Familie eines im Orte selbst wohnenden Onkels eine Stelle als
Stütze annahm und treue Dienste tat. Da hat sie in ihrer Jugend ein
schweres Joch tragen gelernt.
Aber sie bekam auch Anteil an dem reichen Segen jener schönen Zeit
geistlichen Erwachens. Bei der stark ausgeprägten Persönlichkeit Sophie
Gobats geschah der Schritt vom Tod zum Leben nicht ohne heißen Kampf und
inneres Zerbrechen.
Herr Pfarrer Alex. Morel, der bekannte Berner Prediger, erzählt darüber
folgende Einzelheiten, die er viele Jahre später von ihr selbst
vernommen hat.
Sie war damals gerade zwanzig Jahre alt. Ein Lehrer Mérillat von
Moutier, Mitglied der Brüdergemeine, hatte in Crémines eine Versammlung
gehalten. Sophie hatte derselben beigewohnt, und die freudige Gewißheit,
mit der der Redner von der Liebe Gottes und der allumfassenden Freiheit
der Gnade redete, machte tiefen Eindruck auf sie. Sie wurde mächtig
bewegt. Des Nachts floh sie der Schlaf. Eine große Traurigkeit erfüllte
ihre Seele, und sie beschloß, die Gelegenheit des Jahrmarkts in Moutier
zu benutzen, um den Mann aufzusuchen, durch dessen Zeugnis sie so
unglücklich geworden war.
„Ich weiß nicht mehr,“ so erzählte sie, „was der liebe Mann mir alles zu
erklären suchte, ich weiß nur, daß ich auf jede seiner Äußerungen ein
Wort Gottes als Entgegnung und Einwand anzuführen wußte.“
„Sie sagen, Sie seien so traurig,“ sagte er. „Das ist die Wirkung des
Heiligen Geistes, der seine Arbeit in Ihrem Herzen begonnen hat.“
„Die Wirkung des Heiligen Geistes?“ erwiderte Sophie. „Ich glaubte, der
Heilige Geist bringe Freude ins Herz.“
Mérillat suchte ihr zu erklären, daß es zweierlei Traurigkeit gebe: die
göttliche Traurigkeit, die da wirket zur Seligkeit eine Reue, die
niemand gereuet, und die Traurigkeit der Welt, die da wirket den Tod (2.
Kor. 7,10). Aber Sophie verstand diese Sprache nicht.
Da griff der Mann Gottes zu einem anderen Mittel. Er rief sie an das
offene Fenster, von wo aus man im gegenüberliegenden Gasthaus eine
lustige Tanzgesellschaft beobachten konnte.
„Da Sie so unglücklich sind, mein liebes Fräulein,“ sagte Mérillat, „so
gehen Sie doch da hinüber und tanzen Sie mit. Sehen Sie, wie vergnügt
man dort ist.“
„Niemals!“ entgegnete Sophie. „Ich habe meine Traurigkeit doch noch viel
lieber als solche Freude.“
„So merken Sie doch, daß Sie die göttliche Traurigkeit haben, nicht
wahr?“ sagte der Freund.
Zum erstenmal hatte Sophie nichts mehr einzuwenden.
Es war Abend geworden. Das junge Mädchen wählte zur Heimkehr den
lieblichen Wiesenweg. Es war heller Mondschein, als sie an einer ihr
wohlbekannten einsamen Stelle ankam. „Wenn ich zehnmal sterben müßte.“
sagte sie, „würde ich jenen Augenblick nicht vergessen.“ Sie fühlte sich
festgehalten durch eine unsichtbare Gegenwart, die sie von allen Seiten
umgab. Ihr war es, als ob eine mächtige Hand ihr alle ihre Lasten, eine
um die andere, abnähme. Sie warf sich auf die Knie und hatte die klare
Empfindung, zu Jesu Füßen zu liegen. Lange blieb sie dort. Als sie bald
darauf das Elternhaus erreichte, wußte sie, daß sie eine neue Kreatur,
ein Kind des Höchsten geworden sei. Von da an war Friede und Freude ihr
seliges Teil. — Soweit die Mitteilungen Herrn Pfarrer Morels.
Wir wissen aus früheren Abschnitten, daß in den nächstfolgenden Jahren
der ganze kleine Familienkreis ähnliche Gnadenheimsuchungen erlebte.
Daneben aber ging die Arbeit und Last des Lebens weiter, und die wackere
Tochter Sophie trug durch ihre unermüdliche Tätigkeit in verschiedenen
Stellungen zur Hebung des Familienwohlstandes viel bei. Als sie darinnen
ein gewisses Ziel erreicht hatte und zu Hause entbehrlich geworden war,
durfte sie ihren langgehegten Herzenswunsch in Erfüllung gehen sehen und
in den Dienst der Krankenpflege eintreten.
Diakonissenhäuser gab es damals (1825) noch nicht. Bald sollten sich
aber am fernen Rheinesstrande, in Kaiserswerth, die Schwingen des
Täubchens erheben, das seither durch so viele Länder den grünen Zweig
dienender Liebe getragen hat. Davon wußte man natürlich im
weltentlegenen Juratale nichts; aber eine wahre, echte Diakonisse war
es, die von dort aufbrach, um zunächst im Inselspital zu Bern ihrem
Herrn mit liebeerfülltem Herzen an seinen Kranken zu dienen. Sie war
damals dreißig Jahre alt, und niemand konnte es ahnen, daß eine reiche,
lange Dienstzeit von zweiundfünfzig Jahren noch vor ihr lag.
Mit ganzer Hingabe und Energie nahm Sophie ihre Arbeit auf. Ihre reiche
Begabung sowie ihre ungemein hohe, kraftvolle Gestalt halfen mit dazu,
sie bald zu einer der geschätztesten Pflegerinnen zu machen. Das Heben
und Tragen der Kranken war ihr eine Freude.
Dabei hatte sie das Seelenheil ihrer Pfleglinge stets im Auge, und wenn
sie auch nicht oft zu ihnen darüber sprach, so waren ihre Worte stets
klar und zielbewußt. In seinen Erinnerungen schreibt mein Vater von ihr,
es sei wohl kein Jahr vergangen, in dem sie nicht wenigstens eine Seele
zu Jesu gebracht hätte.
Wie sie ihre Patienten im Auge behielt, auch wenn sie als Genesene das
große Krankenhaus wieder verlassen hatten, erzählt Herr Prediger Ahnne
von der Brüdergemeine in einem Nekrolog in französischer Sprache, dem
ich manche Züge aus der Berner Zeit entnommen habe. Zu St. Georgii und
St. Martini, wenn die Hauszinse bezahlt werden mußten, da teilte sie den
Kummer der Armen und suchte ihnen zu helfen. Man konnte sie öfters
sehen, wie sie abends spät, nach des Tages Mühe und Arbeit, sich auf den
Weg machte, um bei wohlhabenden Freunden Hilfe zu suchen für die
Bedürftigen. Bei einem solchen nächtlichen Gang begegnete sie einst
einem der Spitalärzte.
«Fräulein Gobat, was bringt Sie zu dieser Stunde hierher?“ fragte er.
„Herr Doktor,“ erwiderte sie schlagfertig, „ich habe mich an den Karren
der Armen anspannen lassen.“
Der Arzt verstand, legte ein Fünffrankenstück in ihre Hand und sagte:
„Hier ist etwas, um den Karren besser laufen zu lassen.“
Je völliger sie sich dem Dienst der Armen in und außer dem Hause hingab,
desto größer war die Hilfe, die sie erfuhr. Je mehr sie gab, desto mehr
erhielt sie von ihrem reichen Herrn. Sie war oft ganz hingenommen von
der herablassenden Freundlichkeit Gottes gegen die Armen und Geringen.
Eine nach schwerer Krankheit wieder hergestellte Frau hätte fortan gern
die kirchlichen Gottesdienste besucht, konnte aber nicht ausgehen wegen
mangelnder Kleidung. Sie bat Fräulein Gobat, ihr womöglich zu einem
Ausgehkragen zu verhelfen, und fügte einfältig hinzu, sie hätte ihn so
gern blau. Sophie wendete sich an ihre Freundin mit der Bitte um
irgendein Kleidungsstück für jene Arme, natürlich ohne den Privatwunsch
zu äußern. Nach einiger Zeit erhielt sie das Gewünschte und siehe da, es
war blau.
Viele Jahre später, als ich schon zu St. Chrischona meine Heimat
gefunden hatte, erhielt ich eine Gabe zum besten der Mission von einem
einstigen Insassen des Inselspitals, der durch Fräulein Gobat leibliche
und geistliche Genesung gefunden und ihr bis ans Ende ein dankbares
Andenken bewahrt hatte.
Fünfundzwanzig Jahre hatte Sophie in dem großen Krankenhaus unablässig
gearbeitet, bei Tag und bei Nacht. Ja, die Nachtwachen waren ihr ganz
besonderes Arbeitsfeld, und da ihr reger Geist wenig Schlaf bedurfte,
tat sie in dieser Hinsicht des Guten zuviel, besonders in einem
bestimmten Fall, wo sie einen untreuen Wärter nicht verklagen, aber die
ihm anvertrauten Kranken auch nicht vernachlässigt sehen wollte.
Da brach ihre Kraft zusammen. Ein Magenleiden verursachte ihr viel Not,
und sie reichte ihre Kündigung ein mit dem Wunsch, sich in ihr
Heimatdorf zurückzuziehen und da auf die Hilfe des Herrn zu warten. Aber
ihre Vorsteher wollten auf diesen Gedanken nicht eingehen, sondern taten
die nötigen Schritte, ihr im Bade Gurnigel eine unbestimmte Urlaubszeit
zu sichern.
Dort war es, daß sie, die Fünfundfünfzigjährige, die sich in großer
Schwachheit am Ende ihrer irdischen Dienstzeit glaubte, einen dringenden
Ruf erhielt zur Mitarbeit an der eben entstehenden großen Irrenanstalt
zu Préfargier bei Reuschâtel. Sie lehnte ab in Anbetracht ihrer
wankenden Gesundheit. Aber der Ruf wurde wiederholt. Man bat, sie möchte
doch wenigstens für den Anfang kommen, um bei der Organisation der
Arbeit in der weiblichen Abteilung hilfreiche Hand zu bieten. Da
erkannte die Magd den Willen ihres Meisters, und im Vertrauen auf seine
Kraft ging sie, durch die Ruhezeit im Gurnigel gesundheitlich wesentlich
gestärkt, auf den Posten, den er ihr anwies, als Oberin (ingpectrice)
der weiblichen Abteilung.
Diese zweite Hälfte ihres Krankendienstes sollte noch länger währen als
die erste und in jeder Hinsicht bedeutungsvoller sein. Hier ganz
besonders kam ihr fester Charakter, ihr in Gott gewurzelter Glaube und
ihre hohe, gebietende Erscheinung ihr gut zu statten. Bei aller
unverfälschten Schlichtheit ihres Wesens und ihrer Kleidung hatte sie
etwas an sich, das sie zu einer “königlichen Magd“ stempelte.
Ihre geistliche Heimat fand sie in dem nahegelegenen Montmirail, einer
Niederlassung und Erziehungsanstalt der Brüdergemeine. Wie sie in der
Jugend durch den Dienst eines Mitglieds dieser Gemeinschaft zum Herrn
geführt worden war, so blieb sie lebenslang diesem Kreise treu und war
mit den leitenden Geschwistern von Montmirail in enger Freundschaft
verbunden.
In dieser Zeit war es, daß ich ihr besonders nahe kam und den
wohltuenden Einfluß empfand, den ich zu Anfang geschildert habe.
Diesen spürten auch die Geisteskranken, die sich in den meisten Fällen
willig vor ihrer Autorität beugten und ihre reiche Liebe erfuhren. Sie
hielt täglich eine Morgenandacht mit den Frauen, deren Zustand es
erlaubte, und das Interesse, das diese daran nahmen, war in gewissem
Sinn ein Thermometer ihres Befindens. Einige der Kranken haßten sie
geradezu. „Sie sind häßlich, Gobat!“ ries ihr einmal eine bösartige
Patientin zu. „Wenn Sie immer so wahr gesprochen hätten wie eben jetzt,
wären Sie wohl gar nicht hierhergekommen,“ war die humorvolle und
gutmütige Antwort.
Zu wiederholten Malen durfte Sophie die frohe Erfahrung machen, daß mit
der körperlichen und seelischen Genesung auch eine geistliche Erweckung
verbunden war. Der Anfang der Heilung tat sich oft kund in großer Liebe
und Zutraulichkeit zu der treuen Pflegerin. Aber sie litt es durchaus
nicht, daß die Geheilten sich an ihre Person hängten. Sie nahm auch
keine Geschenke von ihnen an. Sie wollte als Magd des Herrn völlig
unabhängig sein von Menschengunst.
So gingen abermal fünfundzwanzig Jahre dahin. Als sie das achtzigste
Jahr vollendet hatte, bat sie um freundliche Entlassung. Die Füße
wollten sie nicht mehr tragen, das Augenlicht nahm ab, und trotz
gewährter Hilfe kam sie ihren Pflichten nicht mehr nach. Aber der
Direktor und Chefarzt wollte sie nicht ziehen lassen. Er schätzte ihren
Einfluß auf die Kranken sehr, und ihre Erfahrung und Menschenkenntnis
waren ihm persönlich von Wert. Da sie um ihres Fußleidens willen einen
Teil des Vormittags liegend zubringen muhte, schrieb er häufig seine
Ordonanzen an ihrem Bette und besprach mit ihr den Zustand der Kranken.
Scherzend sagte er einmal: „Wir brauchen Ihren Schatten in unserem
Hause.“ So willigte sie denn ein.
Aber als sie nach zwei Jahren merkte, daß die neu eingestellten Kräfte
sich, wie sie meinte, um ihrer Gegenwart willen nicht so recht
selbständig entwickelten, da war ihres Bleibens nicht länger. Ihr
Entschluß war diesmal unwiderruflich gefaßt, und im Herbst 1878 verließ
sie Préfargier. Einige schöne Tage brachte sie noch in Montmirail zu,
und der verehrte und geliebte Direktor, Herr TH. Richard, ließ es sich
nicht nehmen, die Greisin nach Crémines zu begleiten, wo ihr bei den
Kindern ihres Bruders David ein freundliches Heim bereitet worden war.
Nun war der Feierabend gekommen; er dauerte acht Jahre. Dankbar, still
und friedvoll lebte die alte Tante unter den Ihrigen. Ihre priesterliche
Seele hatte noch viel zu tun. Ihr Zimmer war ein kleines Heiligtum, und
man sammelte sich gern um sie. Sie war geistig noch frisch, konnte
damals z. B. noch den 119. Psalm, den sie in ihrer Jugend gelernt hatte,
auswendig sagen und nahm gern an interessanten Gesprächen teil. Ausgehen
konnte sie nicht mehr. Der klare Bach, der am Hause vorbeiplätscherte,
und die hohen, weiten Almen, die sie vom Fenster aus sehen konnte, waren
alles, was sie an landschaftlichen Genüssen hatte. Dafür bekam sie viel
Besuch von Freunden und Bekannten, so daß der Dorfpostverwalter einmal
ganz verwundert ausrief: „Was gibt es denn bei dem alten Fräulein so
besonderes zu sehen, daß alle Welt zu ihr kommt?“ Andere wußten es wohl,
was sie an ihr hatten. Ein Bauersmann aus Moutier, der einst einen
Basler Geistlichen in der Gegend in seinem Bauernwäglein führte, sagte,
indem er auf die fruchtbaren Gefilde hinwies: „In dem Dörfchen dort
wohnt ein altes Fräulein, das für die ganze Ortschaft betet. Das bringt
Segen.“
In jenen Jahren haben wir nahewohnenden Verwandten sie öfter besucht und
tiefe Segenseindrücke, ja, bedeutsame Lehren erhalten. Wir wunderten
uns, wie sie, die während so vieler Jahre den weiten Horizont und die
schöne Aussicht von Préfargier aus genossen und in den beinahe
luxuriösen Räumen gelebt hatte, sich wohl wieder in die kleinen
Verhältnisse und die einfache Lebensweise finden würde. Ich fragte sie
einmal ganz offen darüber. „Mein Kind,“ antwortete sie, „ich habe nie
vergessen, daß ich von Crémines bin, und daß ich wieder dahin
zurückzukehren wünschte, wenn ich nicht mehr arbeiten könnte. Da habe
ich mir manches versagt, was ich hätte haben können, um mich nicht
selbst zu verwöhnen.“
Ihre zeitlichen Angelegenheiten brachte sie auf die einfachste Weise in
Ordnung, indem sie alles vergabte. Sogar ihre gute Uhr schenkte sie
einem ihrer Großneffen. „Er braucht sie viel mehr als ich,“ sagte sie
einfach. Zwei oder drei Kleider und die nötige Wäsche war alles, was sie
besaß. Erhielt sie von ihren Freunden etwa kleine Geschenke, so legte
sie sie freundlich dankend in eine dazu bestimmte Schachtel. Kam dann
Besuch von einem ihrer Lieben, so konnte sie sagen: „Sieh, ob du in der
Schachtel etwas findest, was du brauchen kannst, und nimm es dir mit!“
Sie erzählte einst: „Kürzlich besuchte mich ein junger Prediger und war
sehr freundlich zu mir. Aber schau, solche Besuche sind nicht, was ich
brauche. Er sprach in seinem Gebet von dem herrlichen Sonnenuntergang,
den Gott mir gewähre, von den rosigen Wolken, die meinen Lebensabend
verschönen, von dem süßen Duft der Liebe, der mich umgebe. Fast hätte
ich ihn unterbrochen, doch durfte ich das ja nicht. Ach, schöne
Sonnenuntergänge und rosige Wolken geben einem Sünderherzen nicht Trost
und Ruhe. Ich freue mich, daß das Blut Jesu Christi mich rein macht von
aller Sünde und daß er Sünder annimmt und mit ihnen ißt.“
Ein andermal sagte sie: „Ich habe es in meinem Dienst an den Kranken
erfahren, daß der Teufel ein Feigling ist und sich gern an die Kinder
Gottes heranmacht, wenn sie körperlich schwach und elend sind.
Vielleicht versucht er es auch an mir. Sollte er es tun, so mahnt mich
nur an den granitenen Felsengrund, an das Wort: Der Herr warf unser
aller Sünde auf ihn, oder: Er hat den zur Sünde gemacht, der von keiner
Sünde wußte, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott
gilt!“
Noch ein anderes kleines Gespräch ist mir wichtig geworden. Sie hatte
einen Fall getan, und die Erschütterung hatte sie etwas angegriffen. Wir
wurden davon benachrichtigt, und ich reiste unverzüglich hin. Sie lag
ganz munter in ihrem Bett und sagte: „Ich habe einmal die Freiheit
gehabt, den Herrn zu bitten, mich nicht lange krank sein zu lassen um
der Lieben willen, denen die Pflege schwer wäre. Ich meinte auch, er
habe mir die Bitte gewährt. Wenn ich mich aber getäuscht haben sollte,
so ist es mir auch so ganz recht; was er tut, ist ja in jedem Fall das
beste.“
Aber sie hatte sich nicht getäuscht. Tags darauf war sie wieder ganz
wohl und hat noch einige Jahre danach gelebt.
Schön ist, was Herr Pfarrer Morel in den oben angeführten Erinnerungen
schreibt:
„Ich war noch ein junger Mann, als ich in die Gemeinde Moutier berufen
wurde und einmal interimistisch die Nachbargemeinde Grandval mit
bediente. Da war es, daß ich die Bekanntschaft dieser seltenen Frau
machte. Sie war hochbetagt und etwas gelähmt, aber voll Freude und
Teilnahme für alles, was sie umgab. Sie verließ den Lehnstuhl in der
Fensternische nie mehr. Eines Tages sagte sie mit dem feinen Lächeln,
das ihr Antlitz oft verklärte: »Ich weiß nicht, warum mich Gott noch
solange auf Erden läßt. Nun sind es bald sieben Jahre, daß ich nichts
mehr tun kann als Strümpfe stricken. (Sie strickte in der Tat Dutzende
von Strümpfen für die Schulkinder in Jerusalem und für andere
Anstalten.) Es scheint mir, ich könnte in jener Welt meinem Herrn viel
besser dienen.«
„Als ich an jenem Abend nach Hause zurückkehrte, warteten zwei junge
Mädchen auf mich, meine Konfirmandinnen, die ersten, die ich unterwiesen
hatte. Sie waren zu mir gekommen mit der ernsten Frage: »Was muß ich
tun, daß ich selig werde?« — Ich antwortete: »Geht morgen, Sonntag, nach
Crémines. Tretet in das und das Haus und klopfet an der und der Tür. Da
werdet ihr, in einem Lehnstuhl sitzend, eine alte Frau finden. Es ist
Fräulein Sophie Gobat. Sagt ihr, ich hätte euch zu ihr gesandt, und
stellet die Fragen an sie, die ihr mir eben gestellt habt.«
„Meine Konfirmandinnen taten, wie ich sie geheißen hatte, und kehrten
zurück mit dem Feuer der Gottesliebe im Herzen. Sie erzählten ihren
Gefährtinnen, was ihnen widerfahren war, und auch sie machten sich auf
den Weg nach Crémines. Eine Zeitlang gab es wie ein Wallfahrten in das
kleine Zimmer der ehrwürdigen Magd des Herrn.
„Als ich sie, nicht lange hernach, im Sarg gebettet sah, in ein weißes
Gewand gehüllt und mit einem Kranz von Vergißmeinnicht auf der Stirn, da
sagte ich mir: Das ist in Wahrheit eine geheiligte Gestalt, die ich nie
vergessen werde.“
Von den letzten Stunden der lieben Dante muß ich noch einiges nachholen.
Am 23. Februar 1886 vollendete sie ihr neunzigstes Lebensjahr. Zur Feier
des Geburtstages stellten wir Verwandten aus Basel und Chrischona mit
mehreren unserer Kinder uns bei ihr ein. Wir fanden sie wie gewohnt am
Fenster sitzend, etwas verändert und gebückt, aber geistig klar. „Die
Säulen stehen nicht mehr fest,“ sagte sie mit heiterem Lächeln, auf den
gebeugten Rücken deutend. Köstliche Augenblicke verbrachten wir bei ihr,
dazwischen ihr Ruhepausen gönnend; denn die Pilgerin war des langen
Weges müde.
Als die Stunde des Abschieds gekommen war, sammelten wir uns alle noch
einmal um sie. Wir sangen auf ihren Wunsch ein Lied, und auf unseren
Vorschlag, daß wir das achte Kapitel des Römerbriefes lesen wollten,
sagte sie, stets geistesgegenwärtig: „Keine Verdammnis und kein
Scheiden“ (V. 1 und 39). Ein kurzes Gebet, und dann mußten wir gehen, am
allermeisten betrübt über dem Gedanken, daß wir ihr Antlitz nicht mehr
sehen sollten. Sie aber rief uns mit laut vernehmlicher Stimme nach:
«Auf Wiedersehen im Anschauen seines Angesichts!“
Derselbe Postwagen, der uns wegführte, brachte ihr noch viele Grüße und
Briefe von Freunden. Sie war über alle diese Zeichen der Liebe sehr
erfreut und sagte: „Heute ist doch einer der schönsten Tage meines
Lebens gewesen.“ Dann wünschte sie sich zur Ruhe zu legen und schlief
bald ein.
Bald nach Mitternacht wurde das sanfte Atmen etwas beklommen. Die Nichte
und Pflegerin, die sie jetzt auch nachts nicht verließ, beugte sich zu
ihr hin. Mit einem letzten leisen Hauch war der befreite Geist
entflohen.
Als wir den nächsten Morgen früh die telegraphische Nachricht von dem
Heimgang erhielten, sagte eine der Töchter, die tags zuvor mit dabei
gewesen war, ganz betroffen: „Wie schön ist es, so vom Leben zum Tod
hinüberzuschlummern!“ Ich verbesserte: „Sagen wir lieber: »Wie schön ist
es, so vom Tod zum Leben hinüberzukommen!«“ Mein teurer Mann aber traf
das Richtige, als er beifügte: „Wie schön ist es, so vom Leben zum Leben
einzugehen!“
Denn wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das ewige Leben.
Hirten und Lehrer
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Wohl geschieht die tiefste Arbeit im Menschenherzen allein durch das
Wirken des Heiligen Geistes, und dennoch braucht er dazu Werkzeuge. Und
da ist es wunderbar, zu beobachten, wie er dabei verfährt. Einmal läßt
er das geschriebene Wort unmittelbar in Herz und Gewissen dringen. Ein
andermal braucht er das Zeugnis seiner Knechte oder den Einfluß ihrer
geisterfüllten Persönlichkeiten. Er holt hier ein Werkzeug und da ein
anderes hervor und läßt alles zusammen dienen, damit es werde ein Werk
seiner Hand.
Mit Liebe und Dankbarkeit möchte ich hier einiger solcher Werkzeuge
gedenken, die an mir gearbeitet haben.
Ich habe diejenigen schon genannt, durch die mir das Evangelium zuerst
gesagt wurde: meine teuren Eltern und nahestehenden Verwandten. Aber
noch in meine Jugendtage hinein ragt die geheiligte Gestalt eines
Gottesmannes, der mir zu der Erkenntnis des Herrn, meines Heilandes,
wesentlich geholfen hat. Es war dies ein englischer Geistlicher.
Pastor Henry Crawford, ein Verwandter des schon erwähnten Arztes Dr.
Adair Crawford (s. S. 72). Über dieses Freundes Leben möchte ich die
Inschrift setzen: Die Liebe Christi dringet uns. Die Liebe Christi drang
ihn, seine Heimat und seine angenehme Stellung zu verlassen, um in
Jerusalem als Missionar unter den Juden zu wirken und ihnen Jesum, den
Gekreuzigten, zu verkündigen. Die Liebe Christi regierte ihn im Verkehr
mit den Leuten aus allerlei Ländern und Sprachen, die in der kleinen
evangelischen Gemeinde zusammengeschlossen waren und die enger
untereinander zu verbinden er unermüdlich beflissen war. Diese Liebe war
es auch, die ihn zu der Jugend zog, um unsere Herzen zu gewinnen und zu
begeistern für den Schönsten unter den Menschenkindern, unseren Herrn
und König, Jesus Christus.
Ich möchte einige Züge seines Wirkens hervorheben, um des teuren Mannes
Art und Wesen zu kennzeichnen.
Als Prediger steht er lebendig vor meines Geistes Auge. Er war ein
Botschafter an Christi Statt, der es so recht verstand, zu bitten:
Lasset euch versöhnen mit Gott! Seine zarte Gesundheit mochte ihm ein
steter Ansporn sein. Er predigte als Sterbender zu Sterbenden und
verkündigte den ganzen Ratschluß Gottes.
Als Missionar war er besonders fleißig in Hausund Krankenbesuchen. Er
wollte den verlorenen Schäflein des Hauses Israel Liebe erweisen, um sie
zu der Quelle der ewigen Liebe zu führen. Die Juden erkannten das wohl
an und achteten ihn hoch. Manche Stimmen unter ihnen ließen sich hören,
die ihn mit Jakobus dem Gerechten verglichen. Dessenungeachtet gab es
auch solche, die ihn mit Spott und Hohn bekämpften, wenn er ihnen den
Weg des Heils verkündigte. Ich kann mich an einen Anlaß erinnern, da
eine Anzahl Fanatiker ihn, während einer Ansprache im Freien, mit
langen, spitzen Nadeln derart bearbeitete, daß er sich blutend
zurückziehen mußte, von Schimpfreden und Angespienwerden gar nicht zu
reden. Ähnliches war in jener Zeit das Los mehrerer Missionare, und es
machte einen tiefen Eindruck auf mich, zu bemerken, mit welch hoher
Freude solche Schmach die Zeugen Jesu stets erfüllte!
Als Jugendfreund hat Herr Crawford viel Segen gestiftet. Seine eigenen
Kinder waren etwa im gleichen Alter wie meine Geschwister und ich, und
er liebte es, uns zu vereinigen zu gemeinsamem Lesen und Forschen in
Gottes Wort. Er fand immer neue Mittel und Wege, uns zum Nachdenken zu
erziehen. Er wählte z. B. ein Thema, oft einen einfachen Begriff wie:
Vater, Liebe, Gehorsam, oder auch ein Wort mit verborgener Bedeutung,
wie Opfer, Prüfung, Fruchtbarkeit, und ließ jedes Glied der ganzen
Tafelrunde eine von ihm angegebene, von dem betreffenden Thema handelnde
Bibelstelle aufschlagen. Er hatte es sich nicht verdrießen lassen,
solche Stellen vorher sorgfältig auszuwählen. Wenn wir nun alle die uns
zugeteilte Stelle aufgeschlagen hatten, so durften wir sie der Reihe
nach laut lesen, und es war oft wunderbar, wie schon das bloße Hören
dieser Gottesworte uns Licht und Klarheit gab. Dann faßte unser lieber
väterlicher Freund noch alles zusammen in einer kurzen herzlichen
Ansprache. — Auch Charakterstudien aus der Schrift oder kurze Aufsätze
über biblische Begriffe ließ er uns machen und schaute unsere Arbeiten
sorgfältig und freundlich durch. Es ist reiche Frucht aus dieser Aussaat
erwachsen.
Henry Crawford wandelte mit Gott und lebte in seinem Worte; das machte
den Verkehr mit ihm bei aller Natürlichkeit so fruchtbringend.
Einst hatte ich den Sonntagabend bei den lieben Freunden zubringen
dürfen. Sie wohnten damals in Zelten, umgeben von Weinbergen, in einiger
Entfernung von Jerusalem. An der Hütte Tür sitzend hatten wir nach einem
schwülen Sommertag die Kühle des Abends genossen. Unvermerkt hatte sich
die Nacht über unser kleines Zeltlager gesenkt. Eine kurze Andacht
sollte den Ruhetag beschließen. Man brauchte dazu weder Buch noch Licht.
Ein Lied wurde auswendig gesungen: dann sagte Herr Crawford wortgetreu
das unvergleichlich schöne Evangelium von dem Hereintreten des
Auferstandenen mitten in seiner Jünger Kreis (Joh. 20, 19-23). Der Herr
offenbarte sich den Seinen, zeigte ihnen in seinen Wundenmalen das
Siegel seines Versöhnungstodes, gab ihnen seinen Frieden, blies sie an
mit Heiligem Geist und hieß sie die Erkenntnis seines Namens
hinaustragen in die Welt. Solche Gnade schenkt er noch heute seiner
gläubigen Schar. Er schenkte auch uns etwas davon in jener Stunde, und
im sanften Abendwehen hörten wir im tiefsten Herzen eine Lebensbotschaft
des Herrn.
Des nächsten Morgens in aller Frühe mußte aufgebrochen werden; denn den
hebräischen Frühgottesdienst um sechs Uhr in der Christuskirche
versäumte der treue Pastor nie. Ich durfte ihn begleiten. Wir schritten
durch die Weinberge, über die das erste Morgengold ausgebreitet lag. Auf
den Trauben, die in reicher Fülle aus dem grünen Laub hervorschauten,
schimmerte der reiche Tau der Nacht, der während der heißen Sommermonate
in Palästina den mangelnden Regen ersetzt. Als spräche er zu sich
selbst, sagte Herr Crawford: „Ich will Israel wie ein Tau sein, daß es
blühen soll wie eine Lilie. Sein Geruch wird sein wie Libanon.“ — „Weißt
du, wo das steht?“ wandte er sich an mich. „Lies Hosea 14, wenn du nach
Hause kommst, und wandle es um in ein Gebet: dann wird auch deine Seele
erfrischt sein vom Tau des Herrn.“
So oft ich in den vielen seither verflossenen Jahren jenes wunderschöne
Kapitel gelesen habe, gedachte ich des Ganges durch die im Morgentau
glänzenden Rebberge an der Seite des geliebten Lehrers, der schon lange
daheim ist bei seinem Herrn.
Noch eine letzte Erinnerung. Man feierte einst in Jerusalem, wie
alljährlich am 21. Januar, das Stiftungsfest der evangelischen Gemeinde.
Mein teurer Vater hielt die Predigt über Esra 3, 10-13 und sprach davon,
wie auch in seinem Herzen das Lobgetöne über Gottes Wohltaten gemischt
sei mit der Stimme des Klagens. Es war manches Traurige in der Gemeinde
vorgekommen, und mit starken, treuen Worten hatte der Bischof zur
Einkehr und Umkehr aufgefordert. Nach dem Gottesdienst kam er lange
nicht nach Hause, und als er endlich erschien, sahen wir Tränenspuren
auf seinem Gesicht. Nach einer Weile erzählte er: „Ich konnte nicht
früher kommen; denn als wir uns nach der Predigt in der Sakristei
trafen, fand ich Crawford ganz zerknirscht und gebrochen. Er, der beste
von uns allen, hat sich gebeugt, als ob er die tiefste Schuld hätte an
dem, was ich als Mängel und Schäden in unserer Gemeinde geschildert
hatte. Seine Demut hat mir ins Herz geschnitten. Wir konnten nur beide
um neue Gnade bitten vor unserem Herrn.“
Die wahren Heiligen wissen nicht, daß sie es sind.
Zunehmende Kränklichkeit nötigte den Freund, sein Amt in Jerusalem
niederzulegen und in seine Heimat zurückzukehren. Er entschlief daselbst
im Jahre 1863, friedlich wie ein Kind. Christus war sein Leben, und
Sterben war ihm Gewinn.
Als sechzehn Jahre später mein Vater, sein Freund und Bischof, im
Sterben lag, da hörten die Umstehenden, wie er unvermittelt den Namen
Crawford rief. War es ein Traum? Oder sollte es so sein, daß jeweilen
aus der unsichtbaren Welt Boten ausgesandt werden, um die Streiter
Christi hinüberzugeleiten durch den dunkeln Strom ins lichte Vaterhaus?
Wir wissen es nicht. Was wir aber gewiß wissen, ist, daß die Erlösten
des Herrn als eine unzählbare Schar sich wiederfinden werden vor dem
Thron, um ihre Kronen zu den Füßen dessen niederzuwerfen, durch den sie
überwunden haben.
Manches Jahr arbeitete Hand in Hand mit dem anglikanischen Pfarrer,
dessen Bild ich hier kurz gezeichnet habe, der lutherische Pastor
Friedrich Valentiner.
Ich habe schon in einem früheren Abschnitt von diesem einzigartigen
Zusammenwirken erzählt. Sie waren sehr verschieden, die beiden
Gottesmänner, aber völlig eins in der Liebe zum Herrn. Valentiner war
ein würdiger Vertreter seiner Kirche und ein vollendeter Liturg. Dabei
hatte er ein sehnendes Verlangen nach Erweckung und Leben, und hat in
dieser Hinsicht mit Erfolg gewirkt. Auch mir ist er aus mancherlei Weise
zum Segen gewesen. Um nicht zu lang zu werden, will ich nur eines Zuges
Erwähnung tun.
Angeregt durch eine geistesmächtige Predigt des treuen Seelsorgers hatte
ich eine Unterredung mit ihm gesucht und ihm eine intellektuelle
Anfechtung geklagt, von der ich Befreiung verlangte. Mit großer Treue
suchte er mich darauf hinzuweisen, daß wohl eine innere Entfernung von
Gott die Ursache des Leidens sein könnte. Ich mußte ihm Recht geben und
fügte hinzu: „Ich habe schon oft gebetet, daß Gott mich ganz losmachen
wolle.“ Da sagte er ernst und liebevoll: „Sie haben Wohl darum gebetet,
aber haben Sie es auch wirklich gewollt?“ Im ersten Augenblick war mir
diese Frage befremdend. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto
deutlicher sah ich, daß mein Wille in der Tat nicht ganz lauter, nicht
völlig auf Gottes Seite war. Und diese einfache und treugemeinte Mahnung
half mir zu völligerem Sieg und tieferem Erfassen der Gnade.
Wie oft hat in der Folge diese Frage in meiner eigenen Seele
widergeklungen: Willst du wirklich frei und los sein? Willst du dein
eigenes Leben in den Tod geben? Willst du hassen und lassen alles, was
ungöttlich, was dem Herrn zuwider ist? Soll er über dich verfügen können
ganz und gar? Willst du ihm allein angehören, ihm allein dienen, sein
Kreuz auf dich nehmen täglich und ihm folgen, wohin er geht?
Willst du?
Ich habe diese Frage auch oft angewendet in Unterredungen mit suchenden
Seelen. Ich tue es auch jetzt. Treffen diese Zeilen vielleicht einen
Leser, der schon lange nach vollem Frieden trachtet und ihn immer nicht
finden kann? Gilt dieses treue, seelsorgerliche Wort etwa auch dir: Du
hast schon lange darum gebetet, aber hast du auch wirklich gewollt?
Zehn Jahre später traf ich den lieben väterlichen Freund wieder, und
zwar bei der großen Konferenz in Brighton im Jahre 1875. Der Pastor war
inzwischen in seine holsteinische Heimat versetzt worden, ich in die
Schweiz. Das gab dann in England ein frohes, ich darf wohl sagen, ein
heiliges Wiedersehen. Wir machten eines Abends einen schönen Spaziergang
am Meeresstrande und sprachen von den gnädigen Führungen des Herrn. Der
einstige Lehrer und Seelsorger war so ganz Bruder geworden. Wir hatten
auch in der jüngsten Vergangenheit neue Blicke tun dürfen in den
Reichtum Jesu Christi und stimmten ein in das damals neu erklungene
Lied:
O sel’ge Erlösung! Der Heiland ist mein,\
Nun ist kein Verdammen noch ängstliche Pein;\
Kein sündlicher Zweifel darf trüben sein Licht;\
Ich weiß, ich bin sein, und er lässet micht nicht.
Fast wage ich es nicht, den Namen Dr. Christ. Gottlob Barth unter meinen
Hirten und Lehrern zu nennen. Denn nur bei Besuchen in Europa bin ich
mit diesem originellen und geistreichen Mann zusammengekommen und habe
nur vereinzelte „Lektionen“ von ihm gelernt. Aber diese wenigen waren
ausgiebig und sind lebenslang unvergessen geblieben. Das große Fach,
über das Dr. Barth dozierte, und zwar nicht mit Worten nur, sondern mit
seinem ganzen Leben, das war die Mission. Seitdem er seine Gemeinde in
Möttlingen verlassen und seine Wohnung in Calw genommen hatte, gehörte
sein ganzes Herz dem Werk der Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden.
Er hatte weder Frau noch Kinder und lebte allein mit zwei treuen
Dienerinnen in seinem großen traulichen Hause in Calw. Aber die ganze
Missionsstreiterschar war seine Familie, und aus allen Himmelsgegenden
liefen täglich Briefe zusammen in das enge, von hohen Tannen umrauschte
Schwarzwaldtal.
Meine erste Begegnung mit ihm ist mir noch klar erinnerlich. Ich war mit
meiner Schwester in der Pension von Montmirail, ein schüchternes,
unbeholfenes Kind. Da erhielten wir eines Tages Besuch. Ein großer,
schlanker Mann stellte sich uns vor als unseren „Onkel Barth“ und wollte
sehen, was die Jerusalemer Kinder machen. Aus den großen, weiten Taschen
seines losen Rockes zog er allerlei Bücher hervor, selbstverfaßte und
andere: die sollten uns zeigen, daß er uns, die Kinder seines Freundes,
kenne und liebe. Wir waren natürlich gleich gewonnen, und zu dem
Onkel-Reichtum, den wir besaßen, fügten wir mit Stolz und Freude den
neuen Namen hinzu, obwohl wir wußten, daß es nur eine Liebesbezeichnung
war.
Bei einem späteren Zusammensein gab er mir in neckend freundlicher Weise
folgendes ernste Merkwort mit:
Meine liebe Dora,\
Ora et labora! (Bete und arbeite!)\
Diene Deinem Herrn!\
Das ist mehr als Träumen,\
Gottes Werk versäumen\
Und verschmäh’n den Kern.\
Zions Macht\
Und Zions Pracht\
Sollst Du einst noch sehen. Mitten drinne stehen.
Dein Dich herzlich liebender Onkel Dr. Barth.
Etliche Jahre nach jener ersten Begegnung durften wir ihn mit unserem
Vater in Calw besuchen und seine Gäste sein. Da gab es Tag um Tag
Anschauungsunterricht in der Missionsgeschichte. Ein interessantes
Museum nahm viel Platz im Hause ein und enthielt Merkwürdigkeiten aus
den verschiedenen Missionsgebieten. Einen besonderen Eindruck machte auf
mich die Wanduhr in seinem Studierzimmer. Sie hatte fünf Zifferblätter.
Das größte, in der Mitte, markierte die Calwer Zeit. Vier kleinere in
den Ecken zeigten die Zeit von Jerusalem, Grönland, von einer Stadt in
Indien und einer solchen in Afrika. Da konnte man sich so gut
vorstellen, was die lieben Missionare zu jeder Tagesstunde taten; man
konnte so lebhaft an sie denken und so eingehend für sie beten. Das war
dem lieben Vater Barth das wichtigste.
Ich erinnere mich auch der Mahlzeiten, die wir bei Dr. Barth genossen.
Jedes Gericht hatte eine besondere Geschichte, natürlich eine
Missionsgeschichte. Besonders eindrücklich ist mir geblieben eine
geräucherte Renntierzunge aus Labrador und Wein aus Cypern. Den
Nachtisch bildeten Briefauszüge aus aller Welt.
Eine wohltuende, freie Atmosphäre wehte um den Mann, der nichts
Kleinliches an sich hatte, sondern das Ganze des Reiches Gottes liebte
und darinnen lebte.
Davon geben viele seiner Lieder Zeugnis. Welch heilige Begeisterung
wußte er zu wecken, wenn er sang:
Im Himmel und auf Erden\
Ist alle Macht nun dein,\
Bis alle Völker werden\
Zu deinen Füßen sein;
Bis die von Süd und Norden,\
Bis die von Ost und West\
Sind deine Gäste worden\
Bei deinem Hochzeitsfest.
Oder:
Zieht fröhlich hinaus\
Zum heiligen Krieg!\
Durch Nacht und durch Graus\
Erglänzet der Sieg.
Es sei euer Hoffen\
Nach oben gericht’t.\
Der Himmel ist offen:\
Bei Jesu ist Licht.
Wir sahen den teuren Freund noch einmal wenige Monate vor seinem
Abscheiden. Er war krank und müde. Der sprudelnde Witz, den man an ihm
gewohnt war, hatte einer stillen Freundlichkeit Platz gemacht. Ganz ließ
sich der feine Humor nicht bannen, und gerade in Verbindung mit dem
leidenden Zustand hatte er etwas überaus Rührendes und Tröstendes. Der
Hinwegeilende stellte in seiner Person ganz den Typus dar, den er schon
lange zuvor in jenem Lied voll zarter, schlichter Poesie so schön
besungen hat:
Der Pilger aus der Ferne\
Zieht seiner Heimat zu:\
Dort leuchten seine Sterne,\
Dort sucht er seine Ruh’.
Die Ströme zieh’n hinunter\
Ins wogenreiche Meer,\
Die Welle geht drin unter,\
Man sieht sie nimmermehr.
Wer von dem Honigseime\
Der Ewigkeit geschmeckt,\
Der Pilger ist daheime\
Erst, wenn das Grab ihn deckt.
Drum weckt ihn auch hienieden\
Das Heimweh früh und spät:\
Er sucht dort oben Frieden,\
Wohin sein Sehnen geht.
Auch an diesem Pilger hat sich Jung Stillings schönes Wort erfüllt:
„Selig sind, die da Heimweh haben: denn sie sollen nach Hause kommen.“
Einen vierten Namen füge ich gern in diesen Abschnitt hinein, den eines
anderen Württembergers, des bekannten Afrikareisenden und Missionars Dr.
Ludwig Krapf.
Er kannte mich lange, ehe ich ihn kannte; denn seine erste ihm eben
angetraute junge Gattin war meine Patin und wohnte mit ihm meiner Taufe
auf der Insel Malta bei. Er war damals auf der Durchreise nach
Ostafrika, wo er schon zuvor etliche Jahre als Missionar gearbeitet
hatte, und zwar in Ankober, Abessinien. Da sich ihm die gleichen
Schwierigkeiten entgegenstellten, wie seinerzeit meinem Vater, hatte er
beschlossen, weiter südlich und näher bei der Küste eine neue
Missionsarbeit zu beginnen. Im Jahre 1842 reiste er voll Hoffnungsmut
mit seiner Frau, im Dienst der englischen kirchlichen Mission, von
Europa ab und kam glücklich in Aden an. Was nun folgt, übersetze ich aus
der Gedenkschrift, die bei der Jahrhundertfeier jener Gesellschaft
herausgegeben worden ist. In einem arabischen Boot segelten sie von Aden
südwärts der Küste Ostafrikas entlang. An den Hafenplätzen, wo das
Schiff landete, ließ sich Krapf von den Eingeborenen soviel wie möglich
erzählen von den Verhältnissen des Innenlandes, das damals auch von den
Geographen noch so wenig gekannt war. Da hörte er zum ersten Male
sprechen von einem „großen See“ im Inneren des Landes. Jetzt wissen wir
ja alle, daß damit der See Viktoria Rjanza gemeint war.
Im Mai 1843 ließ er sich mit seiner jungen Frau in Mombasa nieder. Es
ist dies eine arabische Stadt auf einem kleinen Eiland in der Mündung
eines Stromes.
Aber seine neue Mission begann mit der Beschickung eines Grabes. Am 13.
Juli ward seine geliebte Gattin von seiner Seite genommen. Freundliche
Araber brachten die Leiche auf das nahe Festland, wo sie der Erde
übergeben wurde, und Krapf sandte an das Missionskomitee in London jene
denkwürdige Botschaft:
„Sagen Sie unseren Freunden, daß nun auf der ostafrikanischen Küste ein
einsames Missionsgrab liegt. Und wie die Siege der Gemeinde Gottes stets
über den Gräbern ihrer Glieder errungen worden sind, so seien Sie nur um
so sicherer überzeugt, daß Sie berufen sind, an der Evangelisierung
Afrikas zu arbeiten, ausgehend von der östlichen Küste.“
Er ahnte damals nicht, daß auf eben dem Stücklein Land, wo er die Hülle
seiner Rosine zur Ruhe gebettet hatte, dreißig Jahre später eine große
Missionsstation und eine Kirche des lebendigen Gottes erblühen würde.
Denn eben auf jenem Grundstück steht heute Freretown.
Soweit der englische Bericht.
In den darauffolgenden Jahren unternahm Krapf, begleitet von seinem
Freunde, Missionar Rebmann, mehrere Reisen ins Innere des Landes. Sie
drangen vor bis zum Rjanzasee, und sie waren es auch, die den
äquatorialen Schneeberg Kilimandscharo entdeckten.
Eine beabsichtigte Wiederaufnahme der Mission in Abessinien gelang
nicht; aber einmal noch durfte Krapf jenes Land sehen, als er, in der
Eigenschaft eines Dolmetschers, die englische Expedition zur Befreiung
der gefangenen Missionare begleitete, im Jahre 1867/68.
Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er in Kornthal,
Württemberg, wo ihm an der Seite einer treuen Gehilfin ein neues
Familienglück erwachsen war. Er war unermüdlich fleißig durch
schriftstellerische Tätigkeit, vornehmlich durch Übersetzungen der Bibel
in verschiedene ostafrikanische Sprachen, dem Lande zu dienen, dem er
seine besten Kräfte gewidmet hatte.
In dieser Zeit war es, daß wir dem teuren Mann nähertraten. Er wohnte
oft wochenlang zu St. Chrischona, um den Druck der Bibelübersetzungen zu
überwachen, und seine Anwesenheit war für das ganze Haus ein Segen.
Frühmorgens um fünf Uhr konnte man seine leisen Tritte vernehmen und
dann das gedämpfte Murmeln seiner Stimme hören, wenn er seine Bitten
ausschüttete zu den Füßen seines Herrn.
Ein lieblicher Zug ist mir erinnerlich. Es war bei Gelegenheit eines
vollendeten typographischen Werkes ein kleines Fest in der Hausgemeinde
gefeiert worden. Unbegreiflicherweise war bei diesem Anlaß die
bedeutende Mitarbeit Krapfs nicht erwähnt worden, wiewohl er anwesend
war. Ich glaubte in Abwesenheit meines lieben Mannes dem teuren Gast
eine Entschuldigung darbringen zu müssen. „O,“ sagte er, „das war ja so
gut! In unserer Zeit muß man sich ja nur wehren, damit nicht alles, was
man tut, gleich an die große Glocke gehängt und verherrlicht werde. Ich
bin so froh,“ fügte er freundlich hinzu, „wenn e bissele ’was verborgen
bleibt.“
Wie köstlich ist diese Gesinnung! Wie gut wäre es, wenn es uns allen
stets darum zu tun wäre, nicht von Menschen gelobt und geehrt zu werden,
sondern im Kleinen und Verborgenen dem Vater wohlzugefallen!
Dieser verborgene Segen wurde mir in Krapfs Lebensführung noch ein
anderes Mal illustriert. Ich hatte hie und da die Äußerung gehört,
manchmal sogar in etwas geringschätziger Weise: Dr. Krapf war ein
vorzüglicher und frommer Mensch, aber er hat nicht viel ausgerichtet.
Das wollte mir sehr wehe tun und ungerecht erscheinen. Da, zwanzig Jahre
nach seinem Tode, las ich in dem vorhin erwähnten Centenarbericht der
englischen kirchlichen Missionsgesellschaft eine Beschreibung der
wunderbaren Fortschritte des Evangeliums in Ostafrika, namentlich in
Uganda. Und der Verfasser, Dr. Eugen Stock, ein Engländer, steht nicht
an zu sagen, daß er das Geheimnis dieses herrlichen Erfolges nicht suche
in den äußeren Umständen und Verhältnissen, auch nicht in der besonderen
Tüchtigkeit der Missionare, sondern in dem Gebetskämmerlein jenes
einsamen Deutschen in Mombasa, der mit blutendem Herzen mit seinem Gott
rang für Afrika und in den Riß trat für das umnachtete Volk.
Was wird es einst für Offenbarungen geben im Licht der Ewigkeit, wenn
die da pflügten und säten, arbeiteten und beteten, sich miteinander
freuen werden am großen Erntetag!
Das Ende Ludwig Krapfs im Jahre 1881 war ähnlich dem jenes anderen
Afrikareisenden und Missionars, David Livingstone, acht Jahre zuvor.
Zwar nicht in der afrikanischen Wildnis, sondern in dem heimatlichen
Dorfe Kornthal traf ihn des Königs Ruf. Er hatte den Tag in Wohlsein
verbracht und sagte abends seiner leidenden Gattin freundlich „Gute
Nacht“. Dann zog er sich in sein Stübchen zurück. Als er des anderen
Morgens nicht zum Frühstück erschien, drang man in die verschlossene
Kammer und sah die greise Gestalt vornübergebeugt am Bette knien. Das
Lager war unberührt. Ohne Zweifel hatte das Herz schon in den
Abendstunden aufgehört zu schlagen. Die Knie blieben auch im Tode
gebeugt, so recht ein Sinnbild des Mannes, der seine größten Siege im
Gebet erfochten hat.
Ein süßer Geruch Christi
========================
Wenn ich an das kurze, von göttlicher Gnade umflossene Leben denke, das
ich jetzt schildern möchte, so fällt mir unwillkürlich das Wort ein, das
ich als Überschrift gewählt habe: Ein süßer Geruch Christi. Es ist ein
biblischer Ausdruck (2. Kor. 2, 15). Wie ein Gefäß, wenn es mit
köstlichem Nardenwasser gefüllt ist, den herrlichen Duft seines Inhalts
ausströmt an jedem Ort, da man es hinstellt, so geht es auch mit einem
Herzen, das erfüllt ist von Jesus. Sein Name ist wie eine ausgeschüttete
Salbe.
Der Duft entströmt dem schlichten, einfachen Glas so gut wie der edeln,
geschliffenen Schale. Auf den Inhalt kommt alles an.
Wir wissen nur zu gut, wie dies auch in umgekehrter Weise der Fall sein
kann. Stellt man eine Kanne voll Petroleum in einen Raum, so merkt man
es bald an dem üblen Geruch. So ist es auch auf geistlichem Gebiet.
Regiert das Ich, die Selbstsucht, der Neid, die fleischliche Gesinnung
in einem Herzen, so ist es im ganzen Lebenswandel spürbar. Da hilft kein
Zudecken und kein Firnis. Früher oder später wird der Todesgeruch
offenbar.
Herrscht aber Jesus im Herzen, wandelt man mit ihm, hat man
Herzensumgang mit ihm im Gebet, sind ihm Sinne und Gedanken untertan, so
offenbart sich dieses im täglichen Leben ganz natürlich und ungezwungen
und ist ein Zeugnis für ihn. Darum nennt es der Apostel mit dem schönen
Namen: ein süßer Geruch Christi. Je weniger man dabei an sich denkt,
desto besser ist es. Die Lilie duftet, weil sie eine Lilie ist.
Möchtest du segnend, helfend, wohltuend durch die Menschenwelt gehen, so
laß den Heiland in deinem Herzen wohnen. Möchtest du in deine Familie,
in deinen Bekanntenkreis, in die Gemeinschaft, zu der du gehörst, in den
Eisenbahnwagen, den du flüchtig besteigst, in den Brief, den du eben
schreibst, in das Gespräch, in das du hineingezogen wirst, etwas
Göttliches hineintragen, mit einem Wort, möchtest du etwas sein zur Ehre
deines Herrn, so gibt es dazu nur einen Weg: Lasse Jesum dein Herz
erfüllen.
Das gibt unbewußten und göttlich mächtigen Einfluß.
Ich habe es in diesen Blättern schon erwähnt, daß ich als junges Kind
für einige Jahre das Elternhaus verlassen mußte. Es geschah dies aus
Rücksicht auf Gesundheit und Erziehung, wie es ja in vielen
Missionsfamilien nötig ist. Es war aufs beste für mich gesorgt; ich sage
es mit innigem Dank gegen Gott und Menschen. Aber im Herzen war dennoch
ein beständiges Weh: das Heimweh. Nach außen konnte ich fröhlich sein
mit den Fröhlichen, aber das Heimweh wurde nicht gestillt, bis ich
wieder daheim war. Ich hatte eben noch nicht gelernt, meine Heimat zu
finden in Gott. Aber die Glocken, die mich zu dieser Heimat rufen
sollten, läuteten schon hell und klar im tiefsten Herzen, und dazu hat
die Freundin mit beigetragen, von der ich jetzt erzählen möchte.
Florence Barker war einige Jahre älter als ich und trat in die Pension
ein, als ich schon drei Jahre dort geweilt hatte. Sie war eine ernste,
liebliche Erscheinung, im Umgang zurückhaltend und schüchtern. Ihr Vater
war Geistlicher in London und stand in enger Verbindung mit der dortigen
kirchlichen Missionsgesellschaft. Gleich am ersten Tage ihres Kommens in
unsere Mitte schloß sie sich mir an, vielleicht um meiner lieben Eltern
willen, deren Namen sie kannte und ehrte, wahrscheinlicher noch um
meiner Jugend und meines inneren Verlangens willen.
Ich war damals nicht glücklich. Wiewohl ich keine Zeit kenne, da ich
nicht gebetet und den Heiland geliebt hätte, lebte ich doch im tiefsten
Grunde ohne eine lebendige Verbindung mit Gott.
Die große Mädchenschar in unserer Pension war in fünf Klassen oder
Stuben eingeteilt, die je von zwei Lehrerinnen beaufsichtigt wurden. Ich
hatte es in dieser Hinsicht nicht gerade günstig getroffen. Die eine
unserer Lehrerinnen war eine ältere schwerhörige Dame, die andere war
kränklich und neigte zur Schwermut. Ich schäme mich bei dem Gedanken,
wie selbstsüchtig und durchaus teilnahmslos wir munteren, gesunden
Mädchen für das Befinden unserer Lehrerinnen waren, wie wir nur an unser
liebes Ich dachten, das uns durch die Rücksichten auf das Alter und die
Kränklichkeit unserer Vorgesetzten beeinflußt zu sein schien.
Gewiß fiel das alles unserer neuen, innerlich soviel geförderten
Genossin auf, aber gesagt hat sie, soviel ich mich erinnern kann, nichts
darüber. Sie sprach überhaupt nicht viel, und wenn sie es tat, so
zeigten ihre sanft errötenden Wangen, wie schwer es ihr wurde. Aber ihr
ganzes Tun und Lassen war eine Predigt. Zunächst fiel es uns auf, wie
lieb sie ihre Bibel hatte und mit welcher Freude sie in stillen
Abendstunden oder an Sonntagen dazu griff. Wir merkten auch etwas davon,
daß der Glaube bei ihr eine Überzeugung war und daß sie in der Tat in
ihrem Heiland Leben und Seligkeit gefunden hatte. Sie schlug uns vor, es
möchte jeden Sonntag eine von uns einen Bibelspruch auswählen,
niederschreiben und unter den Spiegel unseres Zimmers heften; das müsse
dann für die betreffende Woche der Wahlspruch unserer Klasse sein. Die
meisten gingen auf diesen Vorschlag ein, und die Widerstrebenden wurden
nach und nach überwunden und freuten sich dann, mitzuhalten. Es lag viel
Zucht in dieser scheinbar so einfachen Einrichtung.
Ausgelassene Scherze und unfeines Wesen waren unserer neuen Mitschülerin
unerträglich, und ich weiß noch, wie sie einmal ganz erstaunt und
betrübt aufblickte, als sie aus unserem Kreise ein unzartes, liebloses
Wort vernahm. Da konnte sie mit dem ihr eigenen Ernst bitten: „O, nicht
wahr, so etwas sagst du nie wieder?“
Aber auf ganz praktischem Gebiet lag ihre größte Kraft. Mit
ungeheuchelter Teilnahme wandte sich ihr liebendes Herz unseren
Lehrerinnen zu, und sie suchte ihnen Freude zu machen, wo sie nur
konnte. Die lieblichsten Blumensträußchen legte sie bald der einen, bald
der anderen auf das Tischchen. Das strahlende Gesicht der älteren Dame
war für uns alle eine Studie und eine Beschämung. Das Fußbänkchen
bereitzustellen, wo es gebraucht wurde; schnell etwas Gewünschtes zu
holen: zu dienen und zu helfen, wo es not war: das war unserer Freundin
zur zweiten Natur geworden. „Nicht wahr, wir wollen heute abend recht
stille sein; ich glaube, Fräulein S. ist gar nicht wohl.“ Das war eine
der wenigen Ermahnungen. — „Du glaubst nicht, wie schön Fräulein B.
erzählen kann, wenn man mit ihr den Spaziergang macht,“ sagte sie mir
einst. „Willst du nicht bitten, heute mit ihr gehen zu dürfen?“ — Bis
dahin hatte es unter uns als ein notwendiges Übel gegolten, hier und da
an der Seite der Lehrerin den üblichen Spaziergang zu machen; viel
lieber schlossen sich die jungen Mädchen je zwei und zwei zusammen zu
allerlei Geplauder. Ich befolgte aber den Rat, und der Gang — und später
noch mancher ähnliche — war wirklich genuß- und lehrreich.
Unsere Erzieherinnen tauten ganz auf bei dem neuen Liebesleben, das sie
umgab, und wir waren erstaunt, zu entdecken, wieviel wir an ihnen haben
konnten, sogar an dem jungen bleichsüchtigen Fräulein, das körperlich
allerdings nicht bald genas, aber doch frischer und fröhlicher wurde.
Daß dies eine gute Wirkung auf die Schülerinnen hatte, versteht sich von
selbst. Nach kurzer Zeit hatte unsere „Stube“ eine so gründliche
Veränderung erfahren, daß es in der ganzen Anstalt offenbar wurde.
Ich wußte, woher meine Freundin die Kraft empfing zu diesem Leben der
Liebe und der Heiligung. Sie war eine Beterin, die es verstand, aus der
Fülle der Gnade zu schöpfen. Sie forderte mich etwa einmal auf, mit ihr
zu beten, und obwohl ich damals noch nicht alles verstand, so merkte ich
doch, wie köstlich es sei, als ein durch Jesum erlöstes Kind mit Gott zu
reden wie mit einem Vater.
Auch nahm sie es sehr genau mit der Sünde. „Ich kann es nicht tun, weil
es den Herrn Jesus betrüben würde.“ sagte sie einmal, als sie zu etwas
aufgefordert wurde, was ihr unrecht schien. Das war das Geheimnis ihrer
Kraft. Nichts sollte sie scheiden von Jesus.
So ging dies mein letztes Pensionsjahr rasch dahin, und wir mußten uns
trennen. Sie kehrte zurück in ihre englische Heimat und ich nach
Jerusalem. Bald konnte ich ihr schreiben, daß meiner Eltern Gott auch
mein Gott und Heiland und daß ich in doppeltem Sinne daheim sei. Das
machte auch unseren Freundschaftsbund noch inniger.
Einige Zeilen, die mir in jener Zeit seligen Findens überaus köstlich
waren, sollen zum Andenken daran hier eine Stätte finden.
Du willst, ich bin des herzlich froh,\
Die Braut sei elend und geringe,\
Daß alles sie von dir empfinge,\
Mein Herr und Gott, du willst es so.\
O daß ich arm und elend bin,\
Will ich nun gerne jedem sagen.\
Mein ganzer Reichtum liegt darin,\
Daß deinen Namen ich darf tragen.\
(G. Jahn.)
Doch zurück zu meiner lieben Florence.
Fünf Jahre nach Abschluß unserer Pensionszeit durfte ich sie in London
besuchen und nahm mit Freuden wahr, wie sie auch zu Hause unter Eltern
und Geschwistern mit stillem Wandel so helle leuchtete.
Auch in Sonntagsschulen und Vereinen hatte sie in reichem Segen gewirkt.
Aber ihr Tagewerk ging schon dem Ende zu.
Etliche Wochen darauf sah ich sie wieder. Sie war leidend und schwach,
konnte aber meistens auf sein und sprach nie von ihrem Befinden. Meine
Augen waren gehalten, so daß ich nicht merkte, wie krank sie war. Sie
aber wußte es wohl und suchte mit der ihr eigenen Zartheit und
Selbstlosigkeit mich vorzubereiten auf die Trennung.
Ich erinnere mich eines schönen herbstlichen Sonntagabends. Sie ruhte
auf einem Liegestuhl; ich saß auf einem Schemel neben ihr. „Lies mir,“
so sagte sie, „von der himmlischen Stadt.“ Ich las: Ich sah die heilige
Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren,
zubereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne. Und hörte eine große
Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, eine Hütte Gottes bei den
Menschen, und Er wird bei ihnen wohnen, und Gott wird abwischen alle
Tränen von ihren Augen… Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des
Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet
sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. Und seine Knechte werden Ihm dienen
und sehen sein Angesicht, und sein Name wird an ihren Stirnen sein.
(Off. 21,22.)
Ihre Augen leuchteten. Es war eine weihevolle Stunde. Beim Abschied gab
sie mir nachstehendes kleines Lied. Es sollte ihr völliges
Einverständnis mit Gottes Führung ausdrücken und zugleich uns, den
Zurückbleibenden, helfen zu sprechen: Abba, nicht mein Wille, sondern
dein Wille geschehe!\
Amen.
Gesegnet seist du, kleines Wort!\
Wie lieblich klingest du\
Im stillen Herzen fort und fort,\
Voll wahrer, tiefer Ruh’.
Ein schlichtes Wort! Oft spricht der Mund\
Es leicht und flüchtig hin:\
Doch wenn es kommt von Herzensgrund\
Bringt’s herrlichen Gewinn.\
Ja, Vater! — Was du mir bestimmst,\
Das nehm ich still und froh:\
Ob du mir gibst, ob du mir nimmst:\
Amen, es sei also!
So lerne ich hienieden schon\
Den hehren Lobgesang,\
Den dort man singt vor Gottes Thron\
In ew’gem Jubelklang:\
Amen! Anbetung, Ruhm und Macht,\
So tönt es jubelnd da,\
Sei dir, o Gottes Lamm, gebracht!\
Amen! Halleluja!\
Kurz nachher, sie vollendete eben ihr vierundzwanzigstes Lebensjahr, am
18. Dezember 1861, schlief sie sanft und selig ein.
Mehrere Jahre waren vergangen. Ich hatte den Orient verlassen und mein
Heim auf dem lieben Chrischonaberg gefunden, da machte ich die
Bekanntschaft einer Christin aus England. Gemeinsame Interessen hatten
uns zusammengeführt, und in der Liebe Jesu fühlten wir uns herzlich
verbunden. Eines Tages tauschten wir mancherlei Lebenserfahrungen und
Eindrücke aus. Wir sprachen von dem Einfluß, den jeder Mensch, bewußt
oder unbewußt, auf seine Umgebung ausübt, ein Einfluß, der oft
unberechenbaren Schaden anrichten, oft aber großen Segen verbreiten
kann.
Als Beleg für letzteres erzählte ich in Kürze, was ich jetzt mitgeteilt
habe, ohne den Namen der Freundin zu nennen, der ich so Großes
verdankte.
Meine neue Bekannte hatte mit Teilnahme zugehört und erwiderte nun: „Es
ist auffallend, wie sich in unseren Erfahrungen manches berührt. Auch
ich hatte in meiner Kindheit eine solche Freundin, die mir eine Führerin
zu Jesu wurde. Nach dem so frühen Tode meiner Mutter wurde ich in
England in einer Anstalt für Pfarrers- und Missionstöchter
untergebracht. Ich fühlte mich unendlich einsam und verlassen. Da nahm
sich eine ältere Mitschülerin meiner in herzlicher Liebe an, half mir in
allen meinen Schwierigkeiten, sprach mir zu und betete mit mir, wie mein
eigenes Mütterlein es getan hatte. Aber nicht nur für mich war sie treu
und gut, sondern für alle in der Anstalt. Und wenn auch einige unlautere
Mädchen sie mieden, gerade um ihrer Frömmigkeit und Aufrichtigkeit
willen, so war sie doch von allen geachtet und von den meisten sehr
geliebt. Auch hörte ich unsere Vorsteherin einmal sagen: »Florence
Barker ist für das ganze Haus ein großer Segen!«“
„Florence Barker!“ rief ich aus. „Florence Barker, so hieß ja auch meine
Freundin. Wäre es denn möglich, daß es dieselbe wäre?“
Ja — es war in der Tat dieselbe! Einige Fragen und Antworten ergaben
bald ohne jeglichen Zweifel die Tatsache, daß es das gleiche junge
Mädchen war, das zuerst mehrere Jahre in einer englischen Anstalt und
dann noch ein Jahr in einem schweizerischen Institut zugebracht und an
beiden Orten solche tiefgehenden Segensspuren hinterlassen hatte, daß
ihrer nach Jahren mit der größten Dankbarkeit gedacht wurde.
Sie war in der Tat ein süßer Geruch Christi, eine Lilie, die hier zu
Ehren des großen Gärtners blühte und nun weiter grünt im Paradiese
Gottes.
Allerlei Gäste
==============
Im Elternhause zu Jerusalem hatten wir selbstverständlich Gelegenheit,
mit Leuten aus aller Welt Enden zu verkehren. Nicht ohne Grund nannte
ein vielgereister Mann und überzeugter Christ unsere liebe alte Stadt:
die Metropole der Welt. Durch das sorgfältige Hören auf die Gespräche,
die bei Anlaß solcher Besuche geführt wurden, habe ich vieles gelernt,
was mir zeitlebens Gewinn gebracht hat. Ich kann deshalb solch
aufmerksames Zuhören meinen lieben jungen Freunden gar nicht genug
empfehlen. — Bei der Fülle der Erinnerungen, die in dieses Kapitel
gehören, muß ich mich auf solche beschränken, die mir irgendwie einen
nachhaltigen Gewinn gebracht haben.
Ich erinnere mich deutlich, wie Herr Professor Constantin von Eichendorf
im Jahre 1859 direkt vom Katharinenkloster am Sinai, wo er den berühmten
Kodex, genannt Sinaiticus (handschriftliches Exemplar des Neuen
Testaments aus dem vierten Jahrhundert), aufgefunden hatte, nach
Jerusalem kam und seinen merkwürdigen Fund mitbrachte. Auch meinem Vater
wurde eine Durchsicht gestattet. Das war für uns alle ein viel
wichtigeres und interessanteres Ereignis als all die Flieger- und
Sportgeschichten, die heutigen Tages die Aufmerksamkeit der Jugend auf
sich lenken. Ich sehe noch, wie alle Tische und Tischlein des
Wohnzimmers mit Papieren und Pergamenten bedeckt waren und wie von
verschiedenen Herren Vergleichungen der Lesarten vorgenommen wurden.
Meinem Vater, diesem großen Bibelfreund, war selbstverständlich diese
Beschäftigung von Wert. Was er aber mit der größten Freude aussprach,
war die schon früher gemachte Beobachtung, daß die Abweichungen in den
verschiedenen handschriftlichen Urkunden nur nebensächliche Dinge
berühren und die großen Wahrheiten unseres Heils von aller Zeugen Hand
restlos bestätigt sind.
Zur selben Zeit weilte auch Großfürst Constantin von Rußland mit seiner
Gemahlin in Jerusalem. Die fürstliche Frau sah ich nicht und konnte
nicht ahnen, wie lieb sie lange Jahre danach mir und einem großen Kreis
von Christen werden würde durch die kostbaren Mitteilungen aus dem
„Halleluja-Eckchen“, wie sie ihr Krankenzimmer im Palast zu St.
Petersburg zu nennen pflegte. Des Großfürsten aber kann ich mich Wohl
erinnern, da er meinem Vater einen Besuch abstattete und man von den
durch seinen Bruder, Zar Alexander II., eingeführten Reformen sprach.
Als ich mehr denn vierzig Jahre später seine Tochter, I. K. H. Herzogin
Wera von Württemberg, kennenlernte, freute sie sich, daß „unsere Väter“
sich begrüßt hätten im irdischen Jerusalem: aber freilich noch ganz
anders durften wir uns darüber freuen, daß wir Heimat- und Bürgerrecht
im himmlischen Jerusalem hatten.
Viel Segen ward mir zuteil durch einen englischen Hauptmann a. D. H.
Layard von der britischen Armee in Indien. Er hatte aus
Gesundheitsrücksichten den aktiven Dienst verlassen müssen, kämpfte aber
für seinen himmlischen König mit der Klarheit und Entschiedenheit, die
bei gläubigen Offizieren so wohltuend berührt. Sein Besuch in Jerusalem
galt auch dem Werk des Herrn; wenn ich nicht irre, hatte er sich der
Judenmissionsgesellschaft zur Verfügung gestellt. Er, der vornehme Mann,
war außerordentlich einfach in seinen Gewohnheiten, dabei aber sehr
pünktlich und ordnungsliebend. Meine Eltern hatten ihn eingeladen, unser
Gast zu sein, und er hatte gern angenommen. Als er am ersten Abend
gebeten wurde, seine Schuhe zum Reinigen vor die Türe zu stellen, meinte
er: „Das sagen Sie einem alten Soldaten! Nee, das besorge ich selbst!“
Dabei zog er eine zierliche Blechbüchse aus seiner Reisetasche und
zeigte uns die vollkommenste Einrichtung zum Schuhputzen, die man sich
denken kann. „Wer in des Königs Dienst soviel reist wie ich, der sorgt
dafür, anderen Leuten möglichst wenig Mühe zu machen,“ meinte er. Er hat
wohl diese Gewohnheiten schon im Vaterhaus in Indien angenommen, wo er
als eines von sechsundzwanzig Geschwistern aufgewachsen war.
Von diesem edeln, ernsten Mann habe ich eine Lektion über das Beten
bekommen, die mir durch mein ganzes Leben von Segen gewesen ist. Er
redete einmal in einer Abendandacht von dem unaussprechlich hohen
Vorrecht, das wir genießen dürfen im Gebet.
„Manche Leute,“ sagte er, „klagen über flatterhafte Gedanken beim Gebet.
Das hat seinen Grund vielfach darin, daß man sich nicht genug sammelt in
Gottes Gegenwart, ehe man zum Gebet schreitet. Wenn man vor Seine
Majestät treten will, muß man es sich bewußt werden, daß man in das
Audienzzimmer eines Königs kommt und es mit ihm zu tun hat. Ehe du ein
Wort des Gebets sprichst, blicke in Ehrfurcht auf zu dem großen Herrn,
dessen Saum den Tempel erfüllt, der umgeben ist von den heiligen
Cherubinen und Seraphinen. Werde stille vor ihm. Wenn man schnell
hinkniet und gleich einige Anliegen oft mehr aus Gewohnheit oder mit
halbem Herzen vor ihn bringt, so ist das keine richtige Anbetung und
auch kein wirkliches Bitten. Mache es dir klar, daß du mit Gott reden
und was du ihm sagen willst. Laß ihn auch zu dir reden. Wer in dieser
Gesinnung kommt, wird nicht über flatterhafte Gedanken zu klagen haben.“
Mit solchen und ähnlichen Worten ermahnte er uns auch in
Einzelgesprächen. Die für das Wachstum und Gedeihen so notwendige stille
Sammlung zum Gebet im Kämmerlein schließt das schnelle Aufwärtsschicken
eines Seufzers nicht aus, das oft, wie bei Nehemia, zwischen einer Frage
und deren Beantwortung zu Gott gesandt und mit Heil beladen zurückkommen
kann. Noch viel weniger soll es das Beten ohne Unterlaß ersetzen. Aber
eben, um ein wahres Gebetsleben zu führen und im Augenblick der Not
gleich die richtige aufwärtssteigende Linie zu finden, ist es nötig, die
heilige Flamme durch ein öfteres eindringliches Hinzunahen zum
Gnadenthron und ein Schöpfen aus Gottes Fülle zu nähren.
Der gleiche Grundsatz ist anwendbar auf die Bereitschaft zum Anhören des
göttlichen Wortes. Darum ist es so heilsam, jeweilen frühzeitig zum
Gottesdienst oder in die Erbauungsstunde zu kommen und in der
Herzensstellung zu sein, die Cornelius so schön beschreibt mit den
Worten: Siehe, wir alle sind hier gegenwärtig vor Gott, zu hören alles,
was von ihm befohlen ist.
Wie ist es doch so ein wichtiges Ding um unsere Worte! Für jegliches
unnütze Wort sollen wir ja einst Rechenschaft geben. Aber welchen Segen
kann ein gutes Wort stiften! Es ist ein goldener Apfel auf silberner
Schale. Der liebe alte Hauptmann, der sich so freundlich mühte, ein
junges Mädchen zu belehren, hat es wohl nie erfahren, welch’ köstliche
Frucht das ausgestreute Samenkorn getragen hat, sowohl für mich selbst,
als auch für andere, in deren Herzen ich es weitergeben durfte. Er
selbst aber ist schon lange dort, wo man erntet ohne Aufhören.
Um das Jahr 1865 war es, daß eine flüchtige Begegnung uns zuteil wurde,
deren Bedeutung uns erst später bewußt ward. Prinz und Prinzessin von
Schleswig-Holstein-Noer besuchten das Heilige Land, nicht lange nach
ihrer Vermählung. Ich sehe noch im Geist die hohe ritterliche Gestalt
des schon älteren Herrn und die zarte liebliche Erscheinung der jungen
Frau, einer geborenen Amerikanerin, Marie Lee, die unser aller tiefste
Teilnahme erwarb. Dem jungen Glück folgte bald schweres Leid. Nach nur
neunmonatlicher Ehe starb der Prinz, noch ehe man die Küste Palästinas
hatte verlassen können, und die betrübte Witwe mußte einsam zu den
Ihrigen zurückreisen.
Neun Jahre später reichte sie ihre Hand dem Feldmarschall Graf Alfred
Waldersee, mit dem sie in dreißigjähriger glücklicher Ehe gelebt hat.
Wir hatten einmal die Freude, die beiden in unserem Chrischonaheim zu
sehen. „Ich vergesse Jerusalem nie,“ sagte die Gräfin Waldersee mit
innigem Händedruck.
Was sie an der Seite ihres Gatten und in den zehn Jahren seit seinem
Heimgang (1904) im Reiche Jesu Christi gewirkt hat und gewesen ist, kann
nur angedeutet werden. Vielen ist sie, besonders in ihrem eigenen Hause,
eine Führerin zu Jesu und geistliche Mutter geworden.
Am 4. Juli 1914 ist sie in Hannover entschlafen. Das Werk des Herrn lag
bis zuletzt ihr sehr am Herzen. „Aller Glaube, der nicht aufgebaut ist
auf das Kreuz Jesu Christi, ist nichts,“ sagte sie. Am letzten Abend vor
ihrem Heimgang breitete sie die Arme aus, und mit verklärtem Ausdruck in
den Augen sagte sie: „Die Herrlichkeit des Herrn gehet auf über mir.“
Und etwas später: „Es ist Gnade, alles Gnade.“ So durfte sie eingehen in
die Herrlichkeit, um den zu schauen, dem ihr ganzes Herz und ihr Leben
gehört hatte. Bei solchen Sterbebetten merkt man es, daß der Glaube eine
Realität ist.
Doch wir kehren zurück nach Jerusalem und in die Zeit vor beinahe
fünfzig Jahren.
Da hatten wir einen Gast aus dem fernen Westen, dem wald- und
wasserreichen Staate Minnesota, Bischof Whipple. Er leitete dort, in
seiner einflußreichen Stellung als Bischof der englischen
Episcopalkirche, ein großes Weck unter den Indianern und durfte manchen
„Sohn der Wildnis“ zum Heiland führen. Man nannte ihn den Apostel der
Indianer, weil er sich ganz für sie hingab und zeitweise unter ihnen
wohnte. Nun hatte er in einer Urlaubszeit die Reise ins Heilige Land
gemacht. Auf dem großen Ozeandampfer lernte er einen jungen Mann kennen,
der bis dahin ohne Gott in der Welt gelebt hatte. Der Jüngling bekam
durch den Umgang mit dem Manne Gottes tiefe Eindrücke und bekehrte sich.
Er war als Kind nicht getauft worden und verlangte nun danach. So kam
es, daß Bischof Whipple ihn, als sie die Reise nach dem Jordan machten,
dort taufte, wo sein Heiland einst die Taufe empfing. Es muß eine
weihevolle Stunde gewesen sein. Doch war wohl die Sonnenglut zu heftig
gewesen für den Bischof, und schwer krank kehrte er in das Hotel in
Jerusalem zurück. Meine Mutter lud ihn sofort ein, zu uns zu kommen, und
fast wie ein Sterbender wurde er in unser Haus getragen. Es folgten drei
Wochen ernster Sorge und schwerer Pflege; denn das syrische Fieber war
mit aller Heftigkeit aufgetreten. Aber dann hatten wir die große Freude,
unseren Freund als einen Genesenden zu begrüßen und nach drei oder vier
weiteren Wochen ihn völlig hergestellt wieder zu seiner Familie und
seinen geliebten Indianern heimkehren zu sehen.
Einen ebenfalls seltenen Gast beherbergten die Eltern auch einmal auf
kürzere Zeit. Es war ein Neger aus Liberia, Westafrika, ein gebildeter
und feiner Mann, der den Titel Professor trug und in einer der ersten
Erziehungsanstalten seines Vaterlandes unterrichtete. Was mir von dem
Verkehr mit ihm als eine Art geistigen Vermächtnisses geblieben ist, das
war ein Blick, den er uns tun ließ in heiße innere Kämpfe eigener Art.
Der Gegensatz zwischen den kulturellen und anderen Vorzügen der
Japhetiten und Semiten und den bedauernswerten Verhältnissen seiner
eigenen Rasse drückte seine Seele in dem Maße, als sie sich durch innere
Entwickelung ihrer Fähigkeiten bewußt wurde. Mit einem Blick, der mich
fast physisch schmerzte, sagte er einmal, das Wort des Apostels Paulus
auf dem Areopag in Athen habe ihm das (geistliche) Leben gerettet: Gott
hat gemacht, daß aus einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem
ganzen Erdboden wohnen . . . Wir sind göttlichen Geschlechts. (Apost.
17, 26—28.)
An diese Begegnung wurde ich lebhaft erinnert, als vor etlichen Jahren
der Negerbischof Oluwole von Sierra Leone als Gast im Hause ,,Zu den
Bergen“ auf Chrischona weilte und uns durch seine Vorträge und seine
christliche Gesinnung erbaute.
Und nun als letztes eine Geschichte, die in eine viel frühere Zeit
fällt, aber uns allen unvergeßlich geblieben ist. Sie widerfuhr einem
Freunde aus Berlin, dem Kandidaten der Theologie Ohnesorge. Dieser teure
Mann machte seinem seltsamen Namen alle Ehre; denn er hatte gelernt,
seine Sorgen auf den Herrn zu werfen. Er war nicht mehr ganz jung und
hatte eine Braut, die er heimzuführen hoffte, sobald er eine Berufung
ins Amt erhalten würde. In der Wartezeit war ihm Gelegenheit geboten
worden, eine Reise nach Jerusalem zu machen, und mit Freuden hatte er
das Vorrecht wahrgenommen. Wie glücklich war er, als er die heiligen
Stätten besuchen und in der Stadt des großen Königs predigen durfte!
Südöstlich von Jerusalem erhebt sich der hohe Frankenberg, der durch
seine vulkanähnliche Form im Landschaftsbild einen eigenartigen Eindruck
macht. Die Aussicht, die man von dort genießt, ist ergreifend, und es
war nicht zu verwundern, daß der Kandidat Ohnesorge den schönen Punkt zu
besuchen wünschte. Man sagte ihm zwar, es sei gefährlich, allein dahin
zu gehen, weil räuberische Beduinen in der Gegend hausten, er müßte
einige bewaffnete Araber zum Schutze mitnehmen. Das war aber eine
kostspielige Sache, und Herr Ohnesorge meinte, man sehe es ihm ja an,
daß er keine Schätze mit sich führe, und werde ihn wohl in Ruhe lassen.
Der lange Marsch ging denn auch gut vonstatten, und voll Freude langt
unser Freund auf dem Gipfel des Berges an. Er ist ganz versunken in die
eigenartige Schönheit der Aussicht, die sich ihm darbietet. Wie mächtige
steinerne Wellen liegen vor ihm die Felsmassen des Gebirges, das sich
immer tiefer dem Jordantale zusenkt. Dort liegt die blaue Fläche des
Toten Meeres, glitzernd im Hellen Sonnenschein. Und dort windet sich wie
ein grünes Band durch das sonst öde Tal der Jordan mit seinen
reichbewachsenen Ufern.
Der Wanderer kann sich nicht satt sehen. Da plötzlich regt sich etwas in
seiner Nähe. Er sieht sich um und erblickt hinter der Felsenkante ein
dunkles Gesicht, das mit schwarzen, funkelnden Augen nach ihm späht. Ein
Beduine ist’s, der sein Pferd am Halfter nach sich zieht. Und da, siehe,
noch einer, und da, noch mehrere. Sie kommen auf ihn zu, und er weiß,
was ihre Gebärden sagen wollen, wenn er auch ihre rauhe Sprache nicht
versteht. Er streckt ihnen freundlich Uhr und Beutel entgegen. Aber
damit sind sie nicht zufrieden, und teils aus Rache für die getäuschte
Hoffnung, teils aus böser Lust, den armen Fremdling zu quälen, nehmen
sie ihm Stück für Stück alle seine Kleider hinweg und ziehen hohnlachend
von dannen. Nur den Hut haben sie ihm gelassen.
Nun kommt ein Moment, da der liebe Kandidat Ohnesorge mit schwerer Sorge
zu ringen hat. Wie soll er je aus dieser peinlichen Lage befreit werden?
Aber es ist nur ein Moment, da siegt der Glaube. Er lehnt sich dicht an
den Felsen und hebt an, fest und klar das alte Lutherlied zu singen, das
schon manchem Streiter Christi den Mut gestärkt hat, wohl aber noch nie
in so eigentümlichen Verhältnissen erklungen ist:
Ein’ feste Burg ist unser Gott,\
Ein’ gute Wehr und Waffen,\
Er hilft uns frei aus aller Not,\
Die uns jetzt hat betroffen.\
So singt er Vers um Vers. Wie er zum Ende kommt:
Nehmen sie uns den Leib,\
Gut, Ehr’, Kind und Weib,\
Laß fahren dahin,\
Sie haben’s kein Gewinn:\
Das Reich muß uns doch bleiben —
da sieht er, wie seine Peiniger sich ihm wieder nahen, aber mit ganz
anderem Gesichtsausdruck als vorhin.\
»Derwisch! Derwisch!“ (ein Heiliger) murmeln sie. Einem solchen darf
kein Leid zugefügt werden; er steht unter Gottes besonderem Schutz. Da
kommen sie einer nach dem anderen, die diebischen Beduinen, und bringen
ihm alle seine Sachen wieder, Hemd und Hose. Weste und Rock, Schuhe und
Strümpfe, Uhr und Beutel. Freundlich legen sie ihm alles hin. Ja, sie
tun noch mehr; sie begleiten ihn den Berg hinunter, um ihn vor fernerem
Überfall zu schützen, und unter der Bedeckung dieser seltenen Leibgarde
erreicht unser Freund das Städtchen Bethlehem und ist aus dem Gebiet der
wilden Beduinen gerettet. Voll Freude wurde er in Jerusalem begrüßt, wo
wir seines langen Ausbleibens wegen in Sorge geraten waren.
Diese Begebenheit ist es wert, festgehalten zu werden. Sie beweist die
Macht des Glaubens, der mitten in der Bedrängnis vom Siege singen kann.
Der liebe Sänger aber ist schon längst aller Not und Sorge auf ewig
entrückt. Er starb, noch ehe er seine Braut hatte heimholen können, aber
sein Glaube half ihm auch in der letzten Not zu singen: Gott aber sei
Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unseren Herrn Jesum Christum!
Ein Jahr in England
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“Etwas von deinem Aufenthalt in England mußt du in deinem Buch der
Erinnerungen mitteilen,“ so mahnt eine mir gewichtige Stimme aus meinem
Kinderkreise. Ich hatte allerdings nicht beabsichtigt, es zu tun. Denn
ich wollte ja nicht sowohl von mir selbst erzählen, als von den
Menschen, die für mich Kanäle des Segens geworden sind. Und gerade
während jenes ersten Aufenthalts in England im Jahre 1861/62 kam ich mit
solchen geförderten Christen wenig in Berührung und habe daher keine
bemerkenswerten Züge zu zeichnen. Und doch war jenes Jahr in der Tat in
mancher Beziehung ein Jahr besonderen Segens für mich, und die damals
gesammelten Erfahrungen haben in gewissem Sinn entscheidend auf meinen
ganzen ferneren Lebensgang gewirkt.
Als ich dies alles erwog, kam es mir zum erstenmal nachdrücklich zu
Gemüt, daß wohl gerade diese völlige Abhängigkeit von Gott, dieses
Geworfensein auf ihn allein die Erklärung und Ursache des Segens gewesen
seien. Und so mag denn auch dieser Abschnitt dem einen und anderen,
besonders unter meinen jungen Lesern, von Interesse und vielleicht von
Nutzen sein. Die »lichten Spuren“, die sich hier finden, rühren ganz
unmittelbar von der Gnade des großen Herrn, der seine Kraft in der
Schwachheit seines Kindes offenbarte.
Der äußere Rahmen zu diesem Bilde war außerordentlich lieblich. In dem
kleinen Städtchen Romsey, unweit Southampton, dem großen Hafenplatz
Südenglands, war mein lieber ältester Bruder als Hilfsgeistlicher
angestellt worden. Seinem dringenden Wunsch, eine Schwester als
Teilnehmerin seiner Freuden und Leiden zu haben, wurde von seiten meiner
Eltern und von mir selbst gern entsprochen.
Die Hauptzierde von Romsey war ein prächtiger Dom, The Abbey, ein alter,
gut erhaltener normannischer Bau. Der weite Raum war nur soweit
bestuhlt, als es für die Erfordernisse der Gemeinde nötig war. Große,
weite Säulengänge mit schönen Grabmälern aus alter Zeit lagen ringsum.
Trotzdem war die Akustik vortrefflich. Die Gottesdienste waren schlicht
und die Predigt evangelisch.
Etwas außerhalb der Stadt lag inmitten eines herrlichen Parks das Schloß
Broadlands, der Sitz des damals vielgenannten Premierministers Lord
Palmerston. Wir sahen die Herrschaften oft bei der sonntäglichen
Predigt. Wenn viele Gäste im Schloß weilten und der Palmerstonsche
Kirchenstuhl nicht ausreichte, so führte der feierliche Küster die
Herren zuweilen in meinen Sitz. Dieser war in freundlicher Fürsorge für
eine eventuelle kinderreiche Hilfsgeistlichenfamilie eingerichtet, und
da zurzeit nur ein einsames Pfarrschwesterlein drin saß, so war
natürlich viel Platz da für andere. Es machte dem alten Kirchendiener
Freude, mir dann bei späterer Begegnung zu erzählen: „Am Sonntag war
Lord Shaftesbury Ihr Nachbar“; oder: „Gestern saß Sir Austen Layard von
Rinive (der bekannte Forscher) neben Ihnen. Es war mir natürlich
interessant, manche Männer aus diplomatischen und besonders aus
Literaten- und Künstlerkreisen zu sehen. Aber mit Ausnahme des edeln,
frommen Grafen von Shaftesbury lernten wir keinen dieser Herren
persönlich kennen.
Der Landsitz der Familie Nightingale war auch in der Nähe unseres
Städtchens. Die edle Tochter Florence, die „Heldin unter den Helden“ des
Krimkriegs, war selbstverständlich eine bekannte und hoch geliebte
Persönlichkeit.
Noch eines interessanten Mannes möchte ich kurz Erwähnung tun. Er war
Buchhändler, Verleger und Buchdrucker in einer Person und liebte sein
Fach so sehr, daß er auch als Schriftsetzer sich gern übte. So gab er
gerade in jener Zeit ein Buch heraus, das niemals geschrieben worden
war. Es war eine umfangreiche Geschichte der Abtei von Romsey. Das Werk
entstand tatsächlich am Setzerkasten, wo der Herr Verfasser und Verleger
mit Begeisterung, aus Gemüt und Gedächtnis schöpfend, Wort an Wort
reihte und ein wirklich schönes Buch schuf.
Einige Familien von Geistlichen, Ärzten, Offizieren und Juristen
bildeten einen schönen Freundeskreis, in den wir mit großer
Zuvorkommenheit aufgenommen wurden. Aber unser Hauptumgang war unter den
Armen. Für sie waren wir recht eigentlich da, und wir fühlten uns
überaus glücklich dabei.
Es war viel Armut und viel Arbeit vorhanden. Die kleinen Orte in der
Nähe großer Seestädte sind oft rechte Schlupfwinkel des Bösen. Ich war
noch zu jung, um zu verstehen, wie groß und tief das Laster war, das
mich umgab. Die Aufgaben kamen ungesucht mir zu. Man nahm von vornherein
an, die Schwester des Hilfsgeistlichen müsse auch mithelfen, und ich
kann wohl sagen, daß ich blindlings hineingeführt wurde in Szenen und
Verhältnisse, die ich nie wieder vergessen kann. Aber da lernte ich die
Kraft des Namens Jesu und die heilige Wirkung seines Wortes kennen wie
nie zuvor. Ich lernte zu Gott schreien um Hilfe und Rat und durfte es
erfahren, daß der Herr Kraft und Weisheit schenkt im Augenblick der Not.
— Mehr möchte ich von dieser Seite der Arbeit nicht sagen.
Aber einige andere liebliche Erfahrungen will ich aufzeichnen.
Ich besuchte regelmäßig ein junges, am Rückenmark leidendes, seit Jahren
ans Bett gefesseltes Mädchen. Wir plauderten allemal ein Weilchen
zusammen; dann las ich einen Abschnitt aus der Bibel, erklärte ihn, so
gut ich es verstand, und betete mit ihr. Man sprach damals noch nicht
soviel wie heute von Seelenrettung, und ich hätte gar nicht gewagt zu
denken, daß ich jemand zu Jesu führen könnte. Aber siehe da! Das Wort
Gottes, das ich in Einfalt vorlas, wirkte Leben. Im Lichte dieses Wortes
erkannte die Jungfrau ihre Sündennot, erkannte aber auch ihren Heiland
und drang vom Tod zum Leben hindurch. Bei dieser herrlichen Erfahrung
war ich ganz überwältigt. Es war mir nicht anders zumute als dem Petrus,
da er ausrief: Herr, gehe hinaus von mir, ich bin ein sündiger Mensch!
Diese Erfahrung aber ermutigte mich, bestimmter zu werben. Ein großer
fünfzehnjähriger Knabe, dessen Name, Tom R., auf der Liste der
Sonntagsschüler meiner Gruppe figurierte, der aber niemals dazu kam,
beschäftigte mich, und ich hätte ihn gern aufgesucht und persönlich
eingeladen. Aber man riet mir entschieden ab. „Er ist ein ganz gottloser
und böser Junge; er verdirbt Ihnen die ganze Klasse; mit ihm ist nichts
anzufangen,“ so sagte sogar der Herr Pfarrer, dem ich meinen Kummer
mitgeteilt hatte. Eines Tages besuchte ich die Mutter jenes Knaben, eine
arme, fromme Witwe. Es wurde spät, und wie ich eben ihre Hütte verlassen
wollte, trat Tom herein. Ich sah ihn zum erstenmal von nahem. Er war
Lehrling in einer Eisenhandlung und sah schmutzig und scheu aus. Trotz
den mancherlei Warnungen konnte ich nun doch nicht anders, als ihn
herzlich zu bitten, doch in die Sonntagsschule zu kommen. Und richtig,
am nächsten Sonntag kam er, kam vormittags und nachmittags, kam immer
wieder, und bald durfte ich erfahren, daß er nicht nur zur Schule,
sondern zum Heiland selbst gekommen sei. Er wurde ein umgewandelter und
seliger Mensch.
Bei meinem Abschied von Romsey im darauffolgenden Jahr sagte mir seine
Mutter: „Jetzt muß ich Ihnen doch erzählen, was bei Tom den Ausschlag
gegeben hat; denn Sie sind noch jung, und es kann Ihnen auch später von
Nutzen sein. Als Sie ihn an jenem Abend zum erstenmal bei mir trafen, da
merkte ich nachher, daß er eigentümlich bewegt war. Ich hieß ihn, sich
die Hände zu waschen und zum Nachtessen zu kommen. Da sagte er: »Ich
möchte am liebsten die rechte Hand gar nicht waschen. Sieh, es hat mir
schon lange, lange niemand mehr die Hand gegeben. Alle haben mich
verachtet. Aber jetzt will ich auch in die Sonntagsschule gehen.« Das
war der Anfang seiner Umkehr.“
Ich fühlte mich sehr beschämt, als ich dies vernahm. Fast achtlos hatte
ich ihm ja damals die Hand gegeben. O wieviel, wieviel versäumen wir!
Als ich nach einer Reihe von Jahren wieder einmal nach Romsey kam, fand
ich meinen jungen Freund als einen gut gestellten, auf Gottes Wegen
wandelnden Mann wieder. Der Pfarrer, den ich nach ihm fragte, sagte mir:
„Er ist ein sehr lieber und tüchtiger Jüngling. Das einzige, was ich an
ihm zu tadeln habe, ist, daß er die Bibelstunden der Dissidenten
besucht.“ Ich muß bekennen, daß ich mich darüber nur freute; denn da
keine andere Gemeinschaft am Orte war, verstand ich wohl, daß er als
Christ Anschluß suchte, wo er ihn fand.
Eine sehr kranke alte Frau wurde von auswärts zur Stadt gebracht und in
eine Pflege gegeben. Mein Bruder sagte mir gleich nach der ersten
Begegnung: „Da mußt du bald und oft hingehen. Sie ist ganz unwissend und
sehr krank.“ So war es auch. Sie hatte ihr Leben in einer einsamen Hütte
im Walde zugebracht, war seit Jahren nicht zur Kirche gegangen und
konnte weder lesen noch schreiben. Nun war ernste Krankheit
ausgebrochen, und in der Nähe des Todes kam die Furcht vor der
unbekannten Ewigkeit. Ich erzählte ihr vom Heiland, von seinem Leben und
Leiden, von seiner Liebe und Macht. Und die alte Frau nahm die Botschaft
auf wie ein Kind, wie Blumenkelche den Tau aufnehmen. Jemand Weiseres
hätte ihr vielleicht gesagt, sie müsse Buße tun und glauben. Aber sie
glaubte ja so kindlich und froh und war so glücklich zu denken, daß das
Lamm Gottes ihre Sünden, die ihr so große Angst machten, hinweggetragen
habe. Weitere Ermahnungen hätten sie nur verwirrt.
Die Krankheit, ein Kehlkopfkrebs, machte rasche Fortschritte, so daß sie
wenig sprechen konnte. Aber kurz vor ihrem Ende sagte sie noch mit ihrer
heiseren Stimme: „O lieber Herr Jesus, was sind Sie doch für ein guter,
freundlicher Herr, daß Sie alles für mich getan haben! Ich danke Ihnen!“
In ihrer Unwissenheit hatte sie nicht gemerkt, daß man Gott, den Herrn,
auch in der englischen Sprache mit du anredet. Ihr Dankgebet klang fremd
und doch so echt.
Einem lieben schwindsüchtigen Mädchen, das genau so alt war wie ich, las
ich einmal den schönen 86. Psalm vor: Herr, neige deine Ohren und erhöre
mich, denn ich bin elend und arm! Sie war so schwach, daß man ihre
Stimme kaum noch verstehen konnte, und ich machte sie darauf aufmerksam,
wie der Herr so gnädig sein Ohr zu den Seinen neige, so daß sie auch
flüsternd zu ihm reden könnten. Dieser Gedanke war ihr eine wahre Wonne,
und ganz kurz vor dem Sterben wollte sie nochmals den Psalm hören und in
ihres Gottes Ohr ihre letzte Bitte flüstern.
Ich habe hier einige der schönsten Züge aus jener reichen Zeit erzählt.
Aber es gab auch andere und schmerzliche Erfahrungen, die mir zur
Demütigung dienten.
Ich erwähnte vorhin die Versammlungen der Dissidenten (dissenters). So
nannte man in England alle Gemeinschaften, die nicht zu der
anglikanischen Staatskirche gehörten. Der Gedanke der evangelischen
Allianz hat doch, Gott sei Dank, in den letzten fünfzig Jahren gewaltige
Fortschritte gemacht. Wie waren doch damals die Zwischenzäune unter den
Hürden der einen Herde so hoch! Den jungen, damals gerade allgemein
bekannt werdenden Spurgeon zu hören, galt als eine große Untreue und
Taktlosigkeit. Man grüßte auf der Straße Mitglieder anderer
Gemeinschaften kaum. Mir tat das wehe. In einer abgelegenen Straße
Romseys lag die bescheidene kleine Methodistenkapelle, umgeben von
schattigen Bäumen. Gern ging ich des Sonntags oder Mittwoch abends in
jene Straße, um dem warmen Gesang zu lauschen, der aus dem schlichten
Gotteshause hervorquoll. Ich stimmte auch etwa mit ein und erquickte
mich daran.
Öfter traf ich auf meinen Gängen zwei junge Damen, denen ich es
abfühlte, daß wir eines Geistes Kinder seien. Ich erkundigte mich nach
ihnen und erfuhr, daß sie fromme und geachtete Lehrerinnen, aber —
dissenters seien. „Sie werden doch nicht mit ihnen näheren Umgang
pflegen wollen?“ sagte man mir. Aber es kam noch dazu. Die Liebe Jesu
brach durch die hohen Umzäunungen durch, und Gott segnete uns.
Die Schwestern hatten übrigens ein schönes Familienleben; sie wohnten
bei ihrer verwitweten Mutter, die auch eine lebendige Christin war. Der
Vater war ein Offizier der Marine gewesen und hatte seinerzeit das
Kriegsschiff befehligt, das den Kaiser Napoleon in die Verbannung nach
der Insel Elba brachte. Zur Erinnerung an jene wehmütige Fahrt hatte
Napoleon seinem Kommandanten einen Ring geschenkt, einen wundervollen
Smaragd, auf dem mit lauter Diamanten der Buchstabe gebildet war. Der
Ring wurde hoch in Ehren gehalten im Andenken an den „armen Napoleon“.
Meines Bruders Haupttätigkeit war in dem Filialdorf Lee. Dort wurde in
jenem Jahr durch seine treuen Bemühungen eine Kapelle gebaut. Wie
manchen schönen Gang haben wir zwei Geschwister dort hinaus gemacht! In
der Weihnachtszeit ging’s über den knisternden, festgefrorenen Schnee
bei hellem Sternenschein; im Frühling durch die blühenden Hecken, an dem
wundervollen grünen Wiesenland vorbei. Am Sonntag nach Ostern kehrten
wir einst froh und still nach dem Abendgottesdienst wieder nach Hause.
Es waren für mich ernste und traurige Tage vorausgegangen. Ein Nebel
hatte sich über meine Seele gelagert; nun war die Sonne der Gnade wieder
durchgebrochen, und mein Herz war sehr fröhlich. Da sagte mein teurer
Bruder mit einem bedeutsamen Leuchten in seinen guten Augen: „Mir
scheint, du habest dies Jahr erst mit Thomas Ostern gefeiert!“ Es war in
der Tat so. Wie dankte ich dem Bruder für sein zartes Verständnis meines
inneren Glücks und für die eben so zarte Zurückhaltung, die mich zuvor
nicht mit Fragen verletzt hatte.
In Lee wohnte ein armer Mann, namens Offer, der lebenslang Tagelöhner
auf einer großen Farm gewesen war. Nun war er alt und gebrechlich und
konnte sein Lager selten mehr verlassen. Er brachte seine Zeit zu mit
Lesen, Sinnen und Beten. Ihn besuchte mein Bruder jede Woche, und zwar
verstand er es, seine Besuche für beide Teile nutzbar zu machen. Er las
gewöhnlich dem greisen Freunde den Text, über den er am nächsten Sonntag
zu predigen gedachte, im Zusammenhang vor. Die Fragen, die der alte
Offer stellte, zeigten ihm, was wohl den meisten seiner Zuhörer als eine
Schwierigkeit erscheinen würde, und die Bemerkungen des erfahrenen
Christen gaben zu mancher Wahrheit neues Licht oder freudige
Bestätigung. Öfter gab mir mein Bruder hernach Bericht über solche
Predigten, die, wie er sich ausdrückte. „Offer und ich“ miteinander
gemacht hätten. — Ich habe gedacht, dieser schlichte Zug könnte für
manchen jungen Prediger nachahmenswert sein.
Auch ich besaß unter meinen lieben armen Frauen eine oder zwei
priesterliche Seelen, die mit mütterlicher Teilnahme über mich wachten.
Eine derselben war eine Schottin aus dem Hochlande, die trotz langen
Aufenthalts in England ihren urwüchsigen heimatlichen Dialekt
beibehalten hatte. Es war für Leib und Geist eine Freude, diese liebe
betagte Christin in ihrem kleinen efeuumsponnenen Häuschen zu besuchen.
Sie kannte von Kind auf die Heilige Schrift und liebte sie sehr. Die
Psalmen Davids konnte sie fast alle auswendig, allerdings nach der
metrischen Übersetzung, die in der schottischen Kirche gebraucht wird.
Sie erzählte mir einmal, daß sie als ganz junges Mädchen in ihrer ersten
Stelle über ihre Kräfte angestrengt gewesen und oft abends vor Müdigkeit
fast umgesunken sei. Aber Gott habe so treu über sie gewacht, daß sie
doch nie ohne Gebet zu Bett gegangen wäre. Allerdings sei sie manchmal
auf den Knien eingeschlafen, und einmal habe sie sogar eine ganze Nacht
so zugebracht und sei am Morgen verwundert gewesen, sich angezogen und
auf den Knien zu befinden! Das liebe welke Gesicht wurde ganz rot bei
dieser Erinnerung. Sie erzählen zu machen war mir nicht nur eine Freude,
sondern eine tiefe Erbauung. Ein solch dankbares, gläubiges, fröhliches
Gemüt ist etwas Köstliches. Daß der Heiland um ihre Sorgen und Nöte
wisse, war ihr genug. Daß sie ein Auge verloren und nun am zweiten am
Erblinden war, focht sie nicht im mindesten an. Sie drückte mir eines
Tages ihr liebes Neues Testament in die Hand; die Psalmen in metrischer
Übersetzung waren auch dabei. „Nehmen Sie es als mein teuerstes
Vermächtnis,“ sagte sie; „ich sehe ja doch nicht mehr genug, um es zu
lesen.“ Und das eine blöde Äuglein zwinkerte dabei so vergnügt, als ob
sie mir die freudigste Nachricht gesagt hätte.
Das alte liebe Buch liegt vor mir, während ich diese Zeilen schreibe.
Ich schaue es mit Ehrsucht an. Welche wunderbare Kraft liegt doch in dem
von Gottes Geist durchhauchten Buch, daß es in allen Ländern und Zonen
Herzen erleuchten und erwärmen kann und der gläubigen Seele in der Tat
schmeckt wie Honig und Honigseim!
Einen kleinen Zug aus der Romsey-Zeit will ich noch hersetzen zur
Ermunterung für meine jungen Freundinnen, die alle ihre Gaben ganz dem
Heiland weihen wollen. — Es wurde in den Gesellschaftskreisen, in denen
wir verkehrten, viel gesungen, sowohl Solo als in Gemischtem Chor. Seit
ich des Herrn bewußtes Eigentum geworden war, hatte ich keinen Gefallen
mehr an Liedern, die nur der Weltlust dienten, und machte darum nicht
gern mit. Aber zu Hause wurde jeden Abend in der Dämmerstunde ein Lied
oder eine Arie gesungen zu stiller Erbauung und Freude. Gegen Ende
meines Aufenthalts erfuhr ich, daß ich damit ganz ungesucht einem
kleinen Kreis von Armen und Geringen unter unseren Nachbarn gedient und
manchen aus ihnen Trost und Heilsverlangen ins Herz gesungen hatte. Sie
hätten jeden Tag, so erzählten sie, auf ihr Abendlied gewartet. Wieviel
köstlicher war das, als aller Beifall, den das törichte Herz etwa einmal
gewünscht hätte! Alles, was wir dem König opfern auf irgendeinem Gebiet,
ist nicht Verlust, sondern Gewinn.
Ein vielgesungenes Lied aus jener Zeit war:
Dein, Jesu, dein!\
Es kann das Herze mein\
Nicht Ruhe finden fern von dir;\
Die Welt ist nun gekreuzigt mir,\
Und ich bin dein.
O Gottes Sohn,\
Du meines Lebens Kron’!\
Ob ird’sche Freuden fahren hin,\
Du bist mein seligster Gewinn.\
O Gottes Sohn!
So stärke mich,\
Zu schauen nur auf dich,\
Zu wandeln auf dem schmalen Pfad,\
Zu schöpfen täglich Gnad’ um Gnad’.\
Ja, stärke mich!
Bis du dereinst In Herrlichkeit erscheinst\
Und heim mich holst zur sel’gen Schar,\
Die dich lobpreiset immerdar.\
Herr Jesu, komm!
In der Zeit meines englischen Aufenthalts fanden im Norden des Landes
und besonders auch in Schottland und Irland kräftige Erweckungen statt,
die um so bedeutsamer waren, als sie nicht infolge von besonderen
Predigten entstanden, sondern direkte Wirkungen des Heiligen Geistes
waren. Meistens fing die Erweckung damit an, daß einige Jünglinge sich
zusammen verbanden zum Gebet. Der Kreis erweiterte sich von Tag zu Tag,
und bald waren große Versammlungen beieinander, die dann von einem
berufenen Evangelisten geleitet wurden. — Viele Seelen wurden damals zu
Gott bekehrt.
Wir in Romsey erfuhren wenig oder nichts von dieser Gnadenheimsuchung.
Nur einmal merkte ich etwas davon. Ich war für wenige Tage auf Besuch
bei Freunden in einer anderen Grafschaft. Schon die Atmosphäre des
Hauses berührte mich wohltuend, strafend und tröstend zugleich. Sonntags
besuchte man am Vormittag die Dorfkirche, nachmittags folgte ich den
Freunden in eine weite, luftige Scheune, wo eine große Menschenmenge
zusammengekommen war, um das Evangelium zu hören. Ringsherum lag das
duftende Heu. Keinerlei äußere Zierde war angebracht worden. Aber der
Herr selbst war da. Das merkte man an der Kraft der Zeugnisse, an der
Inbrunst der Gebete, an dem Jubelton der Lieder. Es war die denkbar
armseligste Musik, die da gesungen wurde, und doch denke ich jetzt noch
mit innerer Bewegung an dieses Lied im höheren Chor. Ich hatte kurz
vorher Gelegenheit gehabt, Händels Messias von einem tausendstimmigen
Chor im Kristallpalast singen zu hören. Aber jenes Lied in der Scheune
zu Twyford machte mir einen größeren Eindruck. Es war die Stimme der
Wahrheit. So — doch unermeßlich schöner — werden die Lieder erklingen
vor des Lammes Thron.
So ging das Jahr in England schnell dahin. Die Trennung von dem
geliebten Bruder wurde versüßt durch die Hoffnung, daß die Braut, die
ihm der Herr zugeführt hatte, bald die Lücke mehr als ausfüllen würde.
Voll Dank und Freude durfte ich zu den teuern Eltern und in meine
Jerusalemer Heimat zurückkehren.
Beim Rückblick auf die Zeit, die ich beim Schreiben dieser Zeilen im
Geiste wieder durchlebt habe, sind es zwei Gedanken, die mich vor allem
bewegen. Es ist zuerst die Langmut und Freundlichkeit des Herrn, die mir
groß erscheint. Wieviel Mischung war doch vorhanden in dem Dienst, den
ich in Romsey tun durfte! Ich sehe das erst jetzt recht ein. Wieviel
Gefühlswesen und eigne Kraft und Selbstgefälligkeit war, mir unbewußt,
dabei vorhanden! Aber der gnädige Gott machte es mit mir — und macht es
mit allen seinen Kindern — wie eine Mutter, wenn sie die ersten Schritte
ihres Lieblings bewacht. Wie hält sie es so behutsam am Kleidchen! Wie
breitet sie so schützend die Arme aus, damit es ja nicht falle! Mit
welcher Freude beobachtet sie die schwachen Versuche, und wie ermutigt
sie das Kind, damit es immer sicherer und freier werde! Solche Gnade hat
der himmlische Vater mir erwiesen.
Aber anbetungswürdig ist mir auch Gottes Treue. Der reichen Segenszeit
folgte eine Zeit großer und tiefer Leiden. Das Gold mußte geläutert, die
Schlacken mußten entfernt werden. Die Mischung, die das Auge der Liebe
sah und mit Erbarmung trug, konnte von der Hand der Treue doch nicht
geduldet werden. Das zweischneidige Schwert dringt durch, bis daß es
scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein. Und solche Läuterung und
göttliche Erziehung währt fort das ganze Leben lang, bis ins hohe Alter
hinein.
Ist denn solch Christenleben nicht etwas Schweres, Trauriges, Mühsames?
O nein. Es ist trotz all der inneren Zucht, ja, gerade durch diese
innere Zucht das einzig wirklich glückliche Leben. Freude, tiefe Freude
wohnt im Herzen der Begnadigten. Aber das Christenleben ist ernst. Es
ist kein Sport. Wisset ihr nicht, so sagt uns Gottes Wort, daß die so in
den Schranken laufen, die laufen alle; aber Einer erlanget das Kleinod?
Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!
Das Geheimnis des wahren Glücks und des inneren Fortschrittes liegt in
einer aufrichtigen, gläubigen Übergabe an Gott. Was man ihm hingibt und
überläßt, das nimmt er an. Denn es ist sein. Und:
Was er liebt, das liebt er ewig.\
Was er hält, das hält er fest!
Ein schlichtes Werkzeug
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Er war schon ein älterer Mann, als ich ihn kennen lernte. Es war dies in
Jerusalem, wo der seltsame Amerikaner eines Tages als ein völliger
Fremdling erschienen war. Was ich von seiner interessanten
Lebensgeschichte weiß, habe ich teils von ihm selbst, teils aus einem
Büchlein erfahren, das ein Augenzeuge über seine Wirksamkeit im fernen
Westen geschrieben hat. Ich besitze jenes Schriftchen nicht, und meine
Angaben entbehren daher die genauen Daten, die für die Schilderung eines
Lebensganges nötig wären. Was ich erzählen kann, ist bruchstückartig. Es
sollen ja auch nur Spuren sein.
Alfred Roberts war ein Kind der Armut. In New York um das Jahr 1810
geboren, wuchs er unter der Arbeiterbevölkerung auf als ein Arbeiter.
Sein Leben war von Jugend auf ein Kampf ums Dasein. Das Andenken seiner
Mutter hielt er hoch in Ehren, aber Einzelheiten hat er nicht erzählt.
Einen eigentlichen Beruf erlernte er nicht; wahrscheinlich fehlten dazu
die Mittel. Aber nirgends so wie in Amerika kann sich ein Junge, der
Fleiß und festen Willen hat, zu einer gewissen selbständigen Existenz
hindurchringen. So ging es auch hier; doch die Lebensweise mag rauh
genug gewesen sein.
Äußerlich war Roberts der typische Yankee. Groß und hager, mit
gewaltiger Rase, klugen Augen und einem von unbeugsamer Energie
zeugenden Kinn, so steht sein Bild vor mir. Er hatte für den
oberflächlichen Beobachter etwas Grimmiges im Ausdruck. Aber wenn eine
innere Freude sein Herz bewegte, da erhellte ein so sonniges Lächeln
seine Züge, daß es aussah, wie wenn ein Sonnenstrahl eine rauhe
Felskante beleuchtet und geradezu verschönt.
Er hätte leicht ein Verbrecher werden können, das fühlte er selbst, wenn
der Arm des Herrn ihn nicht aus dem Schlamm des Verderbens herausgezogen
und ihn zu einem seligen Königskind gemacht hätte.
Die Umkehr war eine durchgreifende. Äußerlich wurde zuerst an seiner
Stellung und Lebensweise nichts geändert, nur daß er sofort alle seine
freie Zeit dazu verwendete, seinen Freunden und Bekannten nachzugehen,
sie auf die Gefahr ihrer Sündenwege aufmerksam zu machen und sie zu Jesu
zu weisen. Dann fing er an, so oft er konnte, einem Stadtmissionar als
Helfer und Handlanger beizustehen. Immer mächtiger ward in ihm der Drang
zur Arbeit für den Herrn. Wenn er früher gesucht hatte, Dollars zu
gewinnen, so ging nun dieser Trieb völlig unter in dem Verlangen, Seelen
zu gewinnen (Spr. 11, 30). Der Herr hatte ihn offenbar berufen in seinen
Dienst.
Es ging auch da nach dem Wort: Nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht
viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was töricht ist
vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er die Weisen zuschanden mache.
Das Schwache, Unedle und Verachtete hat Gott erwählet und das da nichts
ist, daß er zuschanden mache, was etwas ist. Auf daß, wer sich rühmet,
der rühme sich des Herrn (1. Kor. 1. 26—31).
Als Roberts von den furchtbaren Zuständen hörte, die in den Goldfeldern
Kaliforniens herrschten, entbrannte sein Herz vor Verlangen, dahin zu
gehen. Raub und Totschlag war an der Tagesordnung in den Lagern, wo die
rohesten und abenteuerlichsten Elemente aus aller Welt Enden
zusammengeströmt waren. Dazu waren verheerende Krankheiten ausgebrochen,
und die Menschen starben dahin ohne Hilfe und ohne Gott. Da mußte doch
jemand hingehen mit dem Evangelium des Heils. Sein Entschluß war gefaßt.
Aber die Reise war lang und umständlich. Den Kontinent zu durchqueren
war in jener Zeit undenkbar. Es gab nur den Wasserweg: zuerst in
südlicher Richtung auf dem Atlantischen Ozean bis zum Kap Horn an der
Spitze Südamerikas und dann wieder nordwärts auf dem Stillen Ozean bis
nach Kalifornien. Roberts bescheidene Ersparnisse reichten lange nicht
für diese kostspielige Reise. Da entschloß er sich, Dienst auf einem
Schiffe zu suchen, um so die Fahrt unentgeltlich machen zu können. Er
ging von Kapitän zu Kapitän, um sich heuern zu lassen, aber es schien
lange Zeit vergeblich. Endlich traf er einen Kapitän, der auf sein
Anerbieten ihm lachend antwortete: „Ich habe allerdings auf meinem
Schiffe eine Stelle frei; aber sie wird Ihnen wohl nicht passen. Ich
brauche nämlich einen Küchenjungen.“ Das schien nun allerdings keine
geeignete Stelle für den sechs Fuß hohen, kräftigen Mann. Aber Roberts
zauderte keinen Augenblick, und schon nach wenigen Tagen wurde die Reise
angetreten.
Sie dauerte manchen Monat. Der Dienst war nicht angenehm; doch das war
ja für ihn „Nebensache“. Er kam doch ans Ziel!
Aber die Arbeit dort war schwer. Die Rohheit, der äußerliche und
innerliche Schmutz, der neidvolle Haß, den die Goldgier in den Herzen
entzündete, das alles bildete eine geistige Atmosphäre, die nicht
auszuhalten gewesen wäre, wenn nicht die Liebe Jesu als ein mächtiges
Gegengift den einsamen Kämpfer gestärkt und auch da und dort ein
feindliches Herz überwunden hätte. Ich kann auf Einzelheiten nicht
eingehen, weil mir die Begebenheiten nicht mehr so klar erinnerlich
sind. Aber daß seine Arbeit nicht vergeblich war in dem Herrn, davon
hatte er reichliche Beweise. Besonders an den Kranken- und Sterbebetten,
wo er nicht nur als Seelsorger, sondern als Wärter diente, durfte er
Großes erleben.
Während er unter den gottentfremdeten Weißen arbeitete, kam er auch in
Berührung mit den Rothäuten, den heidnischen Indianern. An der
Meeresküste war es, daß er zuerst mit einem dieser wilden, scheuen
Menschen zusammentraf. Er suchte ihn immer wieder auf, und so gut es bei
der mangelhaften Sprache ging, sagte er ihm von dem großen Gott und von
dem herrlichen Heiland. Der Indianer blieb nicht lange, und als er
wieder in seine Wälder zurückkehrte, bat er inständig, der Fremdling
möchte mitkommen und auch seinen Stammesgenossen die guten Worte sagen.
Wie hätte Alfred Roberts einer solchen Bitte widerstehen können?
Sein Aufenthalt unter den Indianern dauerte mehrere Jahre. Das vorhin
erwähnte Büchlein erzählt viele Züge aus jener Zeit, auch Begebenheiten,
die es dartun, wie er mehrmals in großer Lebensgefahr schwebte unter den
wilden, kriegslustigen Menschen. Daß er keine Furcht zeigte und trotz
allem Widerwärtigen bei ihnen blieb und ihnen viel Liebes bewies, trug
ihm unter den Indianern den Namen ein: „Tapfer-Christ“. Unter dieser
Bezeichnung war er weit und breit bekannt.
Was ihn veranlaßte, nach Verfluß einiger Jahre Kalifornien, überhaupt
sein amerikanisches Vaterland zu verlassen, kann ich nicht sagen. Zu
Anfang der sechziger Jahre tauchte er plötzlich in Jerusalem auf, und da
erst lernten wir ihn persönlich kennen. Etwas sonderbar und unpraktisch
war sein Erscheinen im Heiligen Lande. Er hatte einen inneren Zug dahin
verspürt und wollte gern an dieser Stätte seinen Heiland verkündigen.
Aber er konnte kein anderes Wort als englisch und einige Brocken der
Indianersprache, und nun traf er da Leute aus allerlei Zungen und
Sprachen: Italiener und Griechen, Syrier und Araber, Kopten und
Abessinier, Russen und Armenier, dazu deutsche und spanische Juden. Mit
diesen allen konnte er nicht verkehren.
Aber er ließ sich nicht so bald entmutigen. Er kaufte sich Neue
Testamente und Bibelteile in all diesen Sprachen, suchte die Stellen
auf, die ihm am köstlichsten und bedeutungsvollsten waren, und
unterstrich sie mit schwarzer oder roter Tinte. Dann stellte er sich
unter dem Schatten eines großen grauen Sonnenschirms an irgendeiner
gangbaren Straße auf und wartete. Wenn dann ein Pilger sich nahte, da
griff er schnell zu einem seiner Büchlein — man kennt die Leute an ihren
Trachten, die so mannigfaltig sind wie ihre Sprachen —, und mit dem
freundlichsten Gesicht, das er machen konnte, streckte er das Buch ihm
entgegen, zeigte auf die unterstrichene Stelle und sagte etwa: „Lies
das!“ oder: „Für dich!“
Da erwartete ihn aber eine große Enttäuschung: die wenigsten Leute
konnten lesen!
Tapfer-Christ hat damals wohl schwerere Zeiten durchzukosten gehabt als
in dem Lager der Goldgräber oder in den Urwäldern der Indianer! Durch
seine unermüdliche Liebe hat aber „der alte Roberts“ auf manche doch
einen Eindruck gemacht. Auch ihn betrachteten die Araber als einen
Derwisch (s. Seite 141).
Da wurde er krank. Ein Rückenmarkleiden hatte angesetzt und nahm
unvermerkt, aber stetig zu, so daß er ganz ans Bett gefesselt wurde, und
zwar mehrere Jahre lang. Mein Vater gewährte ihm die Benützung eines
Zimmers in der Zionsschule, und die treuen Hauseltern pflegten ihn mit
Aufopferung. Nun war es meiner Schwester und mir eine köstliche Pflicht,
den Kranken regelmäßig zu besuchen, ihm vorzulesen und Liebe zu
erweisen. Er freute sich wie ein Kind von einemmal zum anderen. Wer aber
bei diesen Besuchen den größten Vorteil hatte, ist leicht zu erraten. Er
war stets der Gebende, wir die Empfangenden.
Doch einmal fand ich ihn tief gedrückt, fast übel gelaunt. Auf meine
Fragen sagte er kurz, er sei ganz dürr und ausgetrocknet. Das betrübte
mich sehr, und ich hätte ihm so gerne wohlgetan. „Dürr und
ausgetrocknet,“ das mahnte mich an den 42. Psalm: „Wie ein Hirsch
schreiet nach den Wasserbächen, so schreiet meine Seele, Gott, zu dir.“
Ich las Vers um Vers, immer betend, es möge ihm doch wohl tun. Die
zweimal wiederkehrenden Worte: „Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch
danken, der meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist!“ schienen ihn zu
ermutigen. Aber Erquickung war noch keine da. „Der Durst eines anderen
kann meinen Durst nicht löschen.“ — So etwa sprach er.
Da merkte ich etwas und lernte eine Lektion, die mir heute noch wichtig
ist. „Darf ich noch etwas lesen, Herr Roberts?“ fragte ich. — „Ja,
gern.“ Ich schlug auf im Evangelium und las die Geschichte von
Gethsemane und Golgatha. Meine eigne Seele trank, und als ich aufhörte,
da lag jenes Leuchten aus den verwitterten Zügen. „O, das war gut!“
sagte er. Ich lernte es verstehen:
Jesu Liebe ist die Quelle,\
Die den Durst der Seele löscht.\
Als ich Jerusalem verließ, lebte Roberts noch; aber die Krankheit soll
später eine ungünstige Wendung genommen haben, die sein Gemüt trübte und
die Pflege erschwerte. Er ging in stillem Frieden heim. Ich freue mich,
ihn wiederzufinden vor des Lammes Thron.
Ein liebes Andenken an ihn ist in meinen Händen, ein Lied, das er mir
einst leuchtenden Antlitzes aufsagte und hernach auf meine Bitte mit
großen Bleistiftbuchstaben niederschrieb. Fast wunderte ich mich, daß
mein so nüchterner alter Freund gerade dieses Lied so besonders liebte.
Aber es war so. Und als er mir das Blatt überreichte, bestätigte er es
freudig: „Ich bin ganz sein.“
Erhab’ne Schönheit leuchtend thront\
Auf meines Königs Angesicht;\
Die Gnad’ aus seinen Lippen wohnt\
Und strahlt aus seiner Augen Licht.
Aus Tausenden ist keiner gleich\
Dem Einen, den mein Herze liebt;\
Auf Erden und im Himmelreich\
Nur Er mir volle G’nüge gibt.
Er sah mich krank und todesmatt\
Und eilte mitleidsvoll herzu:\
Er trug den Tod an meiner Statt\
Und gab mir Leben, Fried’ und Ruh’.
Drum, o mein Heiland, du allein\
Bist Herr und Freund und Wonne mir;\
Und wären tausend Herzen mein,\
Ich gab’ sie alle, alle dir!
Lichte Spuren im Lande der Bibel
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Nicht Menschen allein, sondern auch Orte — Berge und Täler, Fluren und
Pfade — haben eine beredte Sprache. Das ist wohl in besonderer Weise der
Fall in dem Lande, wo so viele Stätten geweiht sind durch die Fußspuren
des menschgewordenen Sohnes Gottes oder durch die Taten seiner Knechte
Alten und Neuen Bundes.
Willst du mit mir, mein lieber Leser, das Heilige Land flüchtig
durchwandern, von Dan an bis gen Berseba, von Nord nach Süd? Es soll
keine Reisebeschreibung sein. Ich möchte dich nur hinführen an Orte, die
wie lichte Punkte in meinem Herzen funkeln.
Nördlicher noch als Dan finden wir die uralte Stadt Damaskus. Da wollen
wir beginnen. Prächtig liegt sie da in einer länglich-runden, üppig
grünen Oase, umgeben von öden Sandstrecken und umflossen vom kühlen
Barada, dem Parphar alter Zeit. Wie viele Erinnerungen sind mit dem
Namen Damaskus verknüpft! Zum Reiche Israel hat die Stadt nie gehört,
sondern sie war die Hauptstadt des Nachbarstaates Syrien. Aber lieb ist
sie dem Christenherzen wegen jener Straße, die da heißt die Richtige, wo
auf den Knien eine der größten Schlachten geschlagen, wo Saulus, der
Verfolger, eine Siegesbeute Jesu und ein Herold seines Evangeliums
wurde.
Die Araber haben ein Sprichwort: „Wer in das Paradies kommen will, der
gehe nicht nach Damaskus.“ Verstehst du, was das bedeutet? Wir Christen
würden es übersetzen: „Wer das himmlische Kleinod erlangen will, lasse
sich nicht verstricken durch der Erde Schönheit und Pracht.“
Das Äußere der Stadt ist übrigens gar nicht schön. Um die Bewunderung
der Araber zu verstehen, muß man in das Innere der Häuser dringen, wo in
weiten Marmorhöfen und auch in vielen mit reicher Mosaikarbeit gezierten
Zimmern frische Brunnen rauschen und herrliche Bäume und Sträucher
grünen.
Südlich von Damaskus ragen die Höhenzüge des Libanon und Antilibanon
empor. Zwischen ihnen liegt das vielbesungene Hochtal Cölesyrien, heute
die Beka’a, mit dem wasserreichen Strom Orontes. — Die Zedern des
Libanon habe ich leider nicht gesehen, wohl aber die Fülle der
Vegetation, die den so oft wiederkehrenden biblischen Vergleich mit der
Schönheit des Libanon erklärt: Deine Wurzeln werden sein wie Libanon.
Deine Äste werden sich ausbreiten und Geruch geben wie Libanon (Hos.
14).
Als meine Schwester und ich einst mit einer befreundeten Familie die
schönen Berge und Täler durchwanderten, durften wir eine Nacht in dem
Schloß des christlichen Gouverneurs Daoud Pascha herbergen. Nach dem
blutigen Aufstand der Drusen im Jahre 1860 hatten die europäischen
Mächte darauf gedrungen, daß ein Christ als Statthalter über den
Distrikt des Libanon gesetzt würde, und Daoud Pascha wurde dazu erkoren.
Wie ein Adlerhorst steht die kühne Burg auf felsiger Höhe. Es ist mir
wie ein Traum, daß ich einmal einen Blick habe tun dürfen in ein solches
Zauber-land und den eigenartigen Mitteilungen des hochgestellten Mannes
lauschen konnte. Seine Nichte, eine junge armenische Prinzessin, war bei
ihm auf Besuch. Ihr Gemach war der einzige Ort, wo wir ein Wort des
Zeugnisses von Jesu anbringen konnten. Ein gewisses inneres Verständnis
leuchtete uns aus den schönen traurigen Augen der jungen Armenierin
entgegen.
Die Krone des Antilibanon ist der herrliche Hermon. Auch dieser Name
spricht dem Bibelleser ans Herz: Wie der köstliche Balsam, der vom
Haupte Aarons herabfließt, wie der Tau, der vom Hermon herabfällt auf
die Berge Zions, so verheißt der Herr Segen und Leben immer und ewiglich
(Psalm 133, 2. 3). Djabel - e - Scheich. so heißt der 2860 Meter hohe
Berg in der Landessprache, Fürst der Berge. Er ist in der Tat ein König
mit schneebedecktem Haupt: nur im Hochsommer verliert er sein silbernes
Diadem. Die Reisenden, die aus Europa kommen und schon soviel Schönes
und Erhebendes gesehen haben, können sich kaum vorstellen, welchen
Eindruck der Hermon auf die Landeskinder macht. Auf einer späteren Reise
im südlichen Teil des Landes sahen wir einmal bei einer plötzlichen
Biegung des Weges in weiter Ferne ein silberweißes Gefild sich vom
blauen Himmel abheben. “Was ist das? Ist das eine Wolke?“ — “Rein.“
belehrte uns der Führer, “das ist der Djabel-e-Scheich.“ Wir kannten ihn
ja schon, den hohen Berg, hatten aber nicht geahnt, daß man ihn von hier
aus sehen könnte. Und an jenem Tag, in der heißen, schattenlosen Wüste
Judäas, blickten wir — ich schäme mich nicht, es zu sagen — mit Tränen
zu jener fernen reinen Höhe, die uns vorkam wie ein Stücklein
himmlischer Pracht. So wird dem Erdenpilger hier und da ein
Glaubensblick zuteil auf das hehre Ziel. Es ist nicht so fern, wie du
meinst! Halte nur fröhlich aus und singe:
Ich bin zufrieden,\
Daß ich die Stadt geseh’n,\
Und ohn’ Ermüden\
Will ich ihr näher gehn\
Und ihre Hellen, goldnen Gassen\
Nie aus dem Herzen mir schwinden lassen.
Gar gerne wären wir seinerzeit aus dem Landweg, dem jungen Jordan
entlang (der bekanntlich im Antilibanon entspringt), an den Trümmern
Dans und dem See Merom vorbei, nach Galiläa gereist: aber die Umstände
ließen es nicht zu. Und so muß ich meinen Leser bitten, mit mir in
Beirut, der am Fuße des Libanon prächtig gelegenen Hafenstadt, das
Schiff zu besteigen, um nach Haifa zu fahren. Könnte ich heute in
Wirklichkeit und nicht bloß in der Erinnerung die Reise machen, so
gingen wir zuerst noch nach Asfurijeh bei Beirut, der von Vater Theophil
Waldmeier gegründeten ersten Irrenanstalt Palästinas. Aber damals war
nichts derartiges im ganzen Lande zu finden. Nur Beter waren vorhanden,
die die grenzenlose Not der armen Geisteskranken auf dem Herzen trugen
und die dann freudig mithalfen, als der Gedanke zur Ausführung kam.
An Tyrus und Sidon und der schönen Bucht von Akkra vorbei fahren wir
nach Haifa. Statt direkt landeinwärts zu reiten, wollen wir hinauf
pilgern nach dem Karmel. In meiner Jugendzeit war auf jener ganzen Höhe
kein anderes Haus als das große Eliaskloster und ein dazu gehöriges
Hospiz. Dort habe ich einst mit der Familie eines befreundeten Arztes
vier köstliche Wochen verbracht. Wundervoll ist von hier aus der Blick
auf das Meer mit seiner unaufhörlich wechselnden Farbenpracht, jenes
Meer, zu dem des Propheten Knabe schauen sollte, während der Mann
Gottes, das Haupt zur Erde gebückt, in ernstlichem Gebet den verheißenen
Regen errang. Es gab ein Plätzchen dort oben im waldigen Gestrüpp, das
ich mir gern als das gesegnete Gebetskämmerlein dachte.
Auch der Blick auf die andere Seite, über den Fluß Kison hinüber, auf
die Städte Galiläas und die Ebene Jesreel, ist überwältigend schön. Man
bekommt einen lebendigen Anschauungsunterricht, wenn man an Ort und
Stelle die biblischen Berichte liest und merkt, wie fein alles stimmt.
O, diesen Genuß möchte ich jedem Bibelfreunde gönnen!
Vom Karmel ist mir eine der liebsten Erinnerungen verknüpft mit einem
Menschen. Der gottgeschaffene und auf Gott veranlagte Geist ist doch das
schönste Werk des Höchsten. — Unter der Schar der Mönche, denen wir
flüchtig begegneten, lernten wir nur einen näher kennen, weil er unseren
ärztlichen Freund seiner Gesundheit wegen um Rat fragte. Sein schmales
durchgeistigtes Gesicht hatte uns schon verraten, wie es um sein äußeres
Leben bestellt war, und der stille Friedensausdruck seines Antlitzes
sagte uns noch mehr von seinem inneren Leben. Er war ein italienischer
Edelmann, der sich aber hier den geringsten Diensten seines Ordens
unterzog. Der Arzt machte ihn darauf aufmerksam, daß er durchaus seines
Leibes mehr schonen und die vielen Gebetsübungen auf den Knien aufgeben
müßte. “Ah, signor medico,“ sagte er, „impossibile!
Das kann ich nicht. Ich habe früher mit meinem ganzen Leibe dem Satan
und der Welt gedient. Und jetzt will ich ebenso und noch viel mehr mit
Seele und Geist und allen meinen Gliedern dem dienen, der für mich
gestorben ist.“ — Es fehlte dem lieben Frater wohl an Erkenntnis: aber
die freudige Hingabe, die aus seinen Worten sprach, war uns doch eine
beredte Predigt. Wir dachten an das Wort: Gebet eure Glieder zum Dienst
der Gerechtigkeit (Röm. 6, 19). Auch die leidenden Knie waren des Herrn.
Doch es ist Zeit, weiterzugehen. Wir besteigen unsere munteren Pferde —
denn vor fünfzig Jahren gab es kein einziges Fuhrwerk in ganz Palästina
— und reiten durch die Gefilde Galiläas zuerst nach Nazareth. Dort im
freundlichen Missionshause wohnten meine Geschwister Zeller und suchten
in der Heimatstadt des Herrn ihm ein Gemeindlein zu sammeln. Genezareth,
Kapernaum, Tiberias, Nain, Tabor, Jesreel — ist nicht jeder dieser Namen
eine Predigt? Dort an dem Bergabhang über dem See saß einst der Mittler
des Neuen Bundes und entfaltete sein königliches Programm mit den
achtmal wiederholten Seligpreisungen. Hier heilte er die Kranken,
speiste die Hungernden, auferweckte die Toten, stillte die Wogen,
segnete die Kindlein. Er strafte Sünde und Heuchelei, aber er liebte die
Sünder und zog sie an sein Herz. Auf einem dieser Hügel sitzend, sprach
er die Worte, die heute noch mit derselben Kraft wie damals an manches
Herz dringen: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid,
ich will euch erquicken. — Dank sei dir, o Jesu, für dieses heilsame
Wort!
Wir pilgern weiter, immer südwärts. Nun sind wir in Samaria. Mächtige
abgebrochene Säulengänge zeugen von vergangener Königsherrlichkeit. Hier
ist Sichem, gebettet zwischen den Bergen Ebal und Garizim. Wir wandern
hinaus nach Sichar und setzen uns an den Jakobsbrunnen. Es ist öde um
uns her, so ganz anders, als wir uns dieses gesegnete Plätzchen gedacht
hatten. Was tut’s? Die Worte des Lebens, die einst hier gesprochen
wurden, haben ihre Kraft nicht verloren: Wer dieses Wasser trinkt, den
wird wieder dürsten. Wer aber des Wassers trinken wird, das ich ihm
gebe, den wird ewiglich nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm
geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das
ewige Leben quillet (Joh. 4,13.14). Tausende bezeugen es in Demut:
Ich kam zu Jesu und ich tranki\
Am Lebensstrom mich satt.
Und nun geht’s stetig bergan, den kahlen Hügeln Judäas zu. Dort ist
Bethel, Jakobs leuchtende Himmelspforte; und dort ist das kleine
Anathot, das Heimatsdörflein Jeremias. Und da, siehe, auf ihren drei
Hügeln thronend, ist die Königsstadt Jerusalem!
Wir lassen sie vorerst links liegen und ziehen immer weiter südwärts
über die grünende Ebene Rephaim nach Bethlehem, der Geburtsstätte
unseres Heilandes. Du Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den
Tausenden in Juda, wie groß bist du uns um dessen willen, der aus dir
gekommen ist, des Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist!
Am Hirtenfeld, an den Teichen Salomos, an den verschlossenen
Königsgärten von Artas vorbei führt uns der Weg nach Hebron. Da ist die
zwiefache Höhle, wo die Erzväter ihre Ruhestätte gefunden haben. Da ist
etwas abseits am Fuß der rebbekränzten Höhe des Djelede die alte Eiche,
die des Patriarchen Namen trägt: Abrahams Eiche. Hier wohnten sie als
Gäste und Pilgrimme, sie, die doch die Erben der Verheißung waren. Hier
schauten sie aus nach der Stadt, die einen festen Grund hat, deren
Baumeister und Schöpfer Gott ist. Und hier auch wurde ihr Glaube
herrlich gekrönt.
Es ist mir vergönnt gewesen, mit teuren Freunden einige Zeit in Zelten
dicht bei dem ehrwürdigen Baum zu wohnen. Wie flüsterte da der Abendwind
so geheimnisvoll durch die Zweige! Wie leuchteten die Sterne so klar vom
dunkeln Himmelsdom hernieder. So schimmerten sie einst über dem Vater
der Gläubigen, und er schaute hoch über sie empor bis hinein in das Herz
Gottes und — glaubte.
Wir auch sind Fremdlinge hienieden und Zeltbewohner. Wir auch warten auf
die himmlische Stadt. Auch uns gilt das Wort: Selig sind, die nicht
sehen und doch glauben!
Hebron ist der südlichste Punkt des Landes, den mein Fuß betreten hat.
Das in der Geschichte der Patriarchen oft genannte Berseba liegt noch
etliche Wegstunden weiter nach Süden, der großen Wüste zu.
Gern würde ich, mein lieber Leser, dich nun noch nach dem Osten und
Westen des Landes führen. Nach Osten an den Jordan, da, wo er aus dem
See Genezareth herausströmt und die Oleanderbüsche ihre feurigroten
Blüten in seine blauen Fluten tauchen: oder da, wo er durch das wilde
Ghor (so heißt das Jordantal) eilig hinunterfließt bis hin zur tiefen
Einsamkeit des Toten Meeres. — Nach Westen über die Ebene Saron nach der
Stadt Jaffa (Joppe) und zu der klippenreichen Küste des Mittelländischen
Meeres. Wieviel Köstliches hätte ich dir hier zu zeigen und zu sagen!
Aber wir wollen eilen, um die Gassen Jerusalems zu besehen.
Machen wir zuerst einen Gang rings um die Mauern der Stadt. Sie sind
teilweise aus den prächtigen alten Quadern des Tempels, teilweise aus
geringerem Stein unregelmäßig gebaut. Eine schöne Erzählung ist mir
erinnerlich.
Zwei fromme Israeliten wandelten einst um die heilige Stadt und
trauerten über ihren kläglichen Zerfall. Da huschte plötzlich ein
Schakal über ihren Pfad und verkroch sich in dem Gestein der Mauer. Bei
diesem Anblick brach einer der Männer in lautes Weinen aus, der andere
aber lachte. „Was weinst du, Bruderherz?“ fragte er. „Wie soll ich nicht
weinen,“ war die Antwort, „wenn ich die Drohungen Jehovahs so wörtlich
sich erfüllen sehe: Der Berg Zion liegt wüste, daß Füchse darüber laufen
(Klag. 5, 18). An mir ist es eher, dich zu fragen: Wie magst du lachen?“
„Ich lache,“ sagte der Freund, „aus dem gleichen Grund wie du. Nur sage
ich mir: Wenn die Drohungen des Allmächtigen sich so wörtlich erfüllen,
wie sollten nicht auch die Verheißungen sich herrlich verwirklichen:
Jerusalem soll noch gesetzt werden zum Lobe auf Erden!“
Treten wir nun durch das Jaffator ein in die Stadt. Ich wage hier nicht
zu beschreiben: denn es ist in den letzten Jahrzehnten vieles so anders
geworden, daß die Zeichnung gar zu wenig stimmen könnte. Ich folge nur
den alten bekannten Spuren am wuchtigen Davidsturm und dem trauten
Elternhaus vorbei durch die Davidsstraße mit ihrem holperigen Pflaster
zu der Via Dolorosa (Leidensstraße) und zu der Grabeskirche. Ein
weitläufiger unregelmäßiger Bau nimmt uns auf. Er ist der Schauplatz
vieler Verirrung, viel äußerlichen Gottesdienstes, oder sagen wir
lieber: Götzendienstes. Aber unter all dem abergläubischen, unwissenden
Wesen habe ich da und dort unter den Anbetern einen Funken wahren
Glaubens und treuer Liebe zu Jesus hervorleuchten gesehen. Das war mir
köstlich.
In den letzten Jahren hat die Ansicht überhandgenommen, daß nicht diese
Stätte das echte Golgatha sei. Man sucht es lieber auf jenem grünen
Hügel vor dem Damaskustor und bei den stillen Felsengräbern zu seinem
Fuß. Ich stimme diesem Gedanken gerne bei. Aber über all dem Für und
Wider in bezug auf das heilige Grab steht leuchtend die Engelbotschaft:
Er ist nicht hier: Er ist auferstanden.
An einer Stelle der Via Dolorosa sehen wir, wie die Pilger sich zu einem
Stein herzudrängen, der in die Mauer eingefügt ist und ein eigenartiges
Loch in seiner Mitte hat. Die Legende sagt, der Stein habe mitgeschrien,
als die Kinder Jerusalems ihr Hosianna riefen. Das Heilandswort ist
merkwürdig verdreht und mißverstanden worden. Ganz schwarz und glänzend
ist jener Stein von den Küssen der Tausenden von Pilgern, die Jahr um
Jahr nach Jerusalem kommen. Da empfindet man etwas von dem Ergrimmen im
Geiste, das Paulus in Athen erfuhr. Ich meine noch die Stimme eines
Knechtes Jesu Christi zu hören, der einst zur Osterzeit als Fremdling in
Jerusalem weilte und in der Abendgebetsstunde für die vielen
irregeleiteten Pilgrime flehte: „Ach, Herr, sie küssen die kalten
Steine, aber dich, den Sohn des Vaters, haben sie im Glauben nicht
geküßt; denn sie kennen dich nicht.“
Es war nicht weit von jener Stelle, daß mir eine unbedeutende
persönliche Begegnung zum lieben Gleichnis wurde. Weit und breit war an
jenem Abend in der Straße niemand zu sehen als ein Abessinier, der
ängstlich hin und her schaute und sich offenbar verirrt hatte. Ich
näherte mich ihm; denn die Liebe zu den Abessiniern hatten wir Kinder
mit der Muttermilch eingesogen. Da kam er, immer noch sorgenvoll
dreinblickend, auf mich zu und sagte in fragendem Tone nur die zwei
Worte: „Jesus Christos?“
Das sollte bedeuten: „Bist du eine Christin?“ — „Ja, ja,“ erwiderte ich
mit lebhaft zustimmender Gebärde, „Jesus Christos!“ Da schwand alle
Angst aus dem guten braunen Gesicht, und fröhlich folgte er mir, als ich
ihm den Weg zum Quartier seiner Landsleute wies.
Jesus Christus! Ja, das ist, in tieferem Sinn genommen, das wahre
Erkennungszeichen unter all den Erlösten. Jesus Christus, nicht als
Glaubenssatz, sondern als beseligende Realität.
Vielleicht darf ich hier noch ein persönliches Erlebnis einschalten. Es
war auch in den Gassen Jerusalems, nahe bei dem Zionstor, wo die
Aussätzigen damals ihre elenden Hütten hatten. Ich kam eines Sonntag
abends in jener Gegend vorbei. Eine herrliche Predigt hatte mich eben
erquickt. Mein Herz war voll Freude und tiefen Dankes. Wie ich so einsam
und froh, von der Christuskirche kommend, am armenischen Klostergarten
dahinschritt, ertönte von fern das heisere Rufen einiger Aussätzigen an
mein Ohr. In meiner freudigen Stimmung hätte ich ihnen gern ein großes
Geschenk gemacht, aber ich hatte nichts bei mir als mein kleines
arabisches Testament. Als ich nun an die Stelle kam und die armen
verstümmelten Hände sich nach mir ausstreckten mit der gewohnten Bitte
um eine Gabe, sagte ich: „Ach, ich würde euch so gern etwas geben, aber
ich habe kein Geld bei mir. Doch etwas viel Besseres habe ich: ich will
es euch lesen.“ — „Nein,“ sagte einer mürrisch, „geh nur weiter: wir
verstehen es ja doch nicht.“ — „Versucht’s doch einmal,“ bat ich. schlug
schnell Matth. 8, 2—4 auf und fing an, den kurzen schönen Bericht von
der Heilung des Aussätzigen zu lesen. Sie hörten alle aufmerksam zu, und
der vorhin so Unfreundliche fragte: „Hat er ihn wirklich angerührt? Lies
es noch einmal.“
Das war der Anfang einer kleinen, unscheinbaren Tätigkeit unter diesen
Ärmsten. Jetzt ist ja in ganz anderer und besserer Weise für sie
gesorgt. In dem Asyl Jesus-Hilf sind sie nach Leib und Seele gut
aufgehoben.\*)
Doch wir wollen zurückkehren zu unserer Wanderung in Jerusalem. Durch
viele lärmende Straßen führt uns der Weg nach dem Klageplatz der Juden.
Es ist dies ein Überrest der alten Umfassungsmauer des Tempels. Alle
Freitagabend finden sich hier viele Juden ein, um die geschwundene
Herrlichkeit zu beweinen. Sie tun es vielfach in den Worten der
Klagelieder Jeremias:
Um des Palastes willen, der wüste liegt:\
Sitzen wir einsam und weinen.\
Um der Mauern willen, die zerrissen sind:\
Sitzen wir einsam und weinen.\
Um der Majestät willen, die dahin ist:\
Sitzen wir einsam und weinen.
Ich ging einmal an einem Samstagmorgen auch dahin, wollte den Platz
sehen, wenn er menschenleer wäre. Aber ich war nicht allein. Gelehnt an
einen großen Stein, den er mit seinen Tränen benetzt hatte, stand ein
ehrwürdiger Israelit und betete mit Inbrunst. Ich verstand seine Worte
nicht. Aber ich dachte an die Psalmstelle: Du wollest dich aufmachen und
über Zion erbarmen; denn es ist Zeit, daß du ihr gnädig seist. Denn
deine Knechte wollten gerne, daß sie gebauet würde, und sähen gerne, daß
ihre Steine und Kalk zugerichtet würden (Psalm 102, 14. 15).
Wenige Schritte bringen uns an den weiten Tempel-platz, auf dem jetzt
die große mohammedanische Omarmoschee steht und den lange Jahre kein
Christ, noch viel weniger ein Jude betreten durfte. Da gedenken wir mit
Wehmut der einstigen Herrlichkeit Israels, gedenken noch früherer
Zeiten, als Abraham hier auf dem Berge Morijah sein größtes Opfer zu
bringen bereit war. Zwei Worte tönen uns ins Herz: das Wort des Herrn an
Abraham: Nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines eigenen
Sohnes nicht verschont um meinetwillen (1. Mose 22, 12). Und das
wunderbare Seitenstück des Neuen Bundes: Welcher auch seines eigenen
Sohnes nicht hat verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben;
wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? (Röm. 8, 32.)
Nun sind wir am östlichen Ende der Stadt angelangt und treten durch das
Stephanstor hinaus. Vor uns erhebt sich der Ölberg. Zwischen ihm und der
Stadt liegt das tiefe Tal Josaphats, übersät mit Grabsteinen bis zur
halben Höhe der beiden Berghänge. Es ist das Tal des Baches Kidron, der
aber nur im Winter fließt, wenn reiche Regengüsse die Quelle speisen. Es
ist das Tal, das der König David durchschritt, als er in seiner tiefsten
Erniedrigung vor seinem Sohne Absalom floh und über den Bach Kidron ging
(2. Sam. 15, 23). Es ist das Tal des Gartens, dahin ein höherer König,
unser Herr und Heiland selbst, in jener letzten der Nächte mit seinen
Jüngern ging, da er mit dem Tode rang und überwand.
Gerne gingen wir in der Gründonnerstagsnacht dahin. Der helle Mondschein
(es ist ja zu Ostern immer mondhell) leuchtete durch die zitternden
Zweige der alten Ölbäume, und in der tiefen, nächtlichen Stille drang
die heilige Erzählung mit immer neuer Kraft ins Herz.
Gethsemane! Wer im Glauben das Große und Wundersame geschaut hat, das
hier geschah, dem bricht das Herz in seliger Reue in der Erkenntnis
einer solchen Liebe. Über dem Portal des Gartens steht das Wort, das der
große Hirte hier gesprochen hat, seinen armen, schwachen Schäflein zum
Schutz: Suchet ihr mich, so lasset diese gehen! Er ließ sich binden, daß
wir auf ewig frei würden. Er trank den bittern Kelch der
Gottverlassenheit, daß wir den süßen Kelch des Heils trinken könnten. Er
ging in den Tod, damit wir Leben hätten.
Steil windet sich von dem Garten Gethsemane der Pfad hinauf zu der
Spitze des Ölbergs. Unten liegt der Kampfplatz, oben ist die
Siegesherrlichkeit. Wir sehen Jesum durchs Leiden des Todes gekrönet mit
Preis und Ehre (Hebr. 2, 9). Vierzig Tage nach seiner glorreichen
Auferstehung führte er seine Jünger hinaus bis gen Bethanien und hob die
Hände auf und segnete sie. Und es geschah, da er sie segnete, schied er
von ihnen und fuhr auf gen Himmel, und eine Wolke nahm ihn auf von ihren
Augen hinweg.
Ich kenne eine Stelle, nicht weit von des Ölbergs Gipfel, aber doch
schon zu Bethanien gehörend — da mag es gewesen sein! Das Dörflein liegt
etwas abseits, in grünenden Obstgärten versteckt. Ein schmaler Pfad
führt den Bergeskamm entlang und läßt uns frei Hinausschauen durch das
weite Land. Auf diesen Bergen und Tälern haben meines Heilands Augen
geruht. Auf diesen Wegen hat sein Fuß gewandelt. Aber nun war sein
Erdenlauf vollendet. Nun ging er wieder heim zum Vater. Und siehe da!
Zwei Engel in weißen Gewändern standen da neben der anbetenden
Jüngerschar und sprachen: Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen
gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.
Ja, dieser Jesus wird wiederkommen, das ist unsere selige Hoffnung. Wir
freuen uns mit heiligem Beben. Und seine Füße werden stehen auf dem
Ölberg, der vor Jerusalem liegt gegen Morgen. Und der Herr wird König
sein über alle Lande (Sach. 14, 9). Und man wird Jerusalem heißen: des
Herrn Thron (Jer. 3, 17).
Dann zieht Immanuel in seine Stadt:\
Dann hat die Witwe ihren König wieder:\
Dann wird erfüllt, was Gott verheißen hat,\
Und neu erklingen Davids heil’ge Lieder.\
Dann grünt und blüht das herrliche Gefilde\
Vom blauen Meere bis zum Libanon!\
Dann leuchtest du, Jerusalem, so milde\
Als deines Königs Thron!
Das Kirchlein auf dem Berge
===========================
Und nun kam die Stunde, da ich das vielgeliebte Land, die heilige Stadt,
das traute, schöne Elternhaus verlassen sollte. An einem sonnigen
Apriltag des Jahres 1867 war es. Eben hatte man Ostern gefeiert, und
Scharen von Pilgern machten sich auf den Weg, ihre Heimstätten wieder
aufzusuchen. Da ritten auch wir früh morgens zum Jaffator hinaus, dem
Westen zu. Der bunte Blumenflor unserer Hügel und Täler war schon
größtenteils dahin, und das kurze Gras nahm jene gelblich-braune Farbe
an, die man in Palästina nur zu gut kennt. Ein guter, ausgiebiger
Spätregen war gefallen, und die schwellenden Kornähren ließen auf Ende
Mai eine gute Ernte erhoffen.
Man weiß, welche Wichtigkeit für den Ackerbau Palästinas der Frühregen
im Oktober und November und der Spätregen im März und April hat. Und das
Volk des Neuen Bundes, das zu Pfingsten seinen Frühregen erlebte, schaut
sehnend aus nach einem gnädigen Spätregen, ehe der große Erntetag
erscheint.
Wie schön war an jenem Abschiedstag jeder Baum, jede Felsgruppe auf den
wohlbekannten Gebirgswegen, die uns in den schwülen Mittagsstunden von
der Königsstadt herunterführten, dem Flachland zu! Wie leuchtete die
Ebene Sarons am Nachmittag so duftig und so farbenreich, und wie ernst
hob sich im Licht der untergehenden Sonne der uralte Kreuzfahrerturm von
Ramleh, dem einstigen Arimathia, von dem lichtglühenden Westen ab! Ein
frischer Windhauch kündete die Nähe des Meeres, das dort hinter den
Orangengärten von Jaffa als ein lichtblauer Streifen schimmerte. Da
wurde am dämmernden Abendhimmel die goldene Mondsichel sichtbar. Ein
arabischer Begleiter ritt auf mich zu. »Siehst du dort oben den Sohn
zweier Nächte?“ fragte er in der bilderreichen Sprache der Orientalen. —
Alle diese Einzelheiten sind meinem Gedächtnis lebendig eingeprägt, war
es doch der letzte Abend im Lande meiner Jugend.
Und dennoch war nicht Schmerz, sondern Freude die Grundstimmung meines
Herzens. Denn das Verlassen des geliebten Elternhauses war der erste
Schritt zum Eingang in das neue Heim, das mich an der Seite eines
geliebten und von Gott gesegneten Mannes erwartete. Wohl war noch alles
in weiter Ferne. Wohl wußte ich beim Abschied nicht, daß es das
endgültige Lebewohl sei. Aber die Entscheidung war doch schon gefallen,
und in der Seele Harfe klang das Lied: Herr, du bist unendlich gut!
Zeitlebens ist mir jener Tag ein Hinweis gewesen auf das Geheimnis eines
wahren, frohen und gesegneten Wandels mit dem Herrn. Denn die bräutliche
Liebe ist Gottes eigene Allegorie, wenn ich den Ausdruck brauchen darf;
wie schon der schöne mystische Brautpsalm sagt: Höre, Tochter, schaue
darauf und neige deine Ohren. Vergiß deines Volkes und deines Vaters
Hauses, so wird der König Lust haben an deiner Schöne. Denn er ist dein
Herr und sollst ihn anbeten (Psalm 45, 11. 12).
Eine schöne Reise mit Eltern und Schwester dem ganzen Mittelmeer entlang
und durch die Meeresenge von Gibraltar, zuerst nach England, dann nach
Deutschland und der Schweiz, gipfelte in einem frohen Wiedersehen mit
dem damaligen Missionar C. H. Rappard, der aus Ägypten gekommen war, um
mich nach der in Beuggen stattgefundenen Hochzeit in sein Heim in
Alexandrien zu führen.
Diese persönlichen Mitteilungen waren nötig als Überleitung von meiner
schönen, reichen Jugendzeit zu den neuen Verhältnissen, in die Gottes
Hand mich geführt hat. Auf diesem Pfade leuchten mir in besonders hellem
Glanz die Spuren seiner großen Güte und Treue.
Mein Aufenthalt in Ägypten, wo mein teurer Mann schon zwei Monate
gearbeitet hatte, dauerte nur acht Monate, wovon vier in Kairo und vier
in Alexandrien zugebracht wurden. Aber ganz unerwähnt möchte ich diese
kurze Zeit in meinen Lebenserinnerungen doch nicht lassen.
Wir waren Pilgermissionare. Es war in unserer Arbeit alles einfach und
klein. Aber mir war unaussprechlich wohl dabei. Ich lernte etwas
verstehen von der Köstlichkeit der Armut Christi. Die Missionsarbeit,
die ich tun durfte, war mir von Jerusalem her vertraut: Unterricht von
Kindern und Besuche bei einheimischen Frauen, namentlich in den Harems.
Welch ein ödes Dasein führen doch diese Frauen! Wie bitter arm sind sie,
auch wenn sie, wie ich es einmal in einem prächtigen Harem sah, aus
vergoldeten, mit Edelsteinen reich besetzten Schalen ihren Kaffee
schlürfen oder im “süßen Nichtstun“ ihre langweiligen Tage verbringen.
Es ist so schwer, ihnen irgendwelchen idealen Begriff beizubringen.
Ich saß einst — es war dies noch in Jerusalem — neben einer
mohammedanischen Dame, die, auf weichem Divan ausgestreckt, ihre
Wasserpfeife rauchte. Ich fing an zu erzählen, was ich ihrem Töchterlein
in der Schule lehre, und suchte das Gespräch auf die Bedürfnisse der
Seele zu lenken. Sie hörte zuerst nachlässig zu, wurde aber dann
aufmerksamer und sah mich ernst und unverwandt an. Ganz glücklich, ihr
Interesse endlich geweckt zu haben, sprach ich lebhaft weiter, bis sie
mich unterbrach mit der Frage: „Sage mir doch, wie du die Schminke auf
deinem Gesicht anbringst, daß man es so gar nicht merkt?“ — Darum also
hatte sie mich so forschend angeschaut! —
Daß ich mein Leben lang mich nie geschminkt habe, werden mir meine Leser
gerne glauben. Und daß ein heißer Schmerz meine Seele erfüllte bei der
Enttäuschung, die mir die Frage der Frau verursachte, werden sie mir
nachfühlen.
Eine Erinnerung an die Zeit in Kairo möchte ich noch festhalten. Es ist
die Ankunft der lieben Missionsfamilien, die durch den wohlgeführten
Kriegszug unter Lord Napier auf Magdala aus der abessinischen
Gefangenschaft befreit wurden und nun auf dem Heimweg begriffen waren.
Welche Freude und Wonne war es, sie im Frühjahr 1868 in unserem Heim in
Kairo zu begrüßen und ihnen Liebe erweisen zu dürfen! Einem Missionspaar
war auf dem mühsamen Wege ein Kindlein geboren worden. Der ritterliche
Heerführer hatte aus Rücksicht für Mutter und Kind die ganze Kompagnie
einen Tag lang Halt machen lassen.
Die lieben Freunde sahen alle recht elend aus, und doch gab es eitel
Dank und Lobgesang, weil der Herr ihr Gefängnis gewendet und sie
unversehrt aus der Höhle des Löwen errettet hatte. Drei dieser
Veteranen, Brüder aus den ersten Chrischonajahren, leben heute noch und
haben das achtzigste Jahr überschritten: die Missionare Flad in Korntal,
Brandeis in Männedorf und Waldmeier in Asfurijeh. Gott grüße euch, ihr
lieben alten Brüder! Bald singen wir wieder mit den Geliebten, die uns
vorangegangen sind, das Lied im höheren Chor: Wenn der Herr die
Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden
!\*)
Es war der Ruf des Herrn nach St. Chrischona, der uns so bald aus der
Arbeit in Ägypten wegführte. Mein Mann sollte als Leiter und Inspektor
dem Werke dienen, mit dem er schon seit mehreren Jahren verbunden war.
Mit Furcht und Freude traten wir den ernsten Gang an. Sechsundvierzig
Jahre sind seitdem verflossen, und das Kirchlein auf dem Berge ist somit
während des weitaus größten Teiles meines Lebens meine Heimat gewesen.
Lieblich liegt es da auf waldiger Bergeshöhe, etwa sechs Kilometer von
Basel entfernt, von allen Seiten weithin sichtbar. In alten Zeiten eine
Wallfahrtskapelle, wurde es während des Dreißigjährigen Krieges
teilweise zerstört und innerlich verwüstet und stand dann mehr als
zweihundert Jahre einsam und verödet da. Im Jahre 1840 wurde es durch
Gottes Fügung aus dem Staube gezogen und wieder zu einem würdigen
Gotteshaus, ja, zum Mittelpunkt eines Missionswerkes gemacht. Die unter
seinem Schatten wohnen, fühlen sich hier gar Wohl und heimisch.
Wunderschön ist die Aussicht, die sich dem Hause darbietet über Wald und
Flur, Berg und Tal, bis hinauf zu den hohen Alpenfirnen. Aber schöner
noch ist das Walten des Wortes und Geistes Gottes, das man hier in der
Gemeinschaft seiner Kinder verspürt.
Der Name „Pilgermission“, den das Werk trägt, ist von dessen Gründer,
Herrn Chr. Fr. Spittler, geprägt worden. Er hat uns schon manchmal etwas
unbequem scheinen wollen, weil er nicht ganz klar ausdrückt, was er
bedeutet. Aber wir haben den Namen eben bekommen, wie ein Kindlein den
seinen erhält; und weil wir ihn nun einmal haben, wollen wir ihn gern
haben. Spittler hat ihn so geliebt, daß er einer ganzen Anzahl seiner
Stiftungen dieses Prädikat beilegte: Pilgerhütte, Pilgerfeld,
Pilgerhaus. Ihm lag es offenbar daran, daß unter den
Reichsgottesarbeitern die Gesinnung vorherrsche, die in dem schönen
Psalmwort ausgedrückt ist: Ich bin beides, dein Pilgrim und dein Bürger,
die Gesinnung, die los ist vom Irdischen und nach ewigem, himmlischem
Gewinn strebt. In einem alten Pilgermissionslied heißt es:
Herr, sie sind dein; du hast sie dir erkoren,\
Daß sie als Pilger eilten himmelwärts\
Und unterwegs noch suchten, was verloren,\
Und mit sich brächten zu des Vaters Herz.\
Damit ist das Ideal des Pilgermissionars gekennzeichnet. Ich freue mich
sehr, daß ich den edeln Greis,
C. F. Spittler, noch gekannt und mit meinem teuren Mann vereint seinen
patriarchalischen Segen kurz vor seinem Ende empfangen habe.
Noch andere dieser „Pilgerväter“ darf ich nennen als solche, die lichte
Spuren auch auf meinem Pfad gelassen haben: Schneller, Schlienz, Mez und
insonderheit Jak. Ludw. Jaeger, den treuen, väterlichen Freund.
Ausführlich von ihnen zu erzählen, würde mich zu weit führen. Gott
erwecke uns und allen Werken seines Reiches stets solche Stützen,
Ratgeber und Beter!
Aus meiner allerersten Chrischonazeit möchte ich eine kleine Erfahrung
mitteilen, die meinen jungen Freunden vielleicht ein Lichtlein anstecken
kann. Ich war eine Zeitlang in der Lage, keine bestimmte Aufgabe und
Wirksamkeit zu haben. Eine eigene Häuslichkeit hatte ich nicht, und die
Posten in der Anstalt waren alle versehen. Aus einer reichen
Missionstätigkeit kommend, war es nicht ganz leicht, etwas nutzlos auf
der Seite zu stehen. Klagen wollte ich nicht; aber etwas von dieser
Stimmung muß doch in einem Brief an meine alte Tante Sophie in
Préfargier durchgesickert sein, denn sehr bald erhielt ich Antwort:
„Mein Kind,“ schrieb sie, „wenn Du den Eindruck hast, Du habest keine
volle und befriedigende Aufgabe, so rate ich Dir, das wenige, was Du zu
tun hast, so gut und vollkommen zu machen, als nur immer möglich, und
wäre es auch nur einen Knopf an Deines Mannes Hemd zu nähen. Merke
darauf, wo Du helfen und dienen könntest. Tue auch das Kleinste mit
Eifer als für den Herrn, und Du sollst sehen, wie reich das Tagewerk
wird, das er Dir anvertraut.“
Ich brauchte in der Tat nicht lange zu warten. Es kamen Aufgaben in
Hülle und Fülle, und ich hatte zuerst nur zu lernen an der großen
Wissenschaft, daß wir nichts sind und nichts können ohne den Herrn, daß
wir aber alles tun und wagen können mit ihm.
Und dann erwuchs mir die ursprünglichste und süßeste aller Aufgaben: die
Pflege und Erziehung meiner Kinderschar. Zehn Kindlein schenkte uns
Gottes Güte, ihrer zwei kamen im Zwischenraum von zwei Jahren nur, um
wieder von uns zu gehen. Ich hatte beim zweiten Fall die sehr bestimmte
Empfindung, daß mein himmlischer Erzieher die Lektion, die ich beim
erstenmal so mühsam gelernt hatte, durch die Repetition befestigen und
verklären wollte.
Ich hatte mir mein Pilgerzelt\
Zu fest hienieden aufgestellt,\
Zu lieblich eingericht’t;\
Da kam mein Herr in Liebestreu’\
Und riß heraus der Pfähle zwei,\
Verschonte meiner nicht.
O Herr, der du mir brichst das Herz,\
So zieh es, zieh es himmelwärts\
Mit meinen Kindlein fort!\
Und laß die holden Brüderlein\
In deiner Hand nun Pfähle sein,\
Mich festzuhalten dort.
Acht Kinder durften wir aufwachsen sehen zu unserer Freude. Aber all das
Liebe, Schöne, Ernste und Herzbewegende, das damit verbunden ist, steht
verzeichnet in dem verschlossenen Büchlein, dessen Schlüssel in die
Stille des Heiligtums gehört.
Daß unser ältester, heißgeliebter Sohn August im Alter von einundzwanzig
Jahren vom Herrn abberufen wurde, ist den Lesern des „Lebensbildes“
bekannt. Aber auch in diesem Tal der Todesschatten ist eine Spur des
Lichtes zurückgeblieben. Denn nur im tiefsten Dunkel lernt sich die
große Lektion, die sogar der Sohn Gottes im Leiden lernen mußte (Heb. 5,
8), das Wort des vollendeten Gehorsams: Abba, nicht was ich will,
sondern was du willst!
Neben der eigenen kleinen Herde galt unsere Sorge der stets wachsenden
Schar der Zöglinge, und es gehört mit zu meinen liebsten Erinnerungen,
die Entwicklung der Brüder in der Anstalt selbst und ihre nachherige
Wirksamkeit auf dem Felde der Evangelisation zu verfolgen. Ich denke an
Männer wie Marcus Hauser. Jakob Fink, Georg Steinberger, Ulrich Roher,
Christian Schmid, Gottlieb Iseli, um nur einige von denen zu nennen, die
schon das Kreuz vertauscht haben mit der Krone. Wie groß ist es und
heilig, ein Werkzeug sein zu dürfen in Gottes Hand!
Dem Werk, das der Herr meinem lieben Gatten anvertraut hatte, gehörte
sein Herz und seine ganze Kraft. Ihm darin nach dem Maß meiner Gaben zu
helfen, war selbstverständlich meine erste und köstlichste
Lebensaufgabe.
Es ist mir immer groß vor der Seele gestanden, daß das Weib geschaffen
wurde, um Gehilfin zu sein, und daß es des Geschöpfes höchste Ehre sein
muß, das zu sein, wozu der Schöpfer es bestimmt hat. Ich meine, das
bewahre auch den Frauen ihren schönsten Schmuck: die Weiblichkeit.
Noch in den Tagen sehr geringer Dinge wurde mir die Verwaltung der
Hauskasse übertragen, womit die Verdankung der Gaben verbunden war. Ein
Strom von Segen ist im Laufe der Jahre da hinein- und wieder
herausgeflossen, und die Beziehungen zu den lieben Gebern wurden
vielfach zu Banden der Freundschaft und Gemeinschaft in dem Herrn.
Einige Beispiele möchte ich anführen: sie gehören zu den lichtesten
Erinnerungen meines Lebens.
Da steht vor meinem Geistesauge eine schöne, hohe Gestalt, die Gemahlin
eines regierenden deutschen Fürsten. Durch ihre fromme Kammerfrau war
sie auf unsere Arbeit aufmerksam gemacht worden und sandte eine Gabe für
das Werk. Daraus erwuchs ein ganzer Briefwechsel, der immer mehr in das
Zentrum und in die Tiefe führte. Nach dem Tode des Fürsten habe ich auch
mit der edeln Frau einige persönliche Unterredungen gehabt, die mir
einen ganz neuen Blick eröffneten in das ungestillte Verlangen vieler
Herzen in den höchsten Kreisen. „Verlassen Sie mich nicht,“ bat sie
einst. „Sie ahnen nicht, wie einsam wir (die fürstlichen Frauen) oft
sind und wie nötig wir Zuspruch und Ermahnung hätten. Bitte, seien Sie
ganz aufrichtig zu mir und sagen Sie mir, wo ich fehle.“
Der Herr aber selbst lehrte sie wunderbar. Er führte sie in eine Stadt,
wo das ganze Evangelium in lebendiger Weise verkündigt wurde. Das nahm
sie begierig und gläubig auf und brachte viele Frucht. Kurz vor ihrem
Heimgang schrieb sie mir:
„An meiner Handschrift werden Sie erkennen, wie krank ich bin. Den
ganzen Tag muß ich im Lehnstuhl sitzen: der Atem hält es im Bett nicht
aus. Aber dicht bei Jesu zu sein, das ist das einzigste, was Halt gibt
bei solchem namenlosen Schmerz. Ich bin so sündig und bin es ja gar
nicht wert, dicht bei ihm zu sein.“
Aber das Ende war Sieg und völliger Friede. Mit kräftigen Worten der
Heiligen Schrift hat sie sich selbst, während sie durch das Todestal
schritt, Mut und Freude zugesprochen. Ohne Zweifel war der große Hirte
dicht bei ihr; sein Stecken und Stab tröstete sie.
Ein Geber ganz anderer Art war ein Handwerksmann, der, wie es uns
scheinen wollte, fast über sein Vermögen opferte. Auf eine
diesbezügliche zarte Anfrage antwortete der Freund, er habe einst den
Entschluß gefaßt, alle Trinkgelder, die er in seinem Berufe erhalte, dem
Reiche Gottes zu weihen. Das habe er nun schon lange getan, und es sei
ein großer Segen darauf gelegen. Einmal allerdings habe es einen kleinen
Kampf gegeben. Da habe er zu seinem Erstaunen ein Goldstück als
Trinkgeld erhalten, und einen Augenblick sei es ihm vorgekommen, da
könnte er doch eine Ausnahme machen. Aber Gott habe ihm Gnade gegeben,
den Feind zu erkennen und zu sprechen: „Weiche von mir! Das Geld gehört
ja von vornherein dem Herrn, und er soll es auch haben.“
Aus einem Bauernhofe kam eine Gabe als „Erlös von den am Sonntag
gelegten Eiern“. Aus der Studierstube eines Konsistorialrats „ein
Dankopfer eines Elenden, dessen Schreien der Herr erhört hat“.
Mancherlei Handreichungen in der Liebe und Begegnungen mit Kindern
Gottes aus allerlei Volk und Sprache bereicherten das innere und äußere
Leben auf dem abgelegenen Hügel. In unserer Wohnstube war die alte
Inschrift zu lesen:
,Multae terricolis linguae; coelestibus una.“
(Vielerlei Sprachen haben die Erdenbewohner: die Himmlischen nur eine.)
Diese Sprache ist die der heiligen allgemeinen christlichen Kirche, die
da ist die Gemeinschaft der Heiligen.
Manch schönen Zug könnte ich erzählen aus all der reichen Erfahrung, die
der Dienst des Herrn in solch einer Anstalt seines Reiches mit sich
bringt. Ein rechtes Loblied möchte ich singen auf diesen Dienst oder
vielmehr auf den Meister, der so gnädig ist, arme und geringe Menschen
als seine Handlanger und Werkzeuge zu gebrauchen. Es ist vor allem so
köstlich zu wissen, daß das ganze Leben eines erlösten Menschen ein
Dienst Jesu Christi sein darf und sein soll. (Luk. 1, 75.) Denn Jesum
haben, heißt Jesu dienen. Man kann ihn gar nicht in Wahrheit besitzen,
ohne ihm untertan zu sein und zu gehorchen. Und diese innere Zucht und
Führung ist es gerade, was das Leben glücklich und fruchtbar und
wahrhaft interessant macht. Je früher und völliger ein Herz dem bösen
Tyrannen, der sich im Ich verbirgt, den Dienst kündigt und sich dem
rechtmäßigen Eigentümer und Herrn hingibt, desto besser ist es.
Da wird auch Last und Mühe\
Zum köstlichsten Gewinnst,\
Und auch die schlichte Arbeit\
Zum sel’gen Gottesdienst.
Aber der Herr tut noch mehr. Er gibt den Seinen den Befehl, von seiner
Gnade zu zeugen, sein Evangelium zu verbreiten, seine Verlorenen zu
suchen, seine Schäflein zu weiden und seine Liebe auszustrahlen in die
liebeleere Welt. Die Aufgaben sind verschieden, aber das Ziel ist
dasselbe. Wer gerettet ist, soll retten helfen, und wo erst die Liebe zu
den Seelen erwacht, da fehlt es an Mitteln und Wegen nicht. Von Herzen
singt man:
Mein Tagwerk sei für Jesus,\
Den großen König mein.\
Er hat sein Leben für mich gegeben,\
Mein Leben sei allein
Ganz ihm geweiht,\
Der mich vom Tod befreit.\
Mein Tagwerk sei für Jesus,\
Für Jesus, nicht für mich!
Freilich ist nicht alles Dienst des Herrn, was so heißt, und manches
ganz verborgene Gotteskind wirkt in Wahrheit mehr als hochgepriesene
Knechte und Mägde des Herrn. Denn er siehet das Herz an, und er schätzt
die Taten nach der Liebe (1. Kor. 13).
Am Ende einer langen Pilgrimschaft möchte ich es gern bezeugen, daß es
nichts Schöneres und Erfreuenderes, nichts Demütigenderes und zugleich
Erhebenderes geben kann, als in irgendeiner Weise mitzuhelfen am Bau des
herrlichen Reiches Gottes.
Darum soll es gelten: Ich habe meinen Herrn lieb und will nicht von Ihm
gehen.
Zum Schluß dieses Kapitels mögen nachstehende Verse das Bild des
Kirchleins auf dem Berge ergänzen.
St. Chrischona.
Du bist nicht mehr alleine auf deiner stillen Wacht:\
Ein Städtlein auf dem Berge hat Gott aus dir gemacht.
Es zogen viele Söhne zu deinen Toren aus;\
Die Einsame ist worden zum trauten Mutterhaus.
Ja, Kirchlein, deine Zinnen, hell leuchtend in der Fern’,\
Sie sind ein stetes Denkmal der Treue deines Herrn!
Denn was du bist und schaffest, es kommt von ihm allein,\
Und was er dir gegeben, ist alles, alles sein.
Sein sind die schlichten Häuser, die Pilgerhütten traut,\
Der First, der zu den Bergen mit heiterm Blicke schaut.
Sein find die weiten Hallen, wo viele frohe Gäst’\
Um seinen Stuhl sich scharen an manchem heil’gen Fest.
Sein sind die grünen Felder, wo saftig schwillt der Halm,\
Und sein die schöne Herde, still weidend auf der Alm.
Sein ist mit Leib und Leben die frische Jungmannschaft,\
Die ihrem König weihet mit Lust die erste Kraft.
Und die am Werke walten, sie wollen jederzeit\
Leibeigne Knechte heißen des Herrn der Herrlichkeit.\
O Kirchlein auf dem Berge, bewahre was du hast:\
Laß nicht die Kron’ dir rauben, die gläubig du erfaßt!
Laß niemand dich vertreiben aus deinem starken Hort;\
Fest bleib und unbeweglich am unverfälschten Wort;
Am Wort, das uns der Vater geoffenbaret hat\
Und uns den Weg gezeichnet zur ew’gen Gottesstadt!
Halt treu an dem Bekenntnis, dem herrlichen Juwel,\
Von Christ, dem ew’gen Sohne, dem Herrn, Immanuel;
Von Christ, dem Gotteslamme, das starb und auferstand\
Und uns den werten Tröster, den heil’gen Geist gesandt;
Von Christ, dem hehren König, der herrlich einst erscheint\
Und seine Brautgemeinde auf ewig sich vereint!
Halt fest an schlichter Sitte, an treuer Arbeit Fleiß,\
Am Sinn, der sich hienieden als Gast und Pilgrim weiß!
Und folge in der Demut dem großen Führer nach.\
Und trage still und freudig sein Kreuz und seine Schmach!
Wenn in der Abendstille, am Kirchlein angelehnt,\
Ich sinnend blick hernieder, wo weit das Land sich dehnt;
Wenn rosig aus der Ferne der Alpen Gipfel blinkt\
Und feierlich im Westen die große Sonne sinkt;
Wenn in des Rheines Welle ein letzter Strahl sich taucht,\
Daß gold’ne Gassen schimmern, von blauem Duft umhaucht;
Wenn festlich durch die Lüfte Posaunenton erschallt\
Und leiser, immer leiser im fernen Tal verhallt;
Wenn durch die ganze Schöpfung der Odem Gottes weht, —\
Dann wird des Herzens Sehnen nur stille im Gebet:
O Jesu, starker Heiland, dein Gnadenbund ist treu.\
So nimm, o nimm das Kirchlein in deine Hut aufs neu’!
Laß helle glüh’n das Feuer, das du hast angefacht,\
Bis leuchtend an den Bergen der ew’ge Tag erwacht!
Wenn Gottes Winde wehen
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Wer das Wehen des göttlichen Odems verspürt hat, der vergißt es nie
wieder. In der Stille des Herzens hat jeder es vernommen, der in
wahrhaftigem Glauben zu Gott nahte. Oft allerdings in nacktem Glauben an
sein untrügliches Wort; oft aber auch durch fühlbare Mitteilung von
Leben, Seligkeit und Kraft. Herrlich ist es, wenn dieser Gotteswind eine
ganze Gegend oder Gemeinde durchweht. Das hat der liebe Sänger, Pastor
Gustav Knak, in seiner gesegneten Amtstätigkeit wiederholt erfahren;
darum konnte er uns das schöne Lied hinterlassen, dessen erste Zeile als
Überschrift dieses Kapitels steht:
Wenn Gottes Winde wehen\
Vom Thron der Herrlichkeit,\
Und durch die Lande gehen,\
Dann ist es sel’ge Zeit;\
Wenn Scharen armer Sünder\
Entflieh’n der ew’gen Glut,\
Dann jauchzen Gottes Kinder\
Hoch auf vor gutem Mut.
Solche Segenszeiten habe ich zu verschiedenen Malen erleben dürfen, und
ich erzähle gern davon, einesteils, weil sie mit besonders hellem Glanz
in meinem Herzen funkeln; anderenteils, weil ich dadurch meine lieben
Leser ermuntern möchte, um ähnliche Gnadenheimsuchungen zu flehen.
Das Schönste und Tiefstgehende, was ich persönlich in dieser Beziehung
erfahren habe, geschah in den Jahren 1874 bis 1878. Man nannte die
segensreiche Strömung, die damals unsere Länder befruchtete, die
Oxfordbewegung, weil sie ihren Anfang genommen hatte in einer Konferenz,
die vom 29. August bis 7. September 1874 in der englischen
Universitätsstadt Oxford gehalten wurde und an der auch verschiedene
christliche Männer aus Deutschland und der Schweiz teilgenommen hatten.
Das Werkzeug, dessen Gott sich dort in besonderer Weise bediente, war
der Amerikaner Robert Pearsall Smith, und die Botschaft, die mit neuer
und zündender Kraft in vieler Herzen drang, war der Ruf zur Heiligung,
und zwar durch den Glauben. So war es denn in erster Linie eine
Erweckung für die Gläubigen, für die „ungläubigen Gläubigen“, wie einer,
dem selbst große Gnade widerfuhr, mit demütigem Dank bekannte.
Aber Gottes Winde drangen auch in manches tote Herz und wirkten Leben.
Das Evangelium, das mit Beweisung des Geistes und der Kraft gepredigt
wurde, der tiefe Ernst und die freudige Glaubensgewißheit, die die
Kinder Gottes beseelten, machten Eindruck auf die Welt und zogen auch
solche an, die bis dahin kalt und gleichgültig dem großen Heil
gegenübergestanden hatten.
Ich habe viele Christen kennengelernt, die in jenen Tagen entweder die
neue Geburt aus Gott oder eine wesentliche Belebung und Befestigung
ihres Glaubens erfahren haben. So sagte mir vor einigen Jahren ein alter
Bergmann aus Westfalen mit bedeutungsvollem Blick: „Ich bin auch einer
aus den siebziger Jahren.“ Ein im Dienst des Herrn ergrauter
Großkaufmann erzählte von seinem inneren Lebensgang, wie er schon im
Elternhaus und bei der Konfirmation den Entschluß gefaßt habe, des Herrn
zu sein, wie er aber erst in jenen Oxfordtagen zu dem entscheidenden
Schritt geführt worden sei, alles hinzugeben, aber auch alles zu
empfangen.
Für viele solcher guten und bleibenden Früchte sei Gott hoch gepriesen.
Nicht wünschen, sondern wollen; nicht zagen, sondern glauben; nicht über
die Sünde klagen, sondern mit der Sünde brechen; nicht warten, sondern
zugreifen; nicht um Gottes Liebe bitten, sondern diese längst schon
dargebotene Liebe annehmen, — dazu wurde zuversichtlich und kräftig
ermuntert. Aus einer solchen Erfahrung stammt das Lied:
Es preiset meine Seel’ den Herrn,\
Der frei und fröhlich mich gemacht;\
Er sah mich in der öden Fern’\
Und hat mich selig heimgebracht.
Denn nicht mehr wie so manches Jahr\
Steh mutlos ich und zweifelnd hier,\
Als müßte ich ihn ziehen gar,\
Als neigte er sich nicht zu mir.
Nicht länger will vor seinem Tor\
Ich zagend auf mich selber schau’n,\
Als müßt’ ich schmücken mich zuvor,\
Als dürft’ ich ihm nicht ganz vertrau’n.
O laßt ein Herz, das viel geweint,\
Weil es für Gottes Liebe blind,\
Nun, da dem Freund es still vereint,\
Laßt es sich freuen wie ein Kind.
Von Kopf zu Fuß bedeckt mich ja\
Sein wundervolles, weißes Kleid,\
Da hüll’ ich mich hinein, und da\
Vergeß ich all mein bitt’res Leid.
Und ob ich elend bin und klein,\
Und ob auch blendend ist sein Glanz:\
Das trennt uns nicht; denn ich bin sein,\
Und er gehört mir Sünder ganz.
Ich will hier nicht früher Erzähltes wiederholen, noch den äußeren Gang
der Bewegung beschreiben. Es ist ja viel dafür und dawider gesagt
worden, und gewiß hatten die mit so großer Freudigkeit verkündeten
Lehren eine Klärung und Ergänzung nötig. Ich freue mich sehr, auf eine
jüngst erschienene Schrift aufmerksam zu machen, die den Titel trägt:
Geheiligt durch den Glauben; eine viel angefochtene, doch
unerschütterliche biblische Wahrheit.\*) Es tut dem Herzen ordentlich
wohl, die Botschaft, die uns damals so köstlich geworden ist, in solch
klarer, nüchterner und biblischer Weise nach beinahe vierzig Jahren
bestätigt zu finden.
Dem leitenden Gedanken meines Büchleins folgend, will ich nur einige
Erinnerungen sammeln aus jener großen, segensreichen Zeit. Es werden
sich da ungesucht die Hauptmerkmale der Erweckung finden.
Mit großem Ernste wurde zuerst dem Volke Gottes ans Herz gelegt, wie
weit es zurückgeblieben sei hinter dem Ideal, das der Herr Jesus selbst
und seine Apostel uns vorhalten. Wieviel Halbheit, wieviel Weltsinn,
wieviel Sünde wird noch geduldet in den Herzen, die doch eine gewisse
Erfahrung der Gnade gemacht haben und sich zu Jesu Herde zählen! Wie
wenig Raum wird dem Heiligen Geist gegeben im täglichen Leben der
Gläubigen! Wieviel Selbstsucht, Bequemlichkeit und Empfindlichkeit
herrscht da, wo Jesus allein wohnen sollte! Mit überwältigender Macht
drangen solche Worte in die Herzen, obwohl sie nicht in treiberischer
und aufregender Art, sondern „durch die Barmherzigkeit Christi“
gesprochen wurden. „Es ist ein Bann in dir, o Israel, darum kannst du
nicht stehen vor deinen Feinden“ (Josua 7, 13). „Reiniget euch, die ihr
des Herrn Geräte traget“ (Jes. 52). Welche Kraft haben solche längst
bekannten Aussprüche, wenn das Feuer des Heiligen Geistes sie entzündet!
Nie habe ich so tiefe, erschütternde Beugung gesehen über Sünde und
Untreue als in einer Novemberwoche des Jahres 1874 in unserer Anstalt.
Ich kann mich an einige Versammlungen erinnern, die unwillkürlich
mahnten an das Bochim des Alten Bundes (Richter 2, 5). O, wie nehmen im
Lichte Gottes die Dinge ihre richtigen Proportionen an! Da gibt es keine
“kleinen Sünden“. Ein paar unrechtmäßig genommene Äpfel oder Kirschen,
sorglos verschleudertes Brot, Ungehorsam, Eigensinn, unreine Gedanken,
Neid, Lüge, Geiz, Lieblosigkeit, Dinge, über die man sich so gern
hinwegtäuscht, sie brennen in einem Herzen, das vom Finger Gottes
berührt wird. Sie müssen ans Licht kommen, damit sie vom Licht gestraft
und dann im Blute des Lammes gereinigt werden. Es muß mit der Sünde
energisch gebrochen werden. Ich las irgendwo den Ausdruck, in
geringschätziger Weise gebraucht, von dem „hochfliegenden“ Christentum
jener Tage. Hätte derliebe Freund, der jenes Wort schrieb, einmal einer
solchen Bochimstunde beigewohnt, er hätte nicht so sprechen können. Ja,
es sind manche Seelen durchgedrungen bis zum Herzen Gottes hinauf, aber
es ging zuerst hinab in die Selbsterkenntnis. Denn der Hohe und Erhabene
wohnt bei denen, die zerbrochenen Herzens sind und sich fürchten vor
seinem Wort.
So hörte ich einmal unfreiwillig in einer großen Stadt, wo eben eine
„Glaubensversammlung“ gehalten wurde, ein Zwiegespräch, das nicht für
meine Ohren bestimmt war. Wir waren auf dem Weg in den Konferenzsaal, da
schritten zwei Herren, hohe, vornehme Gestalten, ganz in ihr
Gesprächsthema vertieft, an uns vorüber. „Mir geht es eigentümlich in
diesen Tagen,“ sagte der eine. „Es heißt in mir: Nichts, nichtser, am
nichtsesten.“ Und die Antwort lautete etwa so: „Und doch ist’s einem so
wohl!“ Damit waren die Männer vorbeigegangen. Aber unvergessen blieb das
kurze Zeugnis: Nichts, aber selig. Nichts, aber Jesus alles.
Ja, Jesus alles: Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung, das
war der Grundton aller Verkündigung. Das Kreuz Christi wurde erhöht,
„und da, wo das Kreuz Christi erhöht ist, da ergießt sich der Strom des
Heiligen Geistes“.
Denn wenn auch die Sünde schonungslos aufgedeckt wurde, so wurde noch
viel kräftiger das herrliche Heilmittel angepriesen: das Blut des
Lammes, Jesus, der Retter, der Arzt, der Überwinder. Wir können uns
nicht selbst heilen, hieß es, aber Einer ist da, der es kann und tun
will. Er hat es getan. Was dem Gesetz unmöglich war (nämlich uns zu
befreien von dem Gesetz der Sünde und des Todes), das tat Gott (Röm. 8,
3). Die Heiligung geschieht durch ihn, durch den Glauben an ihn. Er hat
den Feind überwunden. Er hat unsere Sünden selbst geopfert an seinem
Leibe auf dem Holz, auf daß wir, der Sünde abgestorben, der
Gerechtigkeit leben; durch des Wunden wir sind heil worden (1. Petr. 2,
24). Das Wort Gottes war die Grundlage, auf der in allen Versammlungen
gebaut wurde. Sehr treffend und darum dem Gedächtnis sich fest
einprägend wurde die Reihenfolge gezeichnet, die zu beobachten ist:
Tatsachen. — Glaube. — Erfahrung.
Wir sind geneigt, die Ordnung umzukehren. Wir möchten zuerst etwas
erfahren, dann würden wir glauben, daß Gottes Zusagen wahr sind. Aber
auf diesem Wege kommen wir nicht zur Klarheit und nicht zu einem
bleibenden Frieden. Mit den Tatsachen unseres Heils fängt das Werk der
Gnade an: Gottes unendliche Liebe, Jesu Versöhnungstod auf Golgatha, das
Kommen des Heiligen Geistes. Unerschütterlich fest stehen diese
Tatsachen, versiegelt durch Gottes Wort und Gottes Geist. An uns ist es,
zu glauben, zu glauben, weil Gott es gesagt hat. Jesu vertrauen ist
himmlische Ruh.
Es war während der Berner Versammlungen im Januar 1875, daß ein Mann in
tiefer Sündennot zu einem der mitarbeitenden Brüder kam. Es war ein
aufrichtiger Gottsucher. Aber ihm fehlte die Gewißheit des Heils, und in
seinem Herzen tobte ein gewaltiger Sturm. Klar und ernst wurde ihm die
offene Freistatt in Jesu Wunden gezeigt und der Weg dazu gewiesen. Aber
in tiefer Mutlosigkeit sagte der Arme immer wieder: „Ich kann es nicht
fassen, ich kann nicht. Ich meine, es müßte vorher etwas in mir sich
ändern.“ Freundlich wartete der väterliche Freund, wies ihn auf das Lamm
Gottes und betete mit ihm; denn nur der Heilige Geist kann von Sünde
überzeugen, und nur der Heilige Geist kann Jesum verklären. Da plötzlich
rief der Mann: „Ja, wenn ich jetzt am Sterben wäre, so müßte ich es ja
doch einfach glauben, sonst wäre ich verloren.“ Und mit Tränen fuhr er
fort: „Herr Jesu, ich erfasse dich, wie wenn ich jetzt am Sterben wäre.“
Und siehe da! Als er die Tatsache glaubte, erfuhr er ihre Kraft.
In denselben Tagen war es, daß in einer Frühgebetsstunde zwei Freunde
nebeneinander saßen. Ein Geist des Gebets war ausgegossen, und der Odem
Gottes wehte durch den Raum. Da stand einer der Männer auf und bat um
Fürbitte für seinen Freund, der so tief unglücklich sei und keine Ruhe
finden könne. Die Bitte wurde von vielen aufs Herz genommen und ein
kräftiger Trost aus Gottes Wort gesprochen.
In der Abendgebetsstunde saßen die Freunde wieder nebeneinander am
gewohnten Platz, und das strahlende Gesicht dessen, für den man am
Morgen gebetet hatte, verkündete ohne Worte, was geschehen war. Sein
kurzes kräftiges Zeugnis aber war zusammengefaßt in dem Psalm: „Ich
harrete des Herrn, und er neigte sich zu mir und hörte mein Schreien und
zog mich aus der Grube und aus dem Schlamm und stellte meine Füße auf
einen Fels, daß ich gewiß treten kann. Und hat mir ein neu Lied gegeben,
zu loben unseren Gott.“
Das gab dann in Wahrheit ein freudiges Danklied, und was noch mehr ist,
das ganze nachherige Leben dieses Mannes war ein Lobopfer dem Herrn, der
ihn erlöst hatte. — Beide Freunde sind schon längst daheim.
Ganz besonderer Nachdruck wurde stets gelegt auf die Übergabe des
Herzens an den Herrn, auf das Verleugnen des eigenen Wesens und das
freudige Unterwerfen des eigenen Willens unter den Willen Gottes.
Eigensinn, eigenes Wollen und Wählen, Empfindlichkeit und jegliches
Raumgeben dem Fleisch hindert den Zufluß des Heiligen Geistes und stört
den Frieden.
Eine prächtige Illustration zu dieser Wahrheit wurde einst aus einer
Episode des amerikanischen Bürgerkrieges gegeben.
Das Kämpfen und Blutvergießen hatte dort schon manches Jahr gewährt, als
eines Tages eine Deputation der verbündeten Südstaaten (die bekanntlich
das Sklavenwesen festhalten wollten) zu dem Präsidenten Abraham Lincoln
kam, um mit ihm Friedensverhandlungen anzuknüpfen. Lincoln hatte bei
aller Charakterstärke ein weiches, empfindsames Gemüt, und man hatte ihn
Tränen vergießen sehen, wenn blutige Nachrichten vom Kriegsschauplatz
einliefen. Die Vertreter der Südstaaten erklärten sich bereit,
Konzessionen zu machen und einen Teil des von ihnen besetzten
Territoriums an den Norden abzutreten, wenn man sie nur als einen
gesonderten Bund anerkennen und damit von der Union lösen wollte. In
mehrstündigen Reden legten sie ihre Gedanken und Wünsche dar und
appellierten an des Präsidenten bekannte Menschenliebe.
Lincoln hörte lange schweigend zu. Als die Männer zu sprechen aufgehört
hatten, sammelte er sich einen Augenblick in der Stille. Dann legte er
seine große Hand auf die Karte der Vereinigten Staaten, die auf dem
Sitzungstische ausgebreitet lag, und sagte nur: „Meine Herren, die
Regierung muß alles haben!“
Er wußte, daß ein Nachgeben oder ein schwacher Kompromiß immer neu
ausbrechende Kriege zur Folge haben würde und daß nur völlige
Unterwerfung unter die rechtmäßige Verfassung dauernden Frieden sichern
könnte. — Nicht lange danach wurde der Frieden in der Tat geschlossen.
So ist es auch im Reiche der Gnade. Unser König muß alles haben, dann
erst ist voller Friede unser Teil.
Aber freilich, mit dem einmaligen Ergreifen des Heils und der einmaligen
Übergabe an den Herrn ist es nicht getan. Es gilt fortfahren in der
Heiligung in der Furcht Gottes (2. Kor. 7, 1). Auch im Lande der Ruhe
gab es noch viel Boden einzunehmen und viele Kanaaniter zu bezwingen.
Dem Christen widersetzen sich bis zuletzt gewaltige Feinde: Satan, die
Welt und sein eigenes sündiges Fleisch. Aber der Kampf ist in der Tat
ein völlig anderer, wenn der Glaubensstandpunkt eingenommen ist. Das ist
der Kreuzesstandpunkt. „Ich bin mit Christo gestorben, darum kann ich
sterben. Ich bin mit Christo auferstanden, darum kann ich mit ihm
leben.“ (F. Godet.)
Es werde nie gebilligt,\
Wozu das Fleisch mich reizt.\
Ich habe eingewilligt:\
Mein Weg sei mir durchkreuzt.\
Dieses: Ich habe eingewilligt! oder: Ich willige fort und fort ein! ist
nichts anderes als das tägliche Aufsichnehmen des Kreuzes, das
praktische Ausleben des Wortes: Wir sind gestorben, und unser Leben ist
verborgen mit Christo in Gott.
Ein alter Knecht Gottes wurde gefragt, was das Geheimnis seiner
beständigen Freude sei. Fast erstaunt antwortete er: „Wenn ich überhaupt
ein Geheimnis habe, so liegt es darin, daß ich keinen Schutt sich
ansammeln lasse zwischen meiner Seele und meinem Gott. Da muß immer
alles völlig im reinen sein.“
Ja, da liegt in der Tat das Geheimnis eines glücklichen und siegreichen
Lebens. Die Kanäle dürfen nicht verstopft sein, durch die das
Lebenswasser vom Throne Gottes in unsere Herzen fließt. Die Röhren
müssen rein sein, die aus der goldenen Schale das Öl des Geistes unseren
Lampen zuführen. Die Leitung darf nicht gekrümmt oder gar unterbrochen
sein, die den Kraftstrom in unsere Arbeitsstätten leitet. Nur der
beständige Kontakt mit dem lebendigen Gott gibt uns Kraft, sowohl die
Sünde zu überwinden, als auch die Frucht des Geistes hervorzubringen und
auch andere Seelen für ihn zu gewinnen.
Das sind Erinnerungen und mehr als bloße Erinnerungen an die Zeiten, die
ich beim Niederschreiben dieser Zeilen mit innerer Bewegung wieder
durchlebt habe. Noch etliche Male habe ich etwas Ähnliches mit erfahren,
so besonders im Jahre 1882, als in Basel durch die Predigt treuer
Knechte viele Sünder erweckt und zu Gott bekehrt wurden.
Gott schenke seiner Gemeinde immer wieder solche gnädige Heimsuchung!
Wir wollen ernstlich darum flehen; denn wir bedürfen einer Belebung
sehr. Was im Jahre 1874 mit heller Posaune verkündigt wurde, gilt heute
in eben demselben Maße wieder. Wohl bläst der Wind, wo er will, wie der
Herr Jesus zu Nikodemus sagte, als er von den Wirkungen des
Gottesgeistes sprach. Wir können dem heiligen Wind nicht gebieten,
können nichts erzwingen und wollen ja nichts erkünsteln. Aber beten
können wir. Dem Odem Gottes unsere Herzen weit öffnen können wir. Uns
nach dem gnädigen Wind richten und uns von ihm treiben lassen, das
können und sollen wir.
Und noch wichtiger als das Erwarten besonderer Segenszeiten ist das
tägliche Erfassen der Gnade, das stille, treue Bleiben in Jesu, das
Dienen in der Liebe und der demütige, freudige Gehorsam. Das ist auch
der Weg zu neuem Segen.
Zum Schluß noch eine lichte Erinnerung aus dem Jahre 1875. Eine
reichgesegnete Konferenz war in der Ostschweiz gehalten worden. In der
letzten Stunde waren die Brüder in einem großen Saal und die Schwestern
in einem anderen versammelt und durften in kurzen Schrift- oder anderen
Worten ein Zeugnis ablegen von der erfahrenen Gnade. Da stand u. a. ein
altes Mütterchen auf und sagte mit klar vernehmbarer Stimme: „Das ist
mein einziger Trost im Leben und im Sterben, daß ich nicht mein, sondern
meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem teuren
Blut für alle meine Sünden vollkömmlich bezahlet und mich aus aller
Gewalt des Teufels erlöset hat und also bewahret, daß ohne den Willen
meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupte fallen kann, ja,
auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muß. Darum er mich auch durch
seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens versichert, und ihm forthin zu
leben von Herzen willig und bereit macht.“ (Heidelb. Kat.) Das war auch
„nichts Neues“ und doch so neu, daß wohl im großen Saal kein Auge
trocken blieb.
Und als es nachher ans Abschiednehmen ging und manch freundliches Wort
gewechselt wurde, da traten auch zwei Jungfrauen in ihrer hübschen
ländlichen Tracht auf uns zu. Kein wohlgemeintes, sentimentales Wort des
Bedauerns über den Abschluß der Versammlungen kam über ihre Lippen. Sie
schauten uns nur lieb und froh in die Augen und sagten: „So wollen wir
denn jetzt hingehen und glauben!“
Sonntag
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Neben den vielen hellen Punkten, die mir aus dem Dämmergrau der
Vergangenheit entgegenleuchten, zieht sich, in mildem Glanze schimmernd,
eine Perlenschnur durch mein ganzes Leben: die Erinnerung an die
Sonntage. Ich habe es unter dem Schreiben dieser Blätter ganz aufs neue
gemerkt, daß nur die Dinge licht und köstlich sind, die Ewigkeitswert
haben. Was bloß irdisch und zeitlich ist, versinkt im Nichts. Das, was
lebendig bleibt, muß Göttliches und Ewiges in sich bergen. Und der
Sonntag, dieser immer wiederkehrende Gruß aus dem Herzen Gottes, sollte
der nicht voll Himmelsklarheit sein? Darum ist es mir ein Bedürfnis, aus
der Fülle meines Herzens etwas davon zu sagen, was der Tag des Herrn
einem Zionspilger sein kann. Es sollen nur allgemeine, lose
aneinandergereihte Sonntagsgedanken sein.
Mit einem kleinen Erlebnis noch aus meiner Jerusalemer Zeit will ich
beginnen. Es war Sonntag, und zwar Ostern, der Sonntag der Sonntage. Ich
hatte in aller Frühe einen einsamen Gang gemacht, wohl etwas in der
Gesinnung der Maria Magdalena und der anderen Frauen, die an jenem
ersten Ostermorgen an das Grab gingen, um ihren Herrn zu suchen. Als ich
auf dem Heimwege mich dem Jaffator näherte, begegnete mir eine alte
russische Pilgerin, die in der Grabeskirche übernachtet haben mochte,
wie das viele tun, und nun ihrem Quartier draußen vor der Stadt wieder
zuschritt. Als sie mich erblickte, breitete sie, ohne mich zu kennen,
die Arme aus, erfaßte meine beiden Hände und rief mit freudestrahlendem
Gesicht: „Christus vaskeresse! Christus ist auferstanden!“ Ich kannte
diese schöne russische Sitte, wußte auch, daß der Gruß oft nur eine Form
ist. Aber diesmal hatte es mir die alte Pilgerin angetan. Die Freude war
zu offenbar. Und heute noch tönt mir der Ruf in den Ohren: Christus
vaskeresse! Ja, es scheint mir, jeder Sonntagmorgen rufe der
Christenheit aufs neue die frohe Kunde zu: Christ ist erstanden! Jesus,
der Heiland, ist Sieger und lebt!
Die Sonntage machen den siebenten Teil unseres Lebens aus. Wer das
siebzigste Jahr erreicht hat, kann zurückschauen auf zehn volle Jahre
von lauter Sonntagen. Schon das siebenjährige Kind hat ein ganzes Jahr
von Sonntagen hinter sich.
„Was hast du mit deinen Sonntagen gemacht?“ Diese Frage, die einst in
eine Evangelisationsversammlung mit großem Ernst hineingerufen wurde,
drang einem Jüngling so tief ins Herz, daß er dadurch erweckt und zu
Gott bekehrt wurde. Er hatte sich auf jene Frage eine erschütternde
Antwort geben müssen: denn seine Sonntage hatte er im Dienst des
Fleisches und der Sünde verbracht. Gott gab ihm Gnade zur Buße und
machte später aus ihm einen Prediger des Evangeliums, der Sonntag für
Sonntag mit heller Posaune das Wort des Herrn verkündigte.
Es hat mir immer einen Eindruck gemacht, daß der Herr die Feier seines
Tages aufgefaßt haben will als ein Zeichen zwischen ihm und seinem Volk
(2. Mose 31, 13. 17; Hes. 20, 12. 20), wie ein goldenes Ringlein das
Zeichen eines Bundes ist. Die Inschrift in diesem goldenen Ring lautet
etwa so wie Augustins Bekenntnis: „Herr, du hast uns für dich
geschaffen, und unser Herz ist ruhelos, bis es ruhet in dir.“ Oder
Tersteegens feines Wort: „Kreatur ängstet nur; du allein kannst geben
Ruhe, Freud’ und Leben.“
Der neutestamentliche Sonntag entspricht dem Wesen des Evangeliums, im
Gegensatz zum alttestamentlichen Sabbat. Der Sabbat war ein Abschluß,
gleichsam durch Arbeit mühsam errungen. Der Sonntag ist der Anfang, der
zu neuem Wirken Kraft gibt. Jesus gibt dem sündenmüden Herzen Ruhe in
seinem Tod und Kraft und Sieg in seinem Leben.
Es ist zu beachten, daß Gottes Gebot uns sagt: Sechs Tage sollst du
arbeiten, aber am siebenten Tag sollst du ruhen. Rechte Arbeit ist eine
Vorbedingung für rechte Ruhe, und rechte Ruhe gibt Kraft zu rechter
Arbeit. „Wie dein Sonntag, so dein Werktag,“ sagt ein Sinnspruch. Die
Proportion von Arbeit und Ruhe hat der Schöpfer weislich und treu
geordnet, und der Mensch tut wohl, sich danach zu richten. Der Versuch,
der zur Zeit der Revolution gemacht wurde, das Jahr in zehntägige
Abschnitte einzuteilen, ist bald und völlig gescheitert. Und die
Missionare schildern in ergreifender Weise die ermattende Ödigkeit des
Lebens in heidnischen Ländern, wo nur ein mehrtägiges Fest das neue Jahr
einleitet und dann kein regelmäßig wiederkehrender Ruhetag die Zeit
unterbricht.
Aber daß die Ruhe doch auch Ruhe sei! Wie oft ist sie nur ein Hetzen
nach Vergnügen! In unserer genußsüchtigen Zeit darf ein Wink nach dieser
Seite hin wohl berücksichtigt werden. Können wir nicht Sitten und
Gesetze reformieren, wie wir oft so gern möchten, so können wir doch bei
uns selbst damit anfangen.
Drei Worte, so scheint es mir, gehören wesentlich zu einer gesegneten
Sonntagsfeier: Ruhen. Heiligen. Wohltun.
Ruhe von der werktäglichen Arbeit ist ein freundliches Geschenk Gottes
an seine Menschenkinder. Sie ist ein Heilmittel und Präservativ für
Leib, Seele und Geist.
Heiligen sollen wir den Tag, das heißt, ihn dem Herrn weihen in der
Stille und in der Gemeinde. Der Geist muß sich in der Berührung mit dem
Ewigen erneuern und erfrischen, wenn er lebendig und kräftig bleiben
soll. Erst dann haben wir wirklich Sonntag gefeiert.
Wohltun, so sagt uns der Herr des Sabbats selbst (Matth. 12, 2), zieme
sich wohl für den Tag der Ruhe. Es hat mir immer geschienen, irgendeinen
Liebesdienst zu üben an Kranken und Einsamen, oder auch im
Familienkreise, durch Besuche oder Briefe, gebe dem Sonntag einen ganz
besonderen Freudenschimmer. So sagte einst ein kleines Kind: „Der
Sonntag ist so schön, weil man dann Zeit hat, alle Leute lieb zu haben.“
Solche Sonntage sind etwas Köstliches, sind ein Vorgeschmack der ewigen
Ruhe, sind ein Stärkungsmittel auf dem Wege zur Heimat, helfen mit, das
Lämplein neu zu füllen mit heiligem Öl, daß es leuchte zu Gottes Ehre.
Und was dem Sonntag seine höchste Weihe, seinen reinsten Glanz gibt, das
ist die Verkündigung des Evangeliums, die an diesem Tage in besonderer
Weise geschieht, und die Gemeinschaft der Heiligen, die ebenfalls an
diesem Tage in besonderer Weise zum Ausdruck kommt. Da umzieht die ganze
Erde wie ein goldener Gürtel die Predigt von Jesu, dem Gekreuzigten und
Auferstandenen und das anbetende Lob seiner Erlösten.
Wenn bei uns der erste Sonnenstrahl hinter den blauen Höhenzügen des
Jura emporflimmert und die fernen Alpengipfel sanft erglühen; wenn der
Posaunenchor mit seinem Choral einsetzt und es in Wald und Flur mächtig
widerhallt: Dies ist der Tag des Herrn! dann haben unsere Brüder im
fernen Osten — China, Japan, Korea — schon vor mehreren Stunden in ihren
schlichten „Jesushallen“ ihre Knie gebeugt und ihre Lieder gesungen zur
Ehre des Erretters. Auch Indien ist schon lange wach, und in hohen
Kirchen wie in schmucklosen Kapellen erschallt das Wort vom Kreuz mitten
in heidnische Unwissenheit und falsche Weltweisheit hinein. Auch die
zerstreuten Gemeindlein in Persien, Armenien, Sibirien, in Rußland und
den anderen Ländern Osteuropas nehmen den hellen Ton auf. Und horch! nun
läutet in Jerusalem das traute Glöck-lein zum Vormittagsgottesdienst,
und es sammeln sich die Gläubigen zu Lob und Anbetung, wie wir es einst
taten in der Zeit der ersten Liebe. Auch in Ägypten, dem Sudan, in
Abessinien, in Uganda, der heißen Ostküste Afrikas entlang, von Aden bis
hinab nach Mosambik, Madagaskar und dem Kapland ist es Sonntag geworden,
und unsere schwarzen, braunen und weißen Brüder versammeln sich um
Gottes Wort und lassen in fremden Lauten die alten Glaubenslieder
erklingen.
Von einem Land zum anderen im westlichen Europa und Afrika geht die
Sonntagssonne auf, und in mancherlei Sprachen ertönt das alte, ewig neue
Evangelium bis hinüber über das große Weltmeer nach Grönland und dem
mächtigen Kontinent von Nord-und Südamerika und weiter bis nach
Australien und all den Inselgruppen des Stillen Ozeans.
Weit durch die Lande und durch die Inseln weit,\
Und bis zum Strande des Mittags ausgestreut,\
Singt unser Bund in tausend Zungen\
Psalmen dem Meister und Huldigungen.
Wie weitet solch ein Rundgang das Herz, und wie klärt er den Blick! Wie
freut man sich, zu wissen, daß des Herrn Augen schauen durch alle Lande,
daß er stärke die, so von ganzem Herzen an ihm sind (2. Chron. 16, 9)!
Und wie schön und doch so einfach läßt sich die Fürbitte für die ganze
weit zerstreute Gemeinde Jesu Christi zusammenfassen in dem Wort, das
wir als Kindlein lallen lernten und dessen Tiefe wir im Alter noch nicht
erschöpft haben: Unser Vater!
Denn der Sonntag ist in hohem Maß ein Tag des Gebets. „Nehmt Zeit zur
Sammlung und zum Gebet!“ so mahnte immer wieder die Stimme des greisen
Predigers Dr. Andreas Murray in Südafrika, der wohl die Gefahren der
Vielgeschäftigkeit unserer europäischen Kultur schmerzlich erkannte. Und
wann könnte man sich besser Zeit nehmen als an diesem dem Herrn
geweihten Tag? Wie wunderbar müßte es sein, die verborgenen Fäden zu
verfolgen, die aus einem priesterlichen Herzen emporsteigen zum Throne
Gottes und von dort, mit Segen beladen, herniederkommen auf das Haupt
einzelner oder ganzer Gemeinden, deren Namen genannt worden sind vor den
Ohren des Herrn Zebaoth! Das gäbe in Wahrheit „lichte Spuren“. Aber
solches wird erst in der Ewigkeit völlig offenbar.
Doch kehren wir von dem Großen, Weiten zum Kleinen, Naheliegenden
zurück. Zwar kann ich nicht, wie es eine liebe Stimme gewünscht hatte,
ein eingehendes Bild zeichnen von den Kindersonntagen aus jenem goldenen
Zeitalter, da „alle noch daheim waren“. Das ist zu persönlich, zu zart
und zu — mangelhaft. Doch können vielleicht einige Skizzen und
Andeutungen da und dort von Nutzen sein, und so möchte ich denn die
nächstfolgenden Seiten den lieben jungen Müttern widmen. Denn auch die
Kindlein sollen Anteil haben an dem Sonntagssegen.
Der Sonntag fängt eigentlich schon am Vorabend an; daher kommt der
schöne Name Sonnabend. In einem jüdischen Nachbarhause in Jerusalem
beobachtete ich immer mit stiller Ergriffenheit, wie am Freitagabend
jeweilen die „Sabbatlampe“ angezündet wurde, die erst nach
vierundzwanzig Stunden wieder erlöschen durfte. In den Christenhäusern
ist es gut, wenn am Sonnabendabend eine stille Weihe einkehrt. Das
Lämplein des Gebets soll hell erglühen.
Auch bei den Kindern gibt es eine kleine Vorbereitung. Da werden die
Arbeitskörbchen in den Schrank getan, und an ihre Stelle kommen etwa auf
das Bord die „Patenbibeln“ oder sonstige schöne Bücher, die man nur an
Festtagen haben darf. Das Spielkästchen wird aufgeräumt und die
sogenannten Sonntagsspiele bereit gelegt. Daß es in der Badestube noch
viel zu schaffen gibt, versteht sich von selbst, und die blitzblanken
Büblein und Mägdlein schlafen froh und friedlich dem schönen Sonntag
entgegen.
Und nun ist er da, und freudig empfindet man die wohltuende Ausspannung
von Schul- und anderen Pflichten. Die Hausarbeit wird auf das
notwendigste beschränkt. Besen und Schaufel oder vielmehr die fleißigen
Hände, die sie zu führen haben, sollen womöglich ruhen; denn der
Werktagsstaub ist ja gestern sorgfältig entfernt worden, und das
Staubtüchlein mag für heute genügen. Es ist so gut, wenn man früh fertig
wird, um rechtzeitig in das Haus des Herrn zu gehen.
Ich denke bei dieser Schilderung an Häuser, in denen eine gewisse
Wohlhabenheit herrscht, und wo man einen solchen Wink wohl beherzigen
kann. Viel schwerer geht es in den Häusern der Armut und der allzu
angestrengten Werktagsarbeit. Es soll ja auch keine Regel gemacht
werden; die Gesinnung gibt den Ausschlag. Und ich habe gerade in den
einfachsten Verhältnissen sehr schöne Dinge auf diesem Gebiete
wahrgenommen. Wo ein Wille ist, findet sich ein Weg.
Wo eine Sonntagsschule vorhanden ist, nehmen die Kinder des christlichen
Hauses gern daran teil. Wo das nicht der Fall ist und die Mutter Zeit
hat, ist das „Bibelstündchen“ in ihrem Zimmer noch schöner. Dort sehen
wir solch eine kleine Gruppe; lauschen wir ein wenig hin.
Man hat mit dem Lied begonnen:
Bei der Arbeit, auf der Reise\
Sing ich Zionslieder gern;\
Doch nichts stimmt mein Herz so selig,\
Als ein Lied am Tag des Herrn.\
Das Thema ist heute: Der Kämmerer aus dem Mohrenland. Wie köstlich ist
doch diese Geschichte! Wieviel gibt es zu erklären über die äußeren und
inneren Umstände, über jene heiße Straße, die nach Gaza führt und in der
Tat der nächste Weg ist nach Ägypten. Nubien und somit in das Reich der
Königin Candaces. Wie vieles ist auch anzuwenden auf das Herz, auf das
Kindesherz! Einzelne Bemerkungen zeigen die Gedankenarbeit der Kleinen:
„Wie wunderbar, daß Gott den Philippus gerade zur rechten Stunde zum
Kämmerer führte!“ — „Und fein war es von Philippus, daß er sofort ging.“
— «Es muß schön gewesen sein, als der Kämmerer anfing zu verstehen und
dann glaubte.“ — „Aber durfte Philippus ihn eigentlich so schnell
taufen?“ fragte ein kleiner Kritikus. Ein herziges Büblein aber möchte
wissen: „Wer hat die Pferde halten dürfen während der Taufe?“
O du goldige Kinderzeit, wie froh und reich bist du!
Was die Teilnahme der Kinder an den öffentlichen Gottesdiensten
anbelangt, gehen die Meinungen sehr auseinander. Wo eine eigentliche
Kinderkirche gehalten wird, ist es wohl das Richtigste, die Kleinen nur
dahin gehen zu lassen. Aber auch im allgemeinen Gottesdienst können sie
manches lernen. Ein liebliches Beispiel davon habe ich einmal erlebt.
Ein ganz Kleines durfte einst mit der Wärterin zur Kirche gehen, während
ich zu Hause blieb. Als das Kind wiederkam und ich ihm das Kleidchen
abzog, fragte ich: „Hast du auch etwas verstanden?“ — „Ja,“ sagte das
Mägdlein; „man hat gepredigt: N.-chen (ihr Name) dürfe nicht mehr
weinen.“ Ich konnte mir nicht denken, wie das zu verstehen sei, aber
meine Fragen brachten nichts weiteres heraus, als daß ein Mann gepredigt
habe: N.chen dürfe nicht mehr weinen. Die herzugekommene Wärterin gab
die Erklärung. Der Text der Predigt war gewesen: Wenn ihr stille
bliebet, so würde euch geholfen. Stillesein bedeutete für den kindlichen
Sinn: nicht weinen. — Es wäre gut, wenn die Erwachsenen das Wort der
Predigt jeweilen so praktisch und — so persönlich anwendeten!
Spaziergänge durch Wald und Flur gehören selbstverständlich mit zu den
reinen Sonntagsfreuden. Der ernste Prälat Joh. Albr. Bengel hat in
seiner von lateinischen Vokabeln durchwobenen Sprache für die Erziehung
der Kinder ein „solarisch Traktament“ empfohlen (eine der Sonne
zugekehrte Behandlung). Das ist ein köstliches und beherzigenswertes
Wort, und wann paßt ein solch solarisches Traktament besser als am
Sonntag?
Die Abendstunden, namentlich des Winters, bringen den Kindern neue
Freude: das liebe Spielstündchen.
Die Kleinsten ergötzen sich an Noahs bunter Arche, die Größeren haben
Geduldspiele, Quartett und Lotto, die in die Geographie Palästinas
einführen. Eine sehr beliebte Beschäftigung ist das Lösen von biblischen
Fragen. Da gibt es zuerst eine Reihe von Namen zu raten: Wie hieß der
Mann, der in seiner Jugend von Gott bei seinem Namen gerufen wurde? Und
der Mann, dessen Haus Gott segnete, weil er die Bundeslade aufgenommen
hatte? Und der Mann, der bei der Nacht ein Gespräch hatte mit Jesus? Und
der Mann, der das Erbe seiner Väter um keinen Preis verkaufen wollte?
Und der Jüngling, der von Kind auf die Heilige Schrift kannte? Und der
Prophet, der zu den Hirten von Thekoa gehörte? Und der Mann, zu dessen
Füßen Paulus studierte? Sind dann die Namen gefunden, so wird aus den
Anfangsbuchstaben ein Wort zusammengesetzt: Samuel, Obededom, Nikodemus,
Naboth, Timotheus, Amos, Gamaliel - Sonntag.
Noch schöner sind die Gedankenbilder. Die Mutter beschreibt, langsam
sinnend: Ich sehe einen großen, reich geschmückten Saal; darin sitzt auf
einem erhöhten Stuhl ein finster dreinblickender, prächtig gekleideter
Mann, offenbar ein König. In seiner Hand hält er ein goldenes Zepter.
Vor ihm kniet eine liebliche junge Frau, die mit flehender Gebärde zu
ihm aufschaut. Natürlich weiß man, daß es Esther ist vor Ahasveros. Nun
dürfen die älteren Kinder auch solche Wortbilder zeichnen, was nicht so
ganz einfach ist, weil keinerlei Handlung geschildert werden darf.
Es wird auch viel, sehr viel gesungen. Einst sang man das schöne Lied:
Wirf Sorgen und Schmerz\
Ins liebende Herz\
Des mächtig dir helfenden Jesus.
Ein Junge ballt die kleine Faust, macht die Gebärde eines kräftigen
Werfens, als hätte er einen Ball in der Hand, und fragt treuherzig:
„Kann man denn die Sorgen auch so hinwerfen zu Gott?“ — Ja, mein
Büblein, das kann man, das darf und soll man. Aber das geht nur, wenn
man sich selbst in Gottes Arme wirft, damit er uns trage mit unserer
Last!
In etlichen Häusern habe ich es mit Freuden gesehen, wie auf jeden
Sonntagabend ein Lied oder sonst ein geistliches Gedicht oder auch ein
Abschnitt aus der Bibel gelernt und dem Vater aufgesagt wurde. Das
Auswendiglernen von Kernsprüchen und Liedern kann überhaupt nicht genug
empfohlen werden, und je weniger die Schule in dieser Hinsicht tut,
desto mehr sollte die Familie einstehen.
Mit einer sogenannten auswendigen Andacht wurde in unserem Kinderkreis
jeweilen die Sonntagsfeier geschlossen. Da durfte jedes Kind einen
Liedervers vorschlagen, der dann von allen gesungen wurde. Danach sagte
jedes einen Bibelspruch auf, und die so gewählten Lieder und Sprüche
waren für die Eltern wie kleine Fensterchen, durch die sie in das Gemüt
ihres Kindes blicken konnten.
Von vielen schönen und erhebenden Sonntagen könnte ich erzählen zu Land
und See, auf hoher Alp (Eggishorn, Zermatt) und in schwüler Stadt, in
tiefer Einsamkeit und in der Gemeinde. Wenn ich mich frage, wo es am
schönsten war und was mir als allerwertvollste Erinnerung zurückbleibt,
so ist mir die Antwort nicht schwer. Es ist stets da am schönsten
gewesen, wo der Geist Gottes am kräftigsten gewirkt und Seelen vom Tode
zum Leben gerufen hat. Es ist doch der Berg Gottes höher als alle Berge
irdischer Schönheit und idealen Genusses. Das war etwa in großen
Versammlungen, wenn das Wort des Lebens mit Beweisung des Geistes und
der Kraft verkündigt wurde und die Seelen sich beugten vor dem Odem
Gottes, wie ein Kornfeld sich beugt vor dem fruchtbringenden Wind.
Andere Male war es in kleinerem Kreise in Vereinen und schlichten
Bibelstunden oder auch im Gespräch mit einzelnen von Gott ergriffenen
Seelen. Da wo Gottes Leben in ein Herz dringt, wo ein verlorenes Kind
heimkehrt ins Vaterhaus, wo eine Glaubenshand die durchgrabene
Heilandshand erfaßt und sich von ihm hineinziehen läßt in den sicheren
Bergungsort, da ist gut sein. Da hat man die Engel zu Gefährten und
freut sich mit ihnen über einen Sünder, der Buße tut.
Und nun hat sich der Tag geneigt, und es ist Nacht geworden. Das letzte
Amen ist gesprochen, der letzte Orgelton verklungen. Aber das allerbeste
bleibt: das verschlossene Kämmerlein und der auferstandene Herr mit
seinem Frieden.
Freundesworte
=============
Mit einer gewissen Verlegenheit erfüllt mich die Wahrnehmung, daß ich
von den lieben Menschen, die meine Jugend beeinflußten, so manches zu
erzählen gewußt und von denen, die mein reiferes Leben segneten, beinahe
ganz geschwiegen habe. Das läßt sich ja durch mancherlei Gründe
erklären. Immerhin will es mir doch zu unvollkommen und undankbar
erscheinen, die teuren Freunde gar nicht zu erwähnen, die so viele helle
Spuren auf meinem späteren Pfad zurückgelassen haben und mir nun
vorangegangen sind in die ewige Heimat. Eine eingehende Schilderung
ihrer Persönlichkeiten zu geben, wäre ein Ding der Unmöglichkeit, und
eine bloße Namensnennung hätte keinen Wert. Da habe ich versucht, mir
von jedem der Freunde ein Wort oder einen Zug ins Gedächtnis
zurückzurufen und festzuhalten, etwas, das ich bei irgendeinem Anlaß
mündlich oder schriftlich von ihnen empfangen und im Herzen bewahrt,
wohl auch in meiner Sammelmappe notiert habe. Wird dieses Kapitel auch
dadurch zu einer Art Stammbuchblatt gestempelt, so wird es doch manchen
wertvollen Gedanken darbieten und zugleich die teuern Namen ins
Gedächtnis zurückrufen.
Von dem uns besonders nahestehenden Freundeskreis in Basel kann
allerdings ein bloßes Wort nicht genügen. Der Verkehr war durch
Jahrzehnte hindurch zu häufig und zu innig. Es gäbe zu viel zu sagen.
Mit Theodor Sarasin-Bischoff (gestorben 1909) und seiner Gattin waren
wir schon in der Jugend verbunden. Köstlich war es dann, als wir in die
Schweiz kamen, sie als Geschwister im Herrn und nahe Nachbarn
wiederzufinden. In unserer ersten Chrischonazeit verbrachten wir in den
Sommermonaten jeweilen am Samstagabend einige stille Stunden in ihrem
lieblichen Heim in Riehen am Fuße unseres Berges, um uns durch Wort
Gottes und Gebet vorzubereiten auf den Tag des Herrn. Damals ging es
behende den Berg hinunter und herauf, über die steinigen Pfade des
dunklen Buchenwaldes. Der Segen, den wir genossen, war des Ganges wert.
Adolf Vischer-Sarasin (gestorben 1902) hatte mit seiner Frau den
denkwürdigen Berner Versammlungen im Januar 1875 beigewohnt. Dort ging
den teuren Freunden das Licht des Glaubens in nie gekannter Klarheit
auf. Dort auch lernten wir uns kennen und verbanden uns zu gemeinsamer
Pilgrimschaft und Arbeit in dem Herrn. Unvergeßlich sind uns jene ersten
Zeiten geblieben, da der Herr so fühlbar in unserem Kreise weilte. Herr
Bischer zog sich später aus seinem Geschäft und seinen verschiedenen
Ämtern und Würden zurück, um sich ganz dem Werk des Herrn zu widmen.
Johannes von Huene (gestorben 1905), der baltische Edelmann und
theologische Lehrer an der Predigerschule in Basel, war ein
unschätzbares Mitglied unseres Bundes. Er schöpfte seine reiche
Erkenntnis aus der Tiefe und hat uns manche Perle vom reinsten Wasser
mit heraufgebracht. Seine ihm gleichgesinnte Gattin, Alexandra geb. von
Stackelberg (gestorben 1910) ist auch schon daheim bei dem Herrn.
Und noch ein Name, der erst seit kurzem in die Reihen der nach Hause
gekommenen Pilger gehört, muß hier genannt werden, Eduard
Burckhardt-Zahn (gestorben 1914), der mit seiner Gattin so treu und
verständnisvoll mit uns gearbeitet, gesorgt und gebetet hat.
Ein jeder dieser Namen weckt kostbare Erinnerungen, nicht zumeist an
Menschenworte, sondern an Worte Gottes, die wir gemeinsam gelesen und
verarbeitet haben. Und ich möchte es bezeugen, welch großer Gewinn es
ist, wenn bei den Begegnungen, die eine solche Freundschaft mit sich
bringt, das Wort Gottes den Grundton der Gespräche bildet und das
gemeinsame Gebet dem Zusammensein eine stille Weihe verleiht. Wie
manches Buch der Bibel haben wir miteinander betrachtet! Wie manche
Bitte dem Herrn dargebracht und wie manche Erhörung erfahren! Wir sind
zusammen jung gewesen und alt geworden und freuten uns zu wissen, daß
die Gemeinschaft hienieden nur eine Vorstufe war zu der vollkommenen
Gemeinschaft droben.
In Bern war unser ältester Freund der Pfarrer Arnold Bovet (gestorben
1903) von der französischen freien Gemeinde. Ihn hatten wir schon als
Jüngling kennengelernt und seinen Lauf, der so früh und so
ausschließlich auf das Himmlische gerichtet war, mit Freuden verfolgt.
Von den vielen Worten des Glaubens und der Liebe, die wir von ihm
gehört, ist ein ganz kurzes mir am allerwichtigsten geworden. Es ist ein
orientalisches Wort. Nach einer Zeit schwerer Erfahrungen und
Kränkungen, durch die er hatte gehen müssen, war es uns wichtig zu
erfahren, wie er das alles ertragen habe. Auf Befragen erhielten wir
durch seine liebe Frau die Antwort, sein wichtigstes Anliegen sei in der
ganzen Zeit stets gewesen:
„Nur nicht sündigen!“
Wir verstanden ihn wohl. Was Menschen uns antun können, mag ja oft
schwer zu tragen sein. Aber viel schlimmer ist es, eigener Sünde
nachzugeben. Bitterkeit, Rachsucht, Richtgeist oder übler Nachrede. Der
Schmerz aller Schmerzen ist: die Sünde, denn sie scheidet uns von Gott.
Von Friedrich Dändliker (gestorben 1900), dem genialen Diakonissenvater
in Bern, der im Verein mit seiner Gattin sein Haus zu einer Herberge der
Gemeinde gemacht hat, wie weiland Gajus (Römer 16, 23), habe ich mir ein
Wort zu Herzen genommen, das er einst seinen Schwestern zurief:
„Freue dich, daß der Herr Unwürdige beruft. Sei ihm ganz zu Diensten und
folge ihm stündlich. Und wirst du mutlos und verzagt, so falle deinem
Heiland zu Füßen und gehe nicht von ihm, er segne dich denn. Die größte
aller Gaben ist ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz. Wem der Herr
diese Gabe schenkt, aus dessen Auge leuchtet der Friede, aus seinem
Angesicht die Freude. Denn sein Herz ist selig in seinem Gott.“
Ein Mann nach dem Herzen Gottes, wie sein Biograph ihn nennt, war
Pfarrer Friedrich Gerber (gestorben 1905). Goldene Äpfel aus silbernen
Schalen wußte er zu bieten. Die silberne Schale war das klangvolle, zu
Herzen dringende Wort, das wie Musik ans Ohr tönte, ob er schriftdeutsch
oder in seinem feinen Berner Dialekt sprach. Die goldenen Äpfel aber
waren Wahrheiten, geschöpft aus der Heiligen Schrift und mit tiefer
Menschenkenntnis auf das einzelne Herz angewandt.
So das klassisch schöne Wort:
„Gebrochen werden tut weh, aber gebrochen sein ist selig.“
So auch in einer Rede bei dem Fest der Evangelischen Gesellschaft die
sinnige Ausführung des Textwortes:
Rede, Herr, denn dein Knecht höret.
„Wir wenden lieber die Worte um und sagen: Höre, Herr; denn dein Knecht
redet. Ein gewisses Recht, so zu sprechen, gibt uns das Wort Gottes
namentlich in den Psalmen, wo es oftmals heißt: Herr, höre mich, wenn
ich zu dir rufe! Aber wer zu Gott reden will, der soll auch auf Gott
hören. Von Natur sind wir tief selbstsüchtige Geschöpfe. Wir huldigen
dem alten Weltsystem, wonach die Erde der Mittelpunkt ist, um den Sonne,
Mond und Sterne kreisen. Wir sind uns selbst der Mittelpunkt. Der große
Gott soll uns mit allen seinen Kräften dienen und unsere Wünsche
erfüllen. Wir sagen nicht: Herr, rede du! Was willst du? Was befiehlst
du? Auch die Menschen sollen sich nach uns richten, nicht wir nach
ihnen. Das ist ein grundfalsches System.
Das kopernikanische Sonnensystem ist auch auf diesem Gebiet das
richtige. Da ist die Sonne, Jesus Christus, der leuchtende Mittelpunkt,
und alle Planeten, groß und klein, drehen sich in fester Ordnung um dies
eine Zentrum. Gott braucht viel Geduld, bis er seine Kinder völlig von
dem alten System in das neue gebracht hat, und sie es in Demut erkennen,
daß sie nur so ein armes Erdelein sind, das immer Nacht hat, wenn die
Sonne es nicht bescheint.“
In Deutschland war einer unserer besten Freunde der Oberstleutnant a. D.
Curt von Knobelsdorfs (gestorben 1904), weit und breit bekannt durch
seine begeisterte Arbeit als Verkündiger des Evangeliums und Vorkämpfer
in der Arbeit des Blauen Kreuzes. Er selbst hatte die Macht der
Trinksitten und der weltlichen Verbindungen als eine gefährliche
Gebundenheit empfunden und mit dem Entschluß, „den ganzen sündigen
Plunder“ dranzugeben, war er zuerst für dreiviertel Jahr in die Stille
der St.-Chrischona-Anstalt und dann in die Reihe der Streiter seines
himmlischen Königs getreten. Sein Zeugnis war klar und schneidig, wie
man es bei Soldaten öfter vernimmt. In einer großen Versammlung rief er
einst aus:
„Viele Male bin ich in meiner militärischen Laufbahn von einer Garnison
in die andere versetzt worden; aber keine Versetzung war so klar und
bestimmt als diejenige, da ich durch Gottes Gnade versetzt wurde von der
Obrigkeit der Finsternis in das Reich seines lieben Sohnes, Jesu
Christi.“
So schrieb er uns auch einst ins Fremdenbuch:
„Einem Mohren ist nur wohl unter Mohren; einem Eskimo unter Eskimos und
einem Wiedergeborenen unter Wiedergeborenen.“
In der letzten Rede, die er in Blankenburg hielt zu einer Zeit, da die
Krankheit ihn schon sehr mitgenommen hatte, sagte er:
„Eines möchte ich betonen, meine Freunde. Wenn ihr nicht ganz dem Herrn
gehört, wenn ihr ein halbiertes Leben geführt habt, und es kommt dann
eine Leidenszeit über euch, dann bricht alles wie ein morscher Bau
zusammen. Aber wenn das Haus auf den Felsen, Jesus, gebaut ist, dann
können die Stürme, als da sind Krankheiten, Not, Schmerz, Angst kommen,
die Wasser können brausen, — das Haus steht dennoch fest.“
Durch Gottes Gnade blieb auch sein Haus fest, als die Fluten des Todes
ihn umrauschten. Kindlich freudig sagte er den Seinen:
„Jesus starb für mich. Das ist so einfach. Mit meinen Sünden habe ich
gar nichts mehr zu tun; die hat der Herr alle in das Meer geworfen.“
Aus dem reichen Schatz, den der wohlbekannte und gesegnete Prediger
Elias Schrenk (gestorben 1913) der Gemeinde Gottes hinterlassen hat,
wähle ich eine Mitteilung, die er uns noch in der Zeit jugendlicher
Kraft machte, noch ehe er seine große Lebensaufgabe auf dem Boden der
Evangelisation begonnen hatte:
„Es geht im christlichen Leben oft so, daß man dem Herrn eines nach dem
anderen darbringt, was man als ihm mißfällig oder das innere Gedeihen
hemmend erkennt, hier einen dürren Ast, dort einen unfruchtbaren Zweig.
Aber das ist ein mühsamer Prozeß, ein gesetzliches Treiben. Nein, etwas
anderes muß geschehen. Der ganze Baum, das ganze sündige Eigenleben, muß
in den Tod Christi gegeben werden, damit das neue Reis eingepfropft und
das neue Leben offenbar werde.“
Und aus dem Munde des alten, erfahrenen Lehrers und Seelsorgers tut es
wohl, das Zeugnis zu vernehmen:
„Das Blut Jesu Christi ist mir köstlich und unentbehrlich, es ist mein
Kleinod für Zeit und Ewigkeit. Und wenn ich seither Strömungen sehe, in
denen Christi Blut zurücktritt, so kommen sie mir vor wie Feuerwerk von
Kindern.“
Meine teure mütterliche Freundin, Freifrau Sophie von Rüdt (gestorben
1898), sagte mir einmal das Wort:
„Die Ruhe des Herzens ist mehr als ein seliges Empfinden der Gnade; sie
ist eine Lebensbedingung für den Christen, der heilig wandeln und
innerlich zunehmen will. Die Seel’ muß unbewegend sein, soll Gott sein
Bild drin spiegeln rein, sagt G. Tersteegen. Wer sich aufregen läßt, ist
stets in Gefahr. Er ist wie eine Burg ohne Mauern, für alle feindlichen
Einflüsse offen. Unversehens dringt Sünde hinein. Wir haben eine feste
Stadt, deren Mauern und Wehre sind heil (Jes. 26, 1). Da müssen wir
drinnen bleiben, dann sind wir geborgen. Das Äußere, das uns aufregen
will, dürfen wir dem Herrn sagen. Er hat die Welt überwunden.“
Wenn ich an ihre mir in inniger Freundschaft verbundene Tochter,
Caroline von Rüdt (gestorben 1906), denke, so fällt mir oft ein Wort
ein, das wir einmal zusammen lasen und das mir in Wahrheit ein
Spiegelbild ihres selbstlosen und demütigen Wesens geworden ist. Es ist
in ein Gleichnis gekleidet und kann auch anderen nützen.
„Eine vollkommene Glasscheibe ist ein Stück Glas, so rein, so
kristallhell, daß es — unsichtbar wird. Die Bestimmung der Glasscheibe
ist, zu verschwinden, sich so sehr vergessen zu lasten, daß man nicht
bei ihr stehen bleibt, sondern durch sie Hindurchblicken kann auf das,
was sich jenseits befindet… Je mehr sich ein Mensch Gott nähert, desto
unsichtbarer wird er, und je mehr er sich von ihm entfernt, desto mehr
sucht er aufzufallen. Es ist möglich, durch seine eigene Persönlichkeit
das Licht zu verdecken, statt es durchscheinen zu lasten. Wie viele
prächtig gemalte Scheiben sieht man da und dort, auf denen allerlei
bunte Gestalten von kleinen Heiligen das klare Licht des Himmels
verhüllen. Wie viele Christen trifft man, die den Blick auf sich ziehen,
anstatt völlig zu verschwinden, damit nur Jesus in ihnen gesehen und
gepriesen werde… Für Gott da sein, ohne für sich eine Stelle einnehmen
zu wollen, das ist die große Aufgabe, die nur der Heilige Geist in uns
lösen kann. Und er braucht dazu die Schule des Feuers.“
Pastor Fritz Fliedner in Madrid (gestorben 1901), der eifrige Knecht
Jesu Christi unter den Spaniern, sandte uns einst auf einer Postkarte in
zierlicher, gut leserlicher Schrift ein köstliches Gedicht über die
„verwandtschaftliche Verbundenheit der Gläubigen“. Von den fünf
Strophen, die auf jener wertvollen Karte Platz fanden, stehen hier
folgende:
„Ein neues Liebesleben keimt schon hier,\
Das Ödgefilde blüht wie eine Lilie.\
Du einst, Herr, was getrennt; es jauchzt in dir\
Im fremden Land die selige Familie.\
Nicht Fremde mehr, nicht einsam, unbekannt,\
Nein, Brüder nun und Schwestern, eng verwandt.
Ihr Vater: Gott, der ew’gen Liebe Quell.\
Ihr Bruder: Christus, Heiland und Erlöser.\
Von Gott der Born der Liebe sprudelt hell,\
In Christo wird er inniger und größer:\
Denn an dem Kreuz er sich zum Opfer beut,\
Zu einen Gottes Kinder, die zerstreut.“
Und noch aus viel weiterer Ferne flogen uns regelmäßig Brieftauben zu
aus der Hand des auch deutschen Christen wohlbekannten Professors N.
Hofmeyr (gestorben 1909) von Stellenbosch in der Kapkolonie. Die Briefe
dieses Freundes hatten einen apostolischen Klang. Auch er sprach viel
und gern von der Gemeinschaft der Heiligen und trug die Glieder des
Leibes Christi aus betendem Herzen. So schrieb er einmal:
„Wenn ich für euch bete, ist es mir, als sei ich euch ganz nahe, im
gleichen Hause. Ihr seid nur in einem anderen Zimmer, wo ich euch nicht
sehen kann. Wir sind alle gleich nahe dem Vaterherzen.“
Und noch ein ernstes Wort habe ich mir gemerkt:
„Vergessen wir nie, daß, solange wir im Leibe sind, die Gefahr besteht,
den Heiligen Geist zu betrüben und seiner göttlichen Leitung verlustig
zu gehen. Auf unsere vergangenen Erfahrungen dürfen wir uns nicht
stützen. Nur die Menschen sind sicher, die sich selbst mißtrauen und mit
geschmeidigem, gehorsamem Willen verlangen, von dem Geiste Gottes
geleitet zu werden.“
Als Erinnerung an einen Freund und mehrjährigen Mitarbeiter, Pfarrer
Johannes Glinz (gestorben 1884), stehe hier ein Wort Spittas, das er
überaus liebte und mir einst niederschrieb:
„Wann bin ich reich? Wann arm ich vor dir stehe,\
Ja, als der ärmste Bettler zu dir flehe\
Und nicht von deines Hauses Türe weich’:\
Dann bin ich reich.
O Wundergab’, all meiner Leere Fülle!\
O Wundergnad’, all meiner Blöße Hülle!\
Dich preisen Herz und Lippen früh und spat,\
O Wundergnad’!“
Sein Kollege, der geistvolle und originelle Schullehrer J. J. Gollmer
(gestorben 1911), hat uns viele ernste, praktische Gedanken
hinterlassen:
„Der vernünftige Gottesdienst, den Gott von uns verlangt, ist das Opfer
unseres ganzen Lebens, nicht mehr und nicht weniger (Röm. 12,1). Daß es
da steht: begebet eure Leiber zum Opfer, zeigt uns, wie außerordentlich
praktisch es ist. Wer Geist und Seele dem Herrn darbringt, der wird und
muß es mit dem Leibe bekunden.“
„Im Schlaf und auf dem Sofa ist keiner zum inneren Leben gekommen.“
„Zu einem gesunden Glaubensleben gehört auch Treue, Ordnung und Fleiß im
Äußerlichen.“
Unsere tätige und treue Freundin, Fräulein Johanna Mez (gestorben 1911),
die in ihrer Vaterstadt Freiburg ein schönes Vereinshaus erbaut hat,
sagte, als man ihr vorhielt, zu luxuriös und kostspielig gebaut zu
haben:
„Wenn ich für mich selbst ein Haus bauen wollte, würde sich kein Mensch
wundern, wenn ich es geschmackvoll machen und es mich viel kosten ließe.
Nun ich das Haus für den Heiland und seine Sache baue, kann ja erst
recht nichts zu schön und zu gut sein. Für ihn ist das Beste noch zu
gering.“
Und eine andere badische Freundin, Fräulein Marie Römmele (gestorben
1902), mit der ich jahrelang zusammen in der Jungfrauensache gedient
habe, pflegte zu sagen:
„Wer Seelen gewinnt, ist weise (Spr. 11, 30, Min.-Bibel). Es braucht
göttliche Weisheit dazu; die wollen wir uns fleißig erbitten.“
„Es gibt in der Arbeit an den Seelen keine hoffnungslosen Fälle. Die
schlimmsten Elemente können noch gewonnen werden. Das Blut des Lammes
kann die Beflecktesten rein machen. Diese Überzeugung gibt Mut.“
Von zwei Großen im Reiche Gottes, die wir kennenzulernen das Vorrecht
hatten, möchte ich hier gehaltvolle Worte einreihen.
Georg Müller von Bristol (gestorben 1898), der bekannte Waisenvater und
Prediger, bezeugte einst in seiner stillen, nüchternen Redeweise:
„In den sechsundfünfzig Jahren, da ich Jesum kenne, bin ich nie in ihm
getäuscht worden. Wenn ich mit aller meiner Macht nach der Freude der
Welt getrachtet hätte, so hätte ich nicht den tausendsten Teil der
Freude gefunden, die mir der Glaube an Jesum Christum gebracht hat. Sein
Friede ist wie ein Strom. Ein Strom wird in seinem Lauf bis zur Mündung
immer tiefer, breiter, voller.“
Und bei einem späteren Anlaß sagte er in einer Ansprache an die
Zöglinge:
„Die Geschichte Ihres Mutterhauses soll Sie beständig daran mahnen, auch
bei geringen Anfängen mutig auszuharren und treu weiter zu arbeiten.
Dazu gehört freilich ein demütiger Sinn. Den Demütigen gibt Gott Gnade.
Wenn einer viel von sich selbst und seinen natürlichen Gaben, seinem
Verstand und seinen Kräften hält, so kann der Herr ihn nicht brauchen.
Aber wenn ein Jünger in der Gesinnung steht, daß er es für eine Gnade
achtet, überhaupt nur einen geringen Dienst im Hause Gottes tun zu
dürfen, so wird der Herr ihm von seiner Kraft und Weisheit mitteilen, so
viel er braucht.
J. Hudson Taylor (gestorben 1905), der Gründer und langjährige Leiter
der China-Inland-Mission, offenbarte uns das Geheimnis seines Glaubens-
und Liebeslebens, als er einst betonte:
„Es ist für einen begnadigten und berufenen Knecht Jesu Christi von der
größten Wichtigkeit, daß er in dem ihm von Gott gewiesenen Weg des
Gehorsams und des Dienstes wandle. Es gilt bis ins einzelnste genau zu
gehorchen. Prüfet, welches da sei der gute, der wohlgefällige und der
vollkommene Gotteswille. Sind wir auf den göttlichen Linien, dann dürfen
wir getrost und sehr freudig sein.“
Und lieblich hat er erzählt:
„Wenn ich zurückblicke, kommt es mir vor, Gott habe, als er das Werk der
China-Inlandmission ins Leben rufen wollte, nach dem kleinsten,
geringsten und unscheinbarsten Mann gesucht, dem er den Auftrag geben
konnte, damit es vor aller Welt offenbar würde, daß das Werk nicht von
Menschen, sondern von Gott sei, und er alle Ehre habe.“
In meinen Notizen finde ich noch etliche schöne Worte von Knechten Jesu,
die mir zum Segen gesetzt worden sind. Gern füge ich ihre Namen und
Worte diesem Erinnerungsblatt bei.
Pfarrer J. J. Riggenbach (gestorben 1908), mit dem wir namentlich in den
siebziger Jahren herzliche Gemeinschaft pflegten, sagte einst:
„Wenn ein Mensch das Heil, das Jesus uns erworben hat, im Glauben
annimmt, so ist damit gleichsam ein Strich unter die ganze Rechnung
seines bisherigen Lebens gemacht. Jesu Kreuz bedeckt seine Schuld — Jesu
Blut tilgt seine Sünden.
Aber nun gilt es, in dem neugeschenkten Leben sich von der Gnade
züchtigen, d.h. erziehen, reinigen, bewahren und vollenden zu lassen.
Und da ist unter uns so viel Defektes, träges und fleischliches Wesen.
Darum auch so wenig Kraft und Sieg.“
Professor Hermann Krueger (gestorben 1900), eine Zeitlang Missionar in
Madagaskar und später Lehrer an dem Missionshaus von Paris, verbrachte
mehrere Monate seiner langen letzten Leidenszeit als unser lieber Gast
zu St. Chrischona. Kurz vor seinem Ende schrieb er ein wunderschönes
Lied von der Gnade, worin es heißt:
Wenn zu herb der Schmerz\
Und schier bricht das Herz;\
Wenn im Tal es düst’rer dunkelt,\
Schau ich auf: trotz allem funkelt\
Mir der Gnade Schein: —\
Gnade muß sein!
Also Gnad’ allein,\
Gnade muß es sein:\
Gnad’ zum Leben, Gnad’ zum Sterben,\
Gnad’, den Himmel zu ererben.\
Nichts als Gnad’ allein:\
Gnade muß sein.
Pfarrer Emanuel Preiswerk (gestorben 1904) rief einst seiner
Waisenhausgemeinde ein Wort zu, das allen Kämpfenden und Angefochtenen
gilt:
„Nur nie den Mut verlieren! Nur das Vertrauen nicht weggeworfen! Das ist
eine Lebensfrage für jedes Kind Gottes.“
Und zu einer wichtigen eschatologischen Predigt über 1. Thess. 4 machte
er den ernsten, praktischen Schluß:
„Wünschest du, wenn du jenen großen Tag erleben solltest, den Herrn
freudig zu empfangen? Hoffst du bei seinem herrlichen Erscheinen
hingerückt zu werden in den Wolken, dem Herrn entgegen in der Luft? So
prüfe dich: Ist er jetzt schon in Wahrheit dein? Ist er jetzt schon ein
Magnet für dich, daß es dich zu ihm hinzieht? Jene Stunde wird offenbar
machen, was du hier schon bist.“
Eines jener klaren Glaubenszeugnisse, durch die Professor Conrad von
Orelli (gestorben 1912) uns so lieb geworden ist, möge hier eine Stelle
finden. Bei der Beurteilung einer modernen, seichten Versöhnungslehre
sagte er:
„Mit einem solchen Christus hätte Luther nichts anfangen können, weil er
zu tief von dem Gefühl der Verdammnis, die des Sünders Teil ist,
durchdrungen war. Daß wir selber den Kreuzestod oder die Hölle verdient
hätten, so meinen die Modernen, das seien »abenteuerliche Übertreibungen
des menschlichen Schuldgefühls«. Uns ist dieser Optimismus
unbegreiflich. Wen träfe dieser Vorwurf der Übertreibung nach Matth. 5.
22? Hier liegt die Wurzel der Differenz. Läßt sich Sünde und Schuld so
leicht beseitigen, dann mag eine Versöhnungslehre wie die vorgeschlagene
genügen.
Was aber einem Luther sein Gewissen bezeugte, bezeugt es heute noch
ungezählten armen Sündern, die die Heiligkeit Gottes und seiner Gebote
zu gewaltig empfinden, als daß sie einen anderen Erlöser für den ihrigen
anerkennen könnten, als den, der an ihrer Stelle den Fluch des Gesetzes
getragen und den Tod gekostet hat.“
Ein Name noch soll hier stehen, der Name eines ehrwürdigen Greises, der
nicht nur ein Freund aller Gotteskinder, sondern auch uns ein wahrer
Freund war, Dr. Friedrich Baedeker (gestorben 1906). Bei seinem letzten
Besuch zu St. Chrischona, nicht lange vor seinem Heimgang, hat er in
körperlicher Schwachheit, aber voll jugendlichen Feuers uns erzählt, wie
es gekommen, daß ihm so viele Türen geöffnet worden seien, auch in ferne
Länder, auch in sibirische Gefängnisse, auch in die Herzen der Menschen.
Es sei lediglich die Erfüllung gewesen von Gottes Aufforderung und
Gottes Verheißung:
Tue deinen Mund weit auf; laß mich ihn füllen.
Dies Wort hinterließ er uns als sein Vermächtnis und als eine Wegleitung
für zukünftige Zeiten.
Daheim, daheim sind sie alle, die teuren Weggenossen. mit denen wir Hand
in Hand ein Weilchen die Pilgerstraße gezogen sind. Sie wandelten im
Glauben dem großen Führer nach. In ihrer Hand hielten sie den Stab, von
dem nachstehendes Gedicht so lieblich spricht, daß ich gern damit diese
goldene Ährenlese beschließe.
Der Stab des Glaubens.
Der Glaube ist mein Wanderstab,\
Geh damit meiner Wege,\
Den Berg hinauf, das Tal hinab,\
Bis ich zur Ruh’ mich lege.
Der Glaube ist mein Heroldsstab,\
Damit verkünd’ ich allen\
Die froh’ste Botschaft, die ich hab’:\
Des Vaters Wohlgefallen.
Der Glaube ist mein Königsstab,\
Vor dem sich Engel neigen,\
Und Gott, der Herr, sich läßt herab\
Und schenkt sich mir zu eigen.
Der Glaube ist mein Bettelstab\
Vor meines Gottes Throne.\
Ich bettle mir als Gnadengab’\
Die Überwinderkrone!
Die lichteste Spur
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Wenn ich meine Erinnerungen vornehmlich gruppiert habe um die Namen
gottseliger Menschen, denen meine dankbare Liebe lebenslang gehört, so
kann ich nicht anders als noch den einen Namen hinzufügen, der mir der
allerteuerste ist, den Namen des Mannes, durch den Gott mein äußeres
Leben am reichsten beglückt und mein inneres Leben am tiefsten gesegnet
hat, den meines geliebten Gatten, Carl Heinrich Rappard. Viel von ihm zu
erzählen brauche ich ja nicht, habe ich doch das große Vorrecht gehabt,
bald nach seinem Heimgang seinen ganzen Lauf an meinem Geistesauge
vorbeigehen zu lassen und in dem Lebensbilde zu beschreiben, auf das
hier schon mehrmals hingewiesen worden ist. Es soll daher dieser
Abschnitt nur wenig Raum einnehmen, wie der Diamant. der den ganzen Ring
zusammenfaßt und beschließt.
In dem eben erwähnten Buche sind diejenigen genannt, die durch meinen
Eintritt in die Familie Rappard auch mein Leben bereichert haben: der
edle, großangelegte Vater, den ich selbst nicht gekannt, und die
geliebte Mutter, in deren nächster Nähe ich so viele Jahre verbracht
habe. Welch ein Vorbild haben wir in diesem Elternpaar vor Augen gehabt!
Es war in ihnen beiden etwas von des Eisens Pflanze, etwas Festes,
Starkes, das liebte, ohne zu verzärteln, das im Unsichtbaren lebte, ohne
je schwärmerisch oder unnüchtern zu werden. Hatte meine Mutter, Maria
Gobat, sich das Marienwort als Wahlspruch erkoren: Siehe, ich bin des
Herrn Magd! so hielt meine Schwiegermutter, Maria Rappard. sich an den
Mariengruß: Selig bist du, die du geglaubt hast! Dieses Wort ist auch
als Zusammenfassung ihres Lebensinhalts auf ihren Grabstein gemeißelt
worden.
Aus dem großen Geschwisterkreis sind seit dem Heimgang des teuern
ältesten Bruders weitere Glieder von hinnen gezogen. Die geliebte
Schwester L., Frau Direktor Arnold, an die jene zarten Jugendbriefe
Heinrichs gerichtet waren, ist die erste gewesen, ihm nachzufolgen. Der
ehrwürdige Schwager, Johannes Hermann, ist als eine volle, reife Ähre
eingeheimst worden. Wenn ich von ihm ein Wort hätte aufbewahren und
mitteilen sollen, hätte es ein Gebetswort sein müssen. Denn er war ein
Beter wie wenige. Wenn er in den großen Festversammlungen auf unserem
Berge seine Stimme in bewegten Worten zum Gebet erhob, so fühlte man,
daß da einer mit Gott rede, der es gewohnt war, an der goldenen Tür des
Tempels zu stehen und Gaben zu empfangen.
Und auch die jüngste Schwester, Charlotte, ist nicht mehr hienieden.
Sie, die der Mutter Lebensabend erhellte und durch ihre Anmut und ihren
angeborenen Schönheitssinn den ganzen Familienkreis erfreute und ihn
durch das Band der Liebe umschlungen hielt, sie ist wie im Sturm aus
unserer Mitte hinweggerückt worden, um auf ewig daheim zu sein bei dem
Herrn.
Noch einige der im Lebensbilde erwähnten Verwandten darf ich zu denen
rechnen, die in mein Leben Segensspuren hineingetragen haben. Mit
bewegtem Herzen stand ich vor kurzem im stillen, gesegneten Dorfe
Neukirchen bei Mörs am Niederrhein, an den Gräbern des alten Pastors
»Ohm Brain“ und anderer Familienglieder, treuer Knechte und Mägde Jesu
Christi, die alle im Glauben gelebt, gearbeitet und durch den Glauben
selig überwunden haben. Ich nenne nur den lieben Vetter, Pastor Adolf
Haarbeck, den ältesten der sieben Söhne aus dem frommen
Bürgermeisterhause von Neukirchen, ein Mann, der durch sein inniges
Glaubensleben, verbunden mit dem Wort seines Zeugnisses, vielen ein
Wegweiser zu Christo geworden ist.
Doch ich wollte noch einige Züge mitteilen zur Vervollständigung des
Bildes dessen, dem dieses Kapitel gewidmet ist. Im „Volksboten“ aus
Basel war mehrere Jahre nach Rappards Heimgang eine Notiz zu lesen, die
es wert ist, festgehalten zu werden. Denn sie ist wie eine treffliche
Momentaufnahme und gibt in wenigen Strichen ein so lebendiges Porträt,
daß alle, die das Original kannten, sich daran ergötzen müssen. Es war
im genannten Blatt gesprochen worden von dem Niederreißen alter Gebäude,
u. a. eines an gangbarer Stelle der Stadt Basel gelegenen Gasthauses mit
Stallung. Das veranlaßte einen Leser, dem Herrn Redakteur folgendes
einzusenden:
„Was du von dem Stücklein Landleben schreibst, das sich vor jener
Gaststallung abspielte, rief mir einen Anblick in Erinnerung, der mir
vor einigen Jahren dort um die volkreiche Mittagsstunde zuteil wurde und
der mir einen tiefen Eindruck machte. Mit zwei, vielleicht auch nur
einem Schimmel bespannt, stand ein nettes offenes Bernerwägelein zur
Abfahrt bereit. Der Stallknecht hielt die Pferde still und überreichte
dem eben herantretenden Besitzer des Gefährts ehrfurchtsvoll die
Peitsche. Er nahm sie freundlich, drückte dem Knecht die übliche Gabe in
die Hand und bestieg seinen Sitz. Es war eine hohe, ehrwürdige Gestalt,
mit weißem Haar und Bart, mit klarem, friedevollem Antlitz, eine
imponierende Erscheinung. Er klopfte über den Pferden, sie zogen an, und
mit vollkommen sicherer Hand leitete er das Gefährt mitten durch den
Strom von Menschen und Wagen der inneren Stadt zu. Man mußte sich des
alten Herrn freuen. Es schien, der so ruhig seine Rosse lenkt, der kann
wohl auch noch Größeres leiten. Dessen Augen so klar und hell ins Gewirr
schauen, der kann tiefe Blicke tun ins Seelenleben der Menschen und in
die göttlichen Geheimnisse.
Wer war der Mann? Es war Herr Inspektor Rappard von St. Chrischona.
Jenes Gasthaus war jahrelang sein Absteigequartier, wenn er von seiner
schönen Höhe Geschäfte halber nach Basel kam, gewiß der edelsten Gäste
einer, dessen Segensspuren in Ewigkeit bleiben, wenn auch sein
pied-à-terre vom Erdboden nun verschwunden ist.“
Eine gar liebliche Erzählung verdanke ich einem badischen Geistlichen,
dessen Oheim ein früherer Zögling unseres Hauses, hernach amerikanischer
Pastor und zuletzt Arbeiter der inneren Mission in der Heimat war.
Etliche Jahre nach meines lieben Mannes Heimgang kam der auch schon
alternde Bruder aufs Sterbebett. Die Schwachheit des Leibes benützte der
böse Feind, um das Gemüt des Kranken zu verdüstern und ihm Zweifel
einzuflößen über Gott und die Wahrheit seines Wortes. Er war tief
unglücklich und fand nirgends Trost. Da erinnerte er sich eines alten
Ausspruchs seines alten Inspektors und dann noch eines und noch
mehrerer. Die waren so klar und bestimmt, so unmittelbar aus froher
Überzeugung kommend, daß es der angefochtenen Seele ungemein wohl tat.
„Wenn Gottes Wort nicht wahr wäre,“ sagte der Kranke, „so müßte ja der
alte Rappard gelogen haben. Nein, gelogen hat der nicht.“ Und an diesem
schwachen Faden zog der Versinkende das starke Rettungstau wieder an
sich und konnte seine Füße aufs neue fest stellen auf den Fels der
Ewigkeit. In vollem Glauben ist er bald darauf entschlafen.
Und noch eine Erinnerung hat ein lieber Freund aufbewahrt. Bei einer
Gebetsvereinigung in seinem Hause wurde vor etwa zwanzig Jahren der eben
anwesende Inspektor Rappard aufgefordert, ein Wort zu sprechen. Er tat
es mit Anlehnung an die Schlußverse des Evangeliums Matthäi und hob die
vier „alle“ hervor, die sich in diesem Abschnitt befinden. Jesus sprach:
Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum so gehet hin
und lehret alle Völker. Machet sie zu Jüngern … und lehret sie halten
alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage
bis an der Welt Ende. Jedes dieser „alle“ weckte einen ganzen
Gedankengang. Der Hausherr selbst wurde reichlich erquickt und behielt
die Worte in seinem Herzen.
Viele Jahre später teilte er sie in einer Missionsstunde mit und durfte
auch da dieselbe gesegnete Wirkung erfahren. Er erzählte diese
Einzelheiten zum Beleg dafür, wie unsere Worte noch über das Grab hinaus
Folgen haben können.
Was Carl Heinrich Rappard für die Gemeinde des Herrn und insonderheit
für das ihm anvertraute Werk der Pilgermission gewesen ist, das liegt
vor aller Augen. Was er für die Seinen war, läßt sich in der
Öffentlichkeit nicht erzählen. Nur auf einige Punkte möchte ich
aufmerksam machen, in denen er in besonderer Weise mein Lehrer und
Seelsorger gewesen ist. Beim Rückblick auf meine Lebensführung habe ich
ganz aufs neue erkannt, wieviel ich ihm zu danken habe. Ich meine, diese
Winke können auch anderen von Nutzen sein.
Das Größte, was ich von ihm gelernt habe oder doch lernen konnte, war
sein unerschütterlicher, im praktischen Leben sich offenbarender Glaube.
Sein Gott und seines Gottes Wort war ihm das Allergewisseste und
Festeste in der ganzen Welt. Nie, solange ich ihn gekannt habe, hat ein
Zweifel den Himmel seiner Seele getrübt. Damit ist nicht gesagt, daß
nicht mancherlei andere Stürme von außen und innen diese starke Natur in
Erregung gebracht und ihr gewaltige Kämpfe verursacht hätten. Es ist
auch nicht ohne Niederlagen gegangen. Aber durch alle Wolken hindurch
behielt er den leuchtenden Polarstern immer in Sicht. Nach ihm richtete
er seinen Lauf, und der Sturm trieb das Schifflein nur um so sicherer
dem Hafen zu.
Zart und liebreich, manchmal auch derb und ernst, hat er mich darauf
aufmerksam gemacht, welch eine Kluft oft besteht zwischen unserem
Gefühlsleben und unserem tatsächlichen Besitz, wie man mit Rührung
Glaubenslieder singen und dichten und doch im Augenblick der Not fast
verzagen könne.
Gern stellte er sich etwa eine Szene aus der Wüstenwanderung Israels vor
und malte sich aus, wie es hätte gehen können und sollen. So schilderte
er z. B. das Erlebnis von Mara (2. Mose 15, 22-26).
Das Volk war drei Tage lang dürstend durch den heißen Sand gewandert. Da
kamen sie an ein Wasser und wollten sich daran erlaben. Aber, siehe da!
es war bitter und ungenießbar. Nun wußten sie nichts anderes zu tun, als
zu murren. Wie schön wäre es gewesen, wenn da ein gläubiger Israelit
seine Familie versammelt und ermahnt hätte: „Komm, liebes Weib, kommt,
meine Kinder. Laßt uns nicht murren und klagen, sondern harren und
sehen, wie Gott uns aus dieser Not retten wird. Denn daß er uns erretten
wird, ist doch ohne allen Zweifel.“ Wie hätte solch ein Benehmen den
großen Gott erfreut und geehrt!
Das zweite, was ich meinem lieben Mann zu verdanken habe, ist die
Gewöhnung, mit einer Pflichterfüllung nicht zu warten, bis man dazu
aufgelegt sei oder besondere Freudigkeit empfinde. Dies muß in der Tat
mit Ernst gelernt werden. Wenn uns Gott eine Aufgabe stellt, ob sie uns
noch so schwer und unangenehm erscheine, so muß sie gelöst werden.
Zaudern und verschieben ist vom Übel. Der Ausdruck „zu etwas aufgelegt
sein“ wollte er im Vokabularium der Diener Christi nicht aufkommen
lassen. Nicht was wir gern tun ist maßgebend, sondern was Gott will, daß
wir tun. Was wir im Gehorsam gegen Gott und die von Gott über uns
gesetzten menschlichen Ordnungen tun, wird uns immer die Freude seines
Wohlgefallens einbringen. Eine andere Freudigkeit braucht es nicht. Daß
er mit uns und seine Kraft in unserer Schwachheit mächtig ist, sei uns
genug.
Das Lutherwort: Es gibt nur ein Buch: die Bibel, und in dem Buche nur
eine Person: Jesus Christus, wurde von meinem lieben Mann oft angeführt.
Um den Herrn Jesus Christus drehte sich sein ganzes Leben, Denken und
Tun. Das Lamm, das erwürget ist, war nicht nur der Grundton seiner
Predigt, sondern auch das Zentrum seines Wandels im Alltagsleben. „Ich
habe Ihn sehr lieb,“ schrieb er so kindlich bei Anlaß seines siebzigsten
Geburtstags in einem Rundschreiben an die Brüder. „Herzlich lieb hab ich
dich, o Herr!“ war nicht nur eines seiner Lieblingslieder, sondern ein
oft wiederkehrender Ausruf in seinen Gebeten. Er wußte es wohl, daß
alles, was er war und hatte, ihm zufloß von dem Einen, in dem die ganze
Fülle der Gottheit wohnet leibhaftig.
Endlich war es ihm ein großes Anliegen, daß in der Gemeinschaft der
Christen untereinander, besonders in der so innigen Gemeinschaft der
Ehe, das seelische Wesen nicht vorherrsche, sondern die Verbindung immer
mehr im Geiste, in Christo, sei. Wenn ich ihm das schon früher gedankt
habe, so doch noch viel mehr nach seinem Heimgang. Da fühlte und erfuhr
ich es, daß der leibliche Tod nicht trennen kann, was in dem Herrn
verbunden ist. Die alte Inschrift darf gelten:
Amavimus. Amamus. Amabimus.
Das Wort der Württembergischen Trau-Agende, das den Ehegatten ans Herz
legt, sie möchten beide darauf bedacht sein, wie eines das andere mit
sich in den Himmel bringe, war ganz nach seinem Sinn. Das Erdenleben ist
ja nur Zubereitungsschule und Pilgrimschaft. Das Ziel, die Heimat, ist
droben bei dem Herrn. Danach soll sich der Wandel richten.
Das Gefühl der Fremdlingschaft auf Erden wurde bei ihm immer stärker.
Bei aller Arbeitslust und kindlichen Fröhlichkeit, die er bis zuletzt
bewahrte, hatte er doch ein stetes Heimweh. Ich wurde etwa einmal an das
schöne Dichterwort gemahnt:
Auf hohen Bergen liegt ein ew’ger Schnee;\
Auf hohen Seelen liegt ein stetes Weh.
Nicht ein peinliches Weh war es, sondern ein dürstendes Verlangen nach
dem Vollkommenen, wie es David schon vor Jahrtausenden empfand, als er
rief: Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit; ich will satt
werden, wenn ich erwache nach deinem Bilde (Psalm 17, 15).
Und als dann am 21. September 1909 so schnell und unvermutet die Stunde
kam, da der vielgeliebte Weggefährte von meiner Seite hinweggerufen
wurde, da konnte ich in all dem bitteren Schmerz nicht anders als mich
mit ihm freuen:
Dein König hat dich hoch geehrt,\
Du treuer, tapf’rer Mann!\
Er hat die Bitte dir gewährt:\
Du durftest mit der Hand am Schwert\
Und mit der Rüstung an\
Dich legen hin zu deiner letzten Ruh’.\
Und seine Kreuzesfahne deckt dich zu.\
Ja, unter dem Banner des Kreuzes hat er gekämpft und gesiegt, wie er
auch unter dem Kreuz einst Frieden fand. Er hat überwunden durch des
Lammes Blut. Darauf allein hat er gebaut im Leben und im Tod.
Ein großer, starker Trost ward mir zuteil in Stunden tiefsten Wehs durch
die Verbindung zweier Worte der Heiligen Schrift, und ich gebe diese
Botschaft gern an andere Leidtragende weiter. Das erste Wort (Phil. 1,
23) sagt uns, daß das Abscheiden der Gläubigen gleichbedeutend sei mit
dem Bei-Christo-sein, wie auch der Heiland dem sterbenden Schächer
sagte: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein. So wenig wir über den
Zustand nach dem Tode wissen, so allumfassend ist dieser eine Begriff:
Bei Christo.
Das zweite Wort ist jene Abschiedsverheißung des Herrn: Siehe, ich bin
bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt (Matth. 28, 20). Unsere
selig Entschlafenen sind bei Christo. Christus aber ist bei uns. Das
ergibt eine wunderbare Verbindung, nicht seelisch und sentimental, nicht
spiritistisch und abgöttisch, sondern eine wahre, reale Gemeinschaft des
Geistes in ihm, der uns erlöst hat und bei dem wir uns einst im neuen
Leibe der Verklärung wiederfinden werden in Ewigkeit.
Bei Christo.\
O suchet nicht in weiter Fern’,\
Die da entschlafen sind im Herrn!\
Sein teures Wort bezeugt’s uns klar:\
Sie sind bei Christo immerdar.
Bei Christo! Nicht in fremdem Raum,\
Nicht als in schattenhaftem Traum:\
Bei Christo, der zu jeder Frist,\
Wie er’s gesagt, bei uns ja ist.
Bei Christo hier, bei Christo dort:\
O seliger Begegnungsort!\
So sind wir nicht geschieden weit:\
Sie sind nur auf der andern Seit’.
Sie gingen leis im Dämmergrau’n,\
Des Königs Angesicht zu schau’n:\
Und wir im heißen Trennungsschmerz,\
Wir flohen näher an sein Herz.
O Jesu, dir sei Dank gebracht,\
Daß du zerbrachst des Todes Macht,\
Und daß die Deinen, dort und hier\
Auf ewig Eines sind in dir!
Das ist die lichteste Spur, die durch die Fluten des Todes
hinüberleuchtet zu der Herrlichkeit des neuen Jerusalems.
Du aber bleibest
================
Alles, alles Irdische vergehet:\
Blume welkt, der Wind darüber wehet.\
Freude wechselt über Nacht mit Leiden;\
Auch vom Liebsten muß die Liebe scheiden:\
Du aber bleibest!
Du, mein Heiland, Fels der Ewigkeiten,\
Du stehst unbewegt im Strom der Zeiten.\
Wer in dir die Heimat hat gefunden,\
Rühmt es, wenn ihm alles sonst entschwunden:\
Du aber bleibest!
Du! Was ist alles eingeschlossen in diesem einen kurzen Wort, wenn es
von sündigen Lippen emportönt zu dem, der da sitzt auf dem Throne der
Majestät in dem Himmel, zu dem, der aber auch durch seinen Geist ganz
nahe ist, näher als irgend etwas Geschaffenes es je sein könnte!
Als Gott einst dem erwählten Volke sein Wesen kund tun wollte, da nannte
er sich mit dem wundersamen Namen: Ich bin. Er, der ewig Seiende, gibt
sich zu erkennen als der Eine, in dem alles Leben wohnt.
Ich bin die Fülle für allen euren Mangel. Ich bin der Retter aus aller
eurer Sünde. Ich bin der Heiland für alle eure Gebrechen, der Arzt für
alle eure Krankheit, der Tröster in aller eurer Traurigkeit. Ich bin die
Quelle, die allen euren Durst löscht, das Manna, das allen euren Hunger
stillt. Ich bin das Leben in allem eurem Tod. Ich, Ich bin es!
Und nun tönt es zurück von seinem erlösten Volk auf Erden: Ja, du, du
bist es! Es tönt oft in Jubellauten: Herzlich lieb habe ich dich, Herr,
meine Stärke, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort
und Horn meines Heils und mein Schutz (Ps. 18, 12). Du bist mein Ruhm,
mein Schild, mein König, mein Psalm, so klingt es immer wieder durch die
Lobgesänge Israels.
Es tönt oft auch in Not und Todeswehen: Wenn ich nur dich habe, so frage
ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele
verschmachtet, so bist du doch allezeit meines Herzens Trost und mein
Teil (Psalm 73, 25. 26). Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir (Psalm 23, 4).
Du, den meine Seele liebt, so nennt Sulamit ihren Freund (Hohel. 1, 7).
Sei du mir nur nicht schrecklich! so fleht der Prophet in seiner Angst
(Jer. 17, 17). Wenn du mein Herz tröstest, so laufe ich auf dem Weg
deiner Gebote (Psalm 119, 32), so ermuntert sich der Pilgrim auf dem
schmalen Pfad. Du, immer nur du!
Du, du bist meine Zuversicht alleine,\
Sonst weiß ich keine.
Du bist das Unentbehrlichste hienieden,\
Nur du, nur du!
Auf diesen Ton möchte ich meine „Erinnerungen“ abschließen.
Über die Gegenwart genügen wenige Worte.
Der geliebte Vater ist von uns geschieden, aber der Herr ist geblieben.
Der Meister hat sein Werk nicht liegen gelassen. Er ist unsere Hilfe,
unsere Zuversicht in der Not. Seine Knechte hält er in seiner Hand, und
er leitet sie mit seiner Augen Licht. Er gibt zur Aufgabe die nötige
Gabe und zur Last die nötige Tragkraft.
Das Heimweh freilich ist immer da. Das gehört wohl mit zu dem Lösen der
Wurzeln, ehe der Baum versetzt wird.
In meinem eigenen Geschwisterkreis sind große Lücken entstanden. Früh
sind meine drei teuren Brüder vom Herrn abberufen worden. Meine drei
geliebten Schwestern sind Witwen wie ich. Ihre Gatten, die Missionare
Johannes Zeller von Jerusalem (gestorben 1902), Theodor Wolters von
Jaffa (gestorben 1910) und der teure Mitarbeiter im Werk der
Pilgermission, Buchhändler Paul Kober von Basel (gestorben 1898), sind
nicht mehr unter uns. Ich mußte ihre Namen noch nennen; denn die
Gemeinschaft mit ihnen gehörte zum Reichtum meines Lebens. Je lichter
unsere Reihen werden hienieden, desto größer wird die Zahl derer, die
auf uns warten im Paradies.
Ich persönlich will von Einsamkeit nicht reden; denn die geliebten
Kinder und Enkel sorgen in treuer Liebe dafür, daß die letzte Strecke
des Weges freundlich belebt und verschönt sei. Einige wohnen in meiner
unmittelbaren Nähe und dienen am Werke, das ihrem Vater so teuer war.
Andere sind in der Ferne, sogar in der weiten Ferne des südafrikanischen
Missionsfeldes. Aber wenn nur die Herzen eines sind im Herrn, „dann
trennt die Trennung nicht“.
Ich habe früher nicht gedacht, daß das Alter des Christen so schön sein
könnte, und mit Dank gegen den Herrn, der verheißen hat, die Seinen zu
heben, zu tragen und zu erretten und der seine Zusagen so treulich
erfüllt, möchte ich hier ein Wörtlein davon sprechen.
Das Alter macht so still.
Wie der Harfner seine flache Hand auf die zitternden Saiten legt, um
ihre heftigen Schwingungen zu stillen, so legt eine mächtigere Hand sich
auf das Menschenherz, das früher oft so heiße Wünsche hegte, das so
himmelhoch jauchzte, oft auch sich zu Tode betrübte, und läßt die Töne
ausklingen in dem Akkord: Wie Gott es will! So sang einst David,
vielleicht auch im Alter: Meine Seele ist gestillet wie einer, der von
seiner Mutter entwöhnt ist“ (Psalm 131, 2). So sagte der sterbende
Melanchthon, als sein Arzt und Schwiegersohn Peucer ihn fragte, ob er
noch etwas wünsche: „Nichts als den Himmel!“
Das Alter macht so klein.
Man schaut zurück auf so viele Mängel, Versäumnisse und Sünden. Es fehlt
auch nicht an Leiden und Prüfungen, Enttäuschungen und Schwierigkeiten
aller Art. Heiße Gebete sind noch unerfüllt geblieben, schöne Hoffnungen
sind vereitelt worden. Es ist wohl nötig, durch solche Demütigungen
immer geringer und ärmer, immer völliger ausgezogen zu werden von allem,
was noch irgend zum Gefallen an sich selber reizen könnte. So sang die
edle Dichterin Meta Heußer:
Nicht Triumphe, wie ich einst sie träumte,\
Ruhe nur verlangt mein müdes Herz,\
Friede nur nach so viel Todeswunden,\
Deinen Trost für meine letzten Stunden\
Und ein offnes Pförtchen himmelwärts.
Es bleibt nichts übrig, an dem man sich wahrhaftig freuen könnte, als —
die Gnade. Aber Christus spricht: Selig sind die geistlich Armen; denn
ihrer ist das Himmelreich.
Darum macht das Alter auch so dankbar.
Dankbar für die vielen unverdienten Wohltaten und Freundlichkeiten
Gottes in der Vergangenheit, dankbar für die im Alter doppelt geschätzte
Fähigkeit, immer noch zu lernen und zu wachsen. Die Erfahrungen auf
diesem Gebiet sind mir ein kräftiger Beweis für die Unsterblichkeit und
das Entfaltungsvermögen der Seele. Was wird die Ewigkeit noch für
Horizonte eröffnen!
Aber dankbar vor allem ist das Herz und wird es immer mehr und mehr für
die Erlösung durch Jesum Christum. Je näher wir der großen Ewigkeit
kommen, desto mehr empfinden wir das Bedürfnis und das unaussprechliche
Glück, in Jesu eingehüllt zu sein, damit, wenn die ernste Stunde des
Entkleidetwerdens kommt, wir überkleidet und nicht bloß erfunden werden
(2. Kor. 5, 2—4). Je mehr das Irdische zurücktritt, desto mehr freut man
sich, einen sicheren Bergungsort zu haben, der fest besteht, wenn Erde
und Himmel untergehen, und einen herrlichen Heiland sein eigen zu
nennen, von dem uns weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch
Zukünftiges jemals scheiden kann.
Denn das Alter ist so ernst.
Schnell rieseln die letzten Körnlein hinunter in der Sanduhr der Zeit.
Nur wenige Tage sind uns noch gegeben, um Fleiß zu tun, unseren Beruf
und unsere Erwählung fest zu machen, damit wir nicht straucheln, und uns
reichlich dargereicht werde der Eingang zu dem ewigen Reiche unseres
Herrn und Heilandes Jesu Christi (2. Petr. 1, 10). Nur wenige
Gelegenheiten noch haben wir, um Liebe zu üben und zu zeugen von der
rettenden Gnade unseres Herrn. Nur wenig Zeit ist vorhanden, um alle
Dinge zu ordnen, solange wir noch mit den Gefährten auf dem Wege sind,
damit wir auch bezeugen können, wie der selige Gerhard Tersteegen es in
seinem letzten Willen ausdrückte: “Ich finde gegen keinen einigen
Menschen etwas anderes in meinem Gemüte als nur unbedingte Versöhnung,
aufrichtige Beugung und herzliche Liebe.“ — Nur wenige Stunden haben wir
noch, um tiefer einzudringen in Gott und uns durchdringen zu lassen von
ihm. Dann ist der Lauf vollbracht.
Das Alter ist aber auch so hoffnungsfroh.
Noch einige Schritte auf den staubigen Erdenstraßen, dann ist das Ziel
erreicht. Mut, Mut! Jerusalem ist nicht mehr fern. Bald ist alle
Einsamkeit und alles Weh auf ewig vorüber. Bald sind wir wieder vereint
mit den Geliebten, die unseren Augen auf kurze Zeit entschwunden sind.
Bald werden wir schauen, was wir jetzt glauben, und erkennen, wie wir
erkannt sind. Bald können wir aus voller Brust die Zionslieder singen,
die hier schon unseres Herzens Wonne sind. Bald, und das ist der
Inbegriff der Seligkeit, dürfen wir ihn sehen von Angesicht zu
Angesicht, den wir jetzt schon lieben, wiewohl wir ihn nicht sehen, ihn,
der uns erkauft und gewaschen hat in seinem Blut.
Wie wird mir sein, wenn ich dich, Jesu, sehe\
In deiner göttlich hohen Majestät ;\
Wenn ich verklärt vor deinem Throne stehe,\
Die Ewigkeit mich Staunenden umweht!\
Wie wird mir sein! O Herr, ich fass’ es nicht,\
Nur Tränen rinnen mir vom Angesicht.
Auch der alternde Christ darf noch erwartungsvoll ausschauen auf die
selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und
unseres Heilandes Jesu Christi. Aber er weiß, daß die in Jesu
Entschlafenen nicht zu kurz kommen werden an jenem großen Ostermorgen.
Ob wachend oder schlafend, sie sind sein.
Komm bald, Herr Jesu! Das ist der sehnende Ruf der Gemeinde zu allen
Zeiten. Und das Wort des Meisters gilt auch allen: Seid bereit! Selig
sind die Knechte, die der Herr, so er kommt, wachend findet.
Ob in den Wolken ich dich kommen sehe\
In deiner großen Kraft und Herrlichkeit,\
Ob durch des Todes Tor ich zu dir gehe:\
Eins ist es, was ich täglich mir erflehe:\
Herr, laß mich sein bereit!
Geborgen in der Freistadt deiner Wunden,\
Von aller Sünde Schuld und Macht befreit,\
Da laß mich bleiben alle Tag und Stunden,\
Daß, wenn du kommst, ich werd’ in dir erfunden,\
Gereinigt und bereit.
O laß mein Lämplein immer Helle brennen,\
Gieß frisches Öl hinein zu jeder Zeit!\
Laß nichts von dir, dem Bräutigam, mich trennen,\
Daß du mich als dein eigen mögst erkennen,\
Durch deine Gnad’ bereit.
Ob abends, ob in dunkler Nächte Mitte,\
Ob morgens, wenn der Hahn den Weckruf schreit,\
Ob lichten Tags ich höre deine Tritte:\
Eins ist es, was ich täglich mir erbitte:\
Herr, last mich sein bereit!
Er aber, der Gott, vor dem meine Väter gewandelt haben, der Gott, der
mein Hirte gewesen ist mein Leben lang, der Engel des Bundes, der mich
erlöset hat von allem Übel (1.Mose 48, 15. 16), der segne uns und führe
uns an seiner Hand, bis unsere Füße stehen in deinen Toren, o Jerusalem!